Syrien: zwischen Krieg, Embargo und Basisdemokratie

jan-van-akenPlenarrede von Jan van Aken (DIE LINKE) im Bundestag, 16.01.2014

(…) Dieses demokratische Experiment wird jetzt von zwei Seiten existenziell bedroht, auf der einen Seite durch militärische Angriffe: Die Islamisten, aber auch die Assad-Truppen greifen ständig an und versuchen, das zu zerstören. Auf der anderen Seite ist die Region durch ein striktes Embargo seitens der Türkei und des Irak fast komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Dahinter steht die Politik der Türkei, Herr Steinmeier, die versucht, jede Art von kurdischer Selbstverwaltung in der Region schon im Keim zu ersticken. Deshalb versucht die Türkei, die eine Region in Syrien, die sich gegen den Krieg stellt, die sich demokratisch organisiert, durch eine strikte Blockade in die Knie zu zwingen.(…)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Ich war dieses Wochenende in Syrien. Die Lage vor Ort ist wirklich katastrophal.

Wir haben die Flüchtlingsströme gesehen. Teilweise versuchen Menschen, nur mit einer Plastiktüte in der Hand das Land zu verlassen und diesen Krieg irgendwie hinter sich zu lassen. Wir haben mit Menschen gesprochen, die verzweifelt irgendwie versuchen, ihre Heimat noch zu verteidigen.
Da war eine Frau, Mitte 20 – sie war vor dem Krieg Hausfrau und hat zu Hause zwei kleine Kinder -, die sich den kurdischen Milizen angeschlossen hat, um ihr Dorf vor den Islamisten zu verteidigen. Das sind Schicksale, die wir uns hier, glaube ich, kaum vorstellen können.

Aber – darüber will ich jetzt reden -: Wir haben auch einen Hoffnungsschimmer gesehen. Im Norden Syriens – das ist der Teil, den ich besucht habe; das ist eine Region mit etwa 4 Millionen Menschen, die zum größten Teil von Kurdinnen und Kurden bewohnt ist – haben die Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand genommen. Dort haben sie eine Selbstverwaltung aufgebaut. Vor anderthalb Jahren haben sie das Assad-Regime vertrieben. Sie haben in den Dörfern basisdemokratisch Komitees gewählt, die jetzt die Selbstversorgung sicherstellen. Das Wichtigste dabei ist: Daran sind alle Volksgruppen, alle Religionsgruppen und fast alle Parteien in der Region beteiligt. Für dieses Frühjahr plant man dort sogar Wahlen – mitten im Krieg. Das finde ich sehr bemerkenswert.

Wir haben mit dem Sprecher der Assyrer – das sind die Christen in der Region – gesprochen. Sie sprechen bis heute Aramäisch – diese Sprache habe ich vorher noch nie gehört -; das ist die Sprache von Jesus. Auch die Christen beteiligen sich an dieser Selbstverwaltung und an der Vorbereitung der Wahlen. Man muss feststellen, dass die Christen dort nicht alles teilen, was die Kurden für die Wahlen planen. Dass für das neue Regionalparlament eine Frauenquote von 40 Prozent gelten soll, sehen die Christen dort kritisch; das geht denen in Syrien nicht anders als den christlichen Parteien hier im Bundestag.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber ansonsten beteiligen sich die Christen an der Selbstverwaltung.

Dieses demokratische Experiment wird jetzt von zwei Seiten existenziell bedroht, auf der einen Seite durch militärische Angriffe: Die Islamisten, aber auch die Assad-Truppen greifen ständig an und versuchen, das zu zerstören. Auf der anderen Seite ist die Region durch ein striktes Embargo seitens der Türkei und des Irak fast komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Dahinter steht die Politik der Türkei, Herr Steinmeier, die versucht, jede Art von kurdischer Selbstverwaltung in der Region schon im Keim zu ersticken. Deshalb versucht die Türkei, die eine Region in Syrien, die sich gegen den Krieg stellt, die sich demokratisch organisiert, durch eine strikte Blockade in die Knie zu zwingen.

Wir waren zum Beispiel in Qamishlu, einer großen Stadt im Norden. Dort gibt es kaum noch Medikamente. Ein paar Pappkartons standen dort herum mit einzelnen Packungen von Medikamenten, die privat gespendet worden sind. Chronisch Nierenkranke können nicht mehr versorgt werden, einige von ihnen sind bereits gestorben. – Und das, obwohl nur einen Katzensprung entfernt, vielleicht ein paar hundert Meter, ein Grenzübergang zur Türkei besteht. Doch die Türkei hat diese Grenze dichtgemacht: Da kommt keine einzige Tablette durch, da kommt kein Sack Reis durch, und da kommt kein Kanister Öl durch. Das einzige, was über die Grenze geht, sind Waffen für Dschihadisten. Herr Steinmeier – das muss ich wirklich sagen -, Ihr Bündnispartner Türkei ist gerade dabei, den einen Hoffnungsschimmer, den wir in Syrien sehen, die eine Keimzelle für ein demokratisches Syrien, kaputtzumachen.

Deshalb finde ich es auch falsch, dass die Bundeswehr dort mit Patriot-Raketen stationiert ist; denn das ist doch eine politische Unterstützung für die Türkei. Ich finde es bemerkenswert, Herr Außenminister, dass Sie in der Debatte über eine Bundeswehrstationierung von zehn Minuten Redezeit gerade einmal dreißig Sekunden der Stationierung gewidmet haben – weil Sie genau wissen: Es gibt kein objektives Argument dafür, es geht einzig und allein um politische Unterstützung.

Wir alle hier im Raum wissen, dass die Türkei im Syrienkonflikt momentan eher ein Teil des Problems ist. Sie wissen doch auch, Herr Steinmeier, dass über die Türkei Al-Qaida-Kämpfer in das Kampfgebiet einsickern. Sie wissen doch auch, dass über die Türkei Waffen an die Dschihadisten nach Syrien geschmuggelt werden. Ein Abzug der Bundeswehr aus der Türkei wäre ein politisches Signal an Ankara, diese falsche Politik zu stoppen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte Sie bitten, wirklich alles dafür zu tun, dass die Türkei die Blockade gegen den Norden Syriens aufhebt, dass die Grenzen geöffnet werden für humanitäre Hilfe, aber auch für normalen Handel. Die Menschen dort betreiben Landwirtschaft, in der Region gibt es Öl. Durch Handel könnte dieses demokratische Experiment unterstützt werden. Das ist doch genau das, was wir alle hier wollen: ein demokratisches, ein freies, ein multiethnisches, multireligiöses Syrien, in dem die verschiedenen Volksgruppen friedlich miteinander und nebeneinander leben. Das wird im Norden Syriens gerade versucht, und das müssen wir doch unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein letztes Wort. Es gibt eine Sache, die ich wirklich nicht verstehe: Warum eigentlich sollen die Kurden auf der Friedenskonferenz in Genf nicht vertreten sein dürfen? Wenn Sie Frieden für ganz Syrien wollen, dann muss auch ganz Syrien mit verhandeln. Die Kurden sind ein Teil Syriens: 10 bis 15 Prozent der Menschen in Syrien sind Kurden. Der Hohe Kurdische Rat im Norden verlangt nicht mehr und nicht weniger, als auch eine Delegation entsenden zu dürfen. Ich finde das sehr gut. Denn wenn nur ein Teil der Syrer eingeladen wird, wird man auch nur eine Teillösung für den Frieden bekommen. Deswegen sollten die Kurden mit vertreten sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte. Gerade an Syrien kann man doch sehen – und ich sage Ihnen: ich habe es persönlich gesehen -, dass deutsche Waffen mitten in einem furchtbaren Bürgerkrieg in die Hände von echten Menschenfeinden gelangen. Damit sollten wir endlich aufhören.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Videolink zu Rede: Bundestagsdebatte  zu den Patriot-Raketen am 16. Januar

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