Reisebericht des Bundestagsabgeordneten Jan van Aken, 22.01.2014
Anfang Januar 2014 konnte ich mit einer kleinen Delegation den überwiegend kurdisch bewohnten Nordosten Syriens besuchen. Dort hat sich inmitten des blutigen Bürgerkrieges eine demokratisch organisierte Selbstverwaltung gebildet, die von außen massiv bedroht wird: militärisch durch das Assad-Regime wie durch Dschihadisten, und ökonomisch durch ein striktes Embargo der Nachbarländer.
Es ist absurd, gerade für jemanden der Krieg und Waffen so sehr ablehnt wie ich. Aber von all den starken Eindrücken unserer Syrien-Reise drängt sich mir ein Bild immer wieder auf: Ein rosa Haarband. Eine junge Frau, inmitten Dutzend anderer kurdischer Männer und Frauen, stillgestanden, Kalaschnikow in der Hand, auf kurzem Fronturlaub, nur notdürftig militärisch ausgestattet, in privaten Turnschuhen, mit Jeans und eben diesem rosa Haarband.
Es zeigt, wie nahe sich Alltag und Krieg in diesem Land längst gekommen sind. Wozu der Krieg Menschen zwingt, die eigentlich etwas ganz anderes vorhaben mögen, nur um zumindest eine gewisse Sicherheit für sich und ihre Familien herzustellen. Die kurdischen Milizen sichern die überwiegend kurdisch bewohnten Gebiete im Norden Syriens, schaffen innerhalb eines Verteidigungsringes Inseln relativer Normalität für vier Millionen Menschen. Eine Frau erzählt, dass sie vor dem Krieg Hausfrau war, Mutter zweier Kinder. Jetzt verteidigt sie ihr Dorf mit der Waffe in der Hand gegen die Angriffe der Dschihadisten und der Assad-Truppen. Wer auch immer dabei an Revolutionsromantik und Spanischen Bürgerkrieg denken mag, der irrt. Das hier ist vor allem: ein Überlebenskampf.
Aber von vorn: Mitte 2012 vertreiben kurdische Milizen das Assad-Regime weitgehend aus den drei überwiegend kurdisch bewohnten Gebieten im Norden Syriens. Auf kurdisch heißt dieses Gebiet Rojava, Westkurdistan. Seitdem hat sich dort ein Selbstverwaltungssystem entwickelt, das in der Region seinesgleichen sucht und fast schon modellhaft für eine neues, freies, föderales Syrien sein könnte. Basisdemokratisch gewählte Komitees in den Dörfern und Städten sichern die Versorgung und die Verwaltung, über allem steht ein Hoher Kurdischer Rat mit VertreterInnen der meisten Parteien. Für Mai/Juni diesen Jahres sind Wahlen geplant. Eine 40% Frauenquote im neu zu wählenden Regionalparlament ist beschlossen. Auch für alle ethnischen Gruppen in der Region sind Mindestquoten vorgesehen, 10% für KurdInnen, AraberInnen und AssyrerInnen, 5% für die kleineren Gruppen. Schon heute sind die verschiedenen Bevölkerungsgruppen an den Selbstverwaltungs-Komitees beteiligt. Ein Sprecher der christlichen Assyrer in Qamishli gibt dafür einen simplen Grund an: Die Kurden seien säkular, und sie hätten die Christen bei der Verteidigung ihrer Dörfer gegen die Dschihadisten unterstützt.
Als wir im Januar versuchten, in die Region zu reisen, haben wir gleich zu Beginn eines der drängendsten Probleme der Region hautnah miterlebt: Ein striktes Embargo der Nachbarländer, die ihre Grenzen fast komplett geschlossen halten und selbst Hilfsgüter nur in wenigen Ausnahmefällen in den Norden Syriens lassen.
Embargo
In einem Anflug grober Naivität hatten wir zunächst gehofft, dass die Kurden im Nord-Irak uns über die gemeinsame Grenze mit dem kurdischen Gebiet in Nord-Syrien ausreisen lassen würden. Daraus wurde nichts, denn die autonome kurdisch-irakische Regionalregierung unter Masud Barzani verweigert der kurdisch-syrischen Bevölkerung jegliche Hilfe und macht die Grenze dicht, für Hilfslieferungen sowieso, aber auch für den ganz normalen Handel und für diplomatische Besuche. Über die Gründe kann nur spekuliert werden, wahrscheinlich aber steht dahinter der Druck der Türkei, dem wichtigsten Wirtschaftspartner Barzanis. Dazu kommt, dass viele Regierungen in der Region die Entwicklung im Norden Syriens mit großem Missfallen betrachten: Basisdemokratie, Frauenemanzipation und Religionsfreiheit verstehen sie als Angriff auf ihre eigene Machtstruktur. Solche revolutionären Ideen könnten ja auch auf die eigene Bevölkerung abfärben…
Auch die türkische Regierung hält die Grenzen fest verschlossen. Sie versucht dieses Experiment in kurdischer Selbstverwaltung durch ein striktes Embargo in die Knie zu zwingen – wohl auch, weil eine treibende Kraft im Norden Syriens die „Partei der Demokratischen Union“ (PYD) ist, eine Partei, die aus Sicht der Türkei zu viel Nähe zur PKK hat.
Versorgungslage
Angesichts des Embargos haben die Menschen in Nord-Syrien noch Glück im Unglück: Hier liegt die Kornkammer Syriens, auch im letzten Jahr gab es trotz des Krieges eine ausreichende Ernte. Und 60% der syrischen Ölreserven liegen in der Region. Wegen des Embargos kann kein Öl exportiert werden, aber in selbstgebauten Raffinerien lässt sich wenigstens Heizöl und Benzin für den Eigenbedarf gewinnen. Allerdings in schlechter Qualität, viele Autos können damit nicht fahren und sind auf Schmuggelbenzin angewiesen, aber es reicht. Das Straßenbild in der Hauptstadt Qamishli erscheint fast normal, viele Läden haben geöffnet (viele allerdings auch nicht), die Kinder gehen zur Schule. Eine Nacht schlafen wir bei einer wohlhabenden Bauernfamilie, sie gibt uns einen kleinen Einblick in ihren Alltag: Die Selbstverwaltungskomitees sorgen dafür, dass sie ausreichend Treibstoff für ihre Maschinen haben, damit die Ernte sichergestellt ist. Einige Ladenpreise haben sich gegenüber der Vorkriegszeit verzehnfacht, zum Beispiel für Tomaten. Aber Grundnahrungsmittel und Heizöl werden sehr viel billiger als früher angeboten. Und sie als Bauern haben jetzt sogar ein besseres Einkommen als früher, eben weil aufgrund des Embargos einige Preise gestiegen sind.
Problematisch könnte die Ernährungssituation allerdings bereits in diesem Jahr werden. Es gibt zwar fruchtbare Äcker, landwirtschaftliche Maschinen und genügend Bauern. Aber alles hier ist auf eine großflächige, industrielle Landwirtschaft ausgelegt – und dafür fehlt es zum Beispiel an Düngemitteln. Die Selbstverwaltung hat zwar bereits Dünger im Ausland gekauft, bislang ist es aufgrund des Embargos aber nicht möglich, ihn ins Land zu bekommen.
An einigen Dingen fehlt es sowieso. Zucker, Öl, Reis und Tee sind Mangelware. Und vor allem Medikamente. Wir besuchen eine Zweigstelle des kurdischen Roten Halbmondes, dem Gegenstück zum Roten Kreuz. Dort gibt es fast nur noch privat gespendete Medikamente, die irgendwie über die Grenze geschmuggelt und dann umsonst an die Bedürftigen in der Stadt gegen Rezept ausgegeben werden. Chronisch Kranke können kaum noch versorgt werden, die Pharmazeutin beim Roten Halbmond sagte, dass die chronisch Nierenkranken Qamishlis entweder geflüchtet oder bereits gestorben sind.
Und das, obwohl die Türkei nur einen Katzensprung entfernt liegt. Wir sehen von Qamishli aus die Neubauten der türkischen Stadt Nusaybin, hinter einem Reisfeld und einer Mauer, die der türkische Staat gebaut hat. Der Grenzübergang ist geschlossen. „Das einzige, was die türkisch-syrische Grenze noch passieren darf, sind Waffen und Kämpfer für die Dschihadisten“, sagt einer unserer Gastgeber.
Durch das Embargo kommen kaum Hilfsorganisationen in die Region. Einzig die „Ärzte ohne Grenzen“ sind vor Ort, selbst die UN kann nicht direkt helfen und musste Hilfsgüter zu absurd hohen Preisen über eine Luftbrücke nach Qamishli fliegen.
Autonomie statt Sezession
Die Vertreibung des Assad-Regime im Sommer 2012 wurde maßgeblich von der PYD organisiert, die als einzige politische Kraft dazu organisatorisch in der Lage war. Seitdem versucht sie, möglichst viele Menschen und Organisationen in das Selbstverwaltungs-System zu integrieren. Im Hohen Kurdischen Rat stellt die PYD die Hälfte der Mitglieder, die andere Hälfte kommt aus anderen Parteien, die fast das gesamte politische Spektrum Westkurdistans abdecken. In Irak-Kurdistan hörten wir immer wieder den Vorwurf der „Einparteien-Herrschaft“ in Nord-Syrien. Dieser Vorwurf kann aus zwei Gründen nicht richtig sein, denn einerseits ist der Hohe Kurdische Rat paritätisch besetzt, und zum anderen sind Wahlen für dieses Frühjahr geplant. Die Sicherheitskräfte und Milizen werden zumindest formal vom Hohen Rat kontrolliert und nicht nur von einer Partei.
In jedem Gespräch wurde uns gegenüber immer wieder betont, dass das Ziel eine autonome kurdische Region innerhalb eines demokratischen, föderalen Syriens sei. Ob das nur taktisch begründet oder aus Überzeugung geschah, mag dahin gestellt sein. Ganz praktisch allerdings agiert die Selbstverwaltung in genau diese Richtung. So hören wir, dass an den Schulen weiterhin auf arabisch unterrichtet wird, nur 10% des Unterrichtes werden jetzt zusätzlich auch auf kurdisch gegeben. Dem Assad-Regime gegenüber versucht der Hohe Rat eine Gratwanderung – einerseits wurde es vor Ort weitestgehend entwaffnet und entmachtet, andererseits wird der Flughafen von Qamishli als letzte Bastion des Assad-Regimes in der Region nicht angetastet. Man versucht, militärisch defensiv zu agieren, Angriffe von Assad oder Djihadisten zwar abzuwehren, den Konflikt jedoch nicht selber weiter zu eskalieren und offensiv einzugreifen.
Niemand spricht sich offen für eine Sezession aus. Im Gegenteil: Die zentrale politische Forderung vor Ort ist die Beteiligung einer kurdischen Delegation an den Genfer Friedensgesprächen, mit folgendem Argument: „Wir Kurden sind ein Teil Syriens und müssen deshalb auch Teil der Lösung sein.“
Ständige Angriffe
„Diejenigen, die bislang das Assad-Regime bekämpft haben, kämpfen jetzt gegen uns,“ sagte der Sprecher der kurdischen Milizen, der so genannten Volksverteidigungseinheiten (YPG) zu uns. Sie sind ständigen Angriffen sowohl durch Dschihadisten als auch durch Assad-Truppen ausgesetzt. Ganz aktuell befürchten sie eine neue Offensive vereinter islamistische Gruppierungen gegen die Region. Gruppen wie Al Nusra und ISIS mögen sich anderswo in Syrien gegenseitig blutig bekämpfen, für den Kampf gegen die YPG schließen sie sich jedoch zusammen.
Die YPG bestehen zum größten Teil aus Freiwilligen aus der Region, sie haben 35.000 aktive KämpferInnen, ein Drittel davon Frauen, sowie 10.000 ReservistInnen. Sie beschränken sich größtenteils darauf, die Außengrenzen gegen Angriffe zu verteidigen und gemeinsam mit den polizeilichen Sicherheitskräften das Eindringen von Attentätern in die Region zu verhindern. Eigene Geländegewinne sind nach ihren Aussagen nicht das Ziel, mit wenigen Ausnahmen. So wurde im Oktober der Grenzübergang Al Yaroubiah zum arabischen Teil des Irak hin erobert, weil die Islamisten von dort ihre Angriffe auf Rojava koordiniert hatten. (Über diese Grenze konnten wir dann letztlich einreisen, nach langen diplomatischen Verhandlungen mit Bagdad).
Kaum vorstellbar, aber tatsächlich kämpft Al Qaida in Syrien auch mit deutschen Waffen. Bei den Gefechten um Al Yaroubiah fielen der YPG unter anderem Reste einer deutsch-französischen Milan-Rakete in die Hände. Wir konnten die Raketenteile vor Ort untersuchen und die Seriennummern notieren. So lässt sich vielleicht herausfinden, auf welchem Wege diese Panzerabwehr-Raketen an die Dschihadisten gelangen konnten.
Deutschland muss handeln!
Die Bundesregierung sollte alles daran setzen, die Menschen im Norden Syriens zu unterstützen. Ganz dringend ist dabei die sofortige Aufhebung des Embargos, dafür sollte die Bundesregierung sowohl mit der irakisch-kurdischen Regionalregierung als auch mit Ankara in Gespräche eintreten. Während der Westen händeringend nach Dialogpartnern in Syrien sucht und mittlerweile nicht mal mehr weiß, wem er in diesem hungernden Land seine humanitären Hilfslieferungen anvertrauen soll, wischt er jede Kooperation mit der Selbstverwaltung in Nordsyrien mit dem schlichten Verweis auf die „PKK-Nähe“ weg. Hier gibt es eine demokratische Struktur jenseits von Assad und Al Qaida, die auch in der Lage ist, eine Verteilung der Hilfsgüter zu organisieren. Hier sollte die Bundesregierung ansetzen, anstatt weiterhin jegliche Unterstützung für die vier Millionen Menschen in der Region zu blockieren.
Auch die Wahlen sollten unbedingt unterstützt werden. Nur, wenn diese nach internationalen Standards durchgeführt und kontrolliert werden, erhält die damit gewählte provisorische Regionalregierung die notwendige Anerkennung und Autorität.
Die Menschen im Norden Syriens haben ihr Schicksal in die eigene Hand genommen – und das mitten im Krieg, unter ständigen militärischen Angriffen und trotz eines strikten Embargos. Und trotzdem versuchen sie unbeirrt, ein multiethnisches, säkulares, demokratisches System aufzubauen. Das verdient – bei allen Unzulänglichkeiten, die es sicherlich gibt und geben wird – unsere Anerkennung und Unterstützung.
Eines ist aber auch klar: Eine Friedenslösung wird es auch für den Norden nur dann geben, wenn es eine Friedenslösung für ganz Syrien gibt. Deshalb sind die Genfer Verhandlungen zentral wichtig, nur durch eine Beteiligung aller relevanten Gruppen und Staaten wird es eine Verhandlungslösung geben können. Natürlich sollten auch die KurdInnen und Kurden an den Genfer Gesprächen beteiligt werden, denn auch sie sind ein Teil Syriens. Und Deutschland muss – endlich – mehr dafür tun, dass die ständigen Waffenlieferungen aufhören. Solange immer neue Waffen geliefert werden und immer neue Kämpfer ungehindert nach Syrien reisen können, solange wird keine einzige Region Syriens wirklichen Frieden finden können.
Quelle: http://www.jan-van-aken.de/aktuell.html?newid=386#d386