Öcalans geistige Revolution gegen das Panoptikum

Esra Serhed, Mitarbeiterin von Civaka Azad, 01.11.2017

»Durch die Unsichtbarkeit des Beobachters kann der Gefangene nicht wissen, wann und ob er gerade tatsächlich von einem Aufseher überwacht wird. Er fühlt sich unter dauerhafter Beobachtung und wird schließlich zu seinem eigenen Überwacher. Verkehrt wäre es, hier nur das Überwachungssystem geschlossener Institutionen zu sehen. Die Disziplinierungsmacht des „Panoptikums“ entfaltet sich über die gesamte Gesellschaft. Wir leben in einer Gesellschaft, in welcher der „Panoptismus“ herrscht. Das Panoptikum ist somit nicht nur ein architektonisches Gebilde, sondern eine Form der Machtausübung.«

Panoptikum- „der Allsehende“

In seinem Werk „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ (1975) analysiert Foucault das Gefängnis als eine Institution in einem Netz von Machtkomplexen, das im 19. Jahrhundert zum Zentrum eines Überwachungs- und Prüfungssystems wurde. Durch eine genealogische Rekonstruktion der Strafpraxis gelingt es Foucault die „Geburt des Gefängnisses“ zu erklären. Er zeigt auf, dass sich im Zuge der Etablierung des Gefängnisses eine Veränderung der Wirkungsweise von Macht vollzogen hat. Während der Körper des Häftlings im alten Strafsystem zur Zielscheibe der königlichen Macht und Satisfaktion wurde, findet die moderne Bestrafung hingegen verborgen hinter hohen Gefängnismauern statt. Im Absolutismus wurde die Hinrichtung des Delinquenten regelrecht als Schauspiel aufgeführt und der Souverän konnte seine Macht in ihrer ganzen Glorie inszenieren, dessen eigentlicher Adressat das Volk war, dem in Sachen Loyalität eine Lehre erteilt werden sollte. Das moderne Machtsystem hat sich im Gegensatz dazu in die Anonymität geflüchtet und rückt das Individuum in den Mittelpunkt und kontrolliert es von einem geheimen Punkt aus. Wichtiger als die bloße physische Bestrafung war nun im 19. Jahrhundert der Gedanke geworden, den Delinquenten wirksam umzuerziehen. Die Gründe dafür sieht Foucault in der Neukonzeption der Gefängnisse und des gesamten Strafsystems, die darauf angelegt sind, den Körper des Menschen zu überwachen. Es wurde eine subtile Form der Macht installiert. Foucault spricht von einer „Mikrophysik der Macht“.(1) Mittels Überwachung werden die kleinsten Einzelheiten des Menschen diszipliniert: Bewegungen, Gesten, Haltungen, Sitzweisen, Schnelligkeit, um den menschlichen Körper fügsam und gelehrig zu machen. Indem das Individuum in ein architektonisches Überwachungssystem gebracht wird, wird ein ständig sich selbst kontrolliertes Subjekt produziert. Den Mechanismus dieser Internalisierung der Überwachung erklärt Foucault am Beispiel des von Jeremy Bentham entworfenen Gefängnismodells – das Panoptikum. Das Panoptikum ist ein ringförmiges Gebäude, in der Mitte ist ein Turm mit Fenstern. Dieser Überwachungsturm ermöglicht Einblick in jede Zelle, die um ihn herum im Ring angelegt sind. Während dem Gefangenen die Sicht aus der Zelle in den Turm verwehrt bleibt, befindet er sich hingegen in einer permanenten, lückenlosen Überwachungssituation. Durch die Unsichtbarkeit des Beobachters kann der Gefangene nicht wissen, wann und ob er gerade tatsächlich von einem Aufseher überwacht wird. Er fühlt sich unter dauerhafter Beobachtung und wird schließlich zu seinem eigenen Überwacher. Verkehrt wäre es, hier nur das Überwachungssystem geschlossener Institutionen zu sehen. Die Disziplinierungsmacht des „Panoptikums“ entfaltet sich über die gesamte Gesellschaft. Wir leben in einer Gesellschaft, in welcher der „Panoptismus“ herrscht. Das Panoptikum ist somit nicht nur ein architektonisches Gebilde, sondern eine Form der Machtausübung.(2)

Die Isolation als Methode des stillen Todes

Die Isolationshaft ist die schwerwiegendste Form des panoptischen Systems. Das Strafsystem des 21. Jahrhunderts hat die Gemeinschaftszellen weitestgehend abgeschafft und durch Isolationszellen ersetzt. Die Hauptstrafe ist von nun an die Zellenhaft, da die Isolierung die beste Methode ist, um auf die Psyche der Inhaftierten einzuwirken. Menschenrechtsorganisationen klassifizieren die Isolationshaft als eine Foltermethode. Eine Foltermethode, die am Körper keine sichtbaren Spuren und Wunden hinterlässt, aber den inhaftierten Menschen von der Außenwelt und sozialen Kontakten abschottet und ihn rund um die Uhr überwacht. Die Isolationshaft ist darauf angelegt, den Willen und die Überzeugung eines Menschen zu brechen. Sie wird vor allem bei politischen Oppositionellen angewandt. Die Aufrechterhaltung staatlicher Hegemonialmacht kann nämlich nur gewährleistet werden, wenn kritische Stimmen unterdrückt werden. Der in Spanien 16-Jahre in Einzelhaft gesessene baskische Politiker Tomax Carrera Juarros beschreibt die Isolationshaft folgendermaßen:

„Ich habe erlebt, wie Menschen nach nur 15 Tagen Isolationshaft das Sprechen vergessen haben oder vielmehr nicht mehr sprachen. Abgekapselt von der Welt und vom Leben, ist der Mensch sich dennoch seiner Existenz bewusst. Ebenso ist sich der Mensch auch bewusst, dass er noch immer eine Stimme besitzt und so stark der Wille auch ist, dieser Stimme einen Klang zu verleihen, schafft der Mensch es nicht einmal einen einfachen Ton hervorzubringen.“(3)

Die Isolationshaft kommt dem stillen, emotionalen Tod gleich. Ohne die Anwendung physischer Folter wird durch das Verfahren der Isolationshaft das Bewusstsein und die Persönlichkeit des Gefangenen geradezu ausradiert. Sie zerstört das Nervensystem und lässt jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren gehen. So schwebt ein Leben in einer zeitlosen und raumlosen Leere. Das Ziel dabei ist es, einen Menschentypus zu erschaffen, dem alles Menschliche genommen wird. So wendet sich die Isolationshaft immer mehr gegen die Seele, um sich des Körpers des Inhaftierten zu bemächtigen. Sie zielt mittels einer lückenlosen Überwachung über die Seele auf den Körper, auf seine Kraft und Nützlichkeit ab. Kurz, die „Seele [ist] das Gefängnis des Körpers“.(4)

Wo Macht ist, ist auch Widerstand!

In der Türkei lässt sich die extremste und berüchtigtste Form der Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali beobachten. Abdullah Öcalan wird seit 1999 unter menschenunwürdigen und rechtswidrigen Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali in einer Isolationszelle gefangen gehalten und von mehr als 1000 Soldaten bewacht.(5) Mit der Beendigung der Friedensgespräche zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat setzt die AKP seit April 2015 auf die Totalisolation Öcalans. Ihm wird erneut nicht erlaubt, seine Rechtsanwälte und Familienangehörigen zu sprechen. Seit nunmehr 18 Jahren dauert diese Rechtlosigkeit weiter an. Ein solch antidemokratisches, unmoralisches Überwachungsregime wurde einzig für Öcalan eingerichtet. Eine Gefängnisinsel mitten im Meer, entleert und architektonisch so ausgeklügelt angelegt, dass einem einzigen Gefangenen seit 18 Jahren jeglicher Kontakt zur Außenwelt verwehrt bleibt. Unter Kontrolle der Regierung und der Armee, weit entfernt von wirklicher Rechtsstaatlichkeit, ist das Imrali-Gefängnis eher ein Machtfeld als nur ein Gefängnis.

Der Fall von Abdullah Öcalan darf nicht losgelöst von der kurdischen Frage gesehen werden. Letztendlich ist Öcalan ein politischer Oppositioneller, der eine breite Öffentlichkeit anspricht. Insbesondere bei oppositionellen Persönlichkeiten, die im Fokus gesellschaftlicher Öffentlichkeit stehen, wird die Isolationshaft weniger als eine Strafe, sondern vielmehr als eine Rachemethode angewandt. So zielt die Totalisolation Öcalans auf die Zerstörung seiner politischen Identität. Die Absicht dahinter ist, die Persönlichkeit Öcalans in der Öffentlichkeit zu diskreditieren und gleichzeitig seine Ideen im Gefängnis zu untergraben, damit sie nicht das kurdische Volk erreichen. Über die Person Öcalan sollten alle Kanäle für eine Lösung der kurdischen Fragen versperrt, der Wille des kurdischen Volkes gebrochen, die kurdische Freiheitsbewegung liquidiert und das Problem nach etatistischer Mentalität gelöst werden.  „In der Person unseres Vorsitzenden wurde das kurdische Volk und unsere Bewegung in Geiselhaft genommen“(6), heißt es in der Erklärung der KCK anlässlich des Jahrestages der Entführung und Festnahme Abdullah Öcalans.

Doch wo Macht ist, ist auch Widerstand! Auch Kerker sind Kampfgebiete. Ein revolutionärer Geist setzt auch unter den schlimmsten Bedingungen seinen Kampf fort. Dabei greift er auf seine individuelle Organisiertheit zurück und kann somit seine Überzeugungen vor dem Feind schützen. Abdullah Öcalan hat seine individuelle Befreiung nicht unabhängig von der Freiheit der kurdischen Gesellschaft gesehen. Trotz Isolation war für ihn die Verbindung zur Gesellschaft nie abgerissen. Er hat seit dem ersten Tag seiner Festnahme alleine Widerstand gegen die Gefängnisbedingungen geleistet. Er hat sich nicht dem Druck und der Erpressung seitens des türkischen Staates gebeugt und hat es sogar geschafft, die Regierung und den Staat in einen Lösungsprozess zu ziehen.

„Für Menschen, die sich großen Fragen stellen, ist ein geschlossenes Gefängnis ein großer Lehrer. Wer sich von diesen Fragen und diesen Bedingungen nicht zerstören lässt, kann im Gefängnis sein Verständnis der Wahrheit stärken und erfolgreich kämpfen. Wer für eine große Sache kämpft und sich jeden Tag um ein Stückchen mehr Wahrheit bemüht, kann sie hier erlangen. Wenn die verstreichenden Momente dem Erringen der Wahrheit dienen, so ist selbst das Leben im Kerker wert, ertragen zu werden“.(7)

Öcalan verwandelte die Isolationszelle in eine Akademie. Seine Thesen zum freien Leben und zur demokratischer Autonomie gelangten hier zur Reife. Seine Ideen durchdringen heute die Mauern des Imrali Gefängnisses und finden überall dort, wo KurdInnen leben, einen Weg in die Praxis. Sie bilden die Grundlage für eine freie, demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft. Auf das panoptische System hat Öcalan mit einer „geistigen Revolution“ geantwortet. Der Kerker wurde zur Arena seines Kampfes um die gesellschaftliche Wahrheit.


1) Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S.40

2) Foucault,S.256-274

3) Yeni Özgür Politika (2012): Amaç kişiliği parçalamak. http://yeniozgurpolitika.org/index.php?rupel=nuce&id=15824

4) Foucault,S.42

5) Free Öcalan! (2016): Am 17. Jahrestag seiner Verschleppung fordern wir: Freiheit für Abdullah Öcalan. http://www.freeocalan.org/wp-content/uploads/2016/02/DEUTSCH-2016-Februar.pdf

6) Erklärung der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) anlässlich des Jahrestages der Entführung und Festnahme Abdullah Öcalans, ANF, 13.02.2017

7) Abdullah Öcalan (2012): „Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü-Kültürel Soykirim Kiskacinda Kürtleri Savunmak“ (Die kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation – Unter der Bedrohung durch den Genozid die Kurden verteidigen)