Online-VA: Die Istanbul-Konvention betrifft uns alle

Die Online-Veranstaltung am 10. Juni beginnt um 19 Uhr und wird von der Cenî-Mitarbeiterin Hêlîn Dirik moderiert. Anmeldung zur Teilnahme an der zoom-Veranstaltung unter ceni_frauen@gmx.de

Die Diskussion wird auch im Live-Stream übertragen: https://youtu.be/ZLv13NGkl80

Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, den Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan am 20. März in einer Nacht- und Nebelaktion per Dekret beschlossen hatte, hat weitreichende Auswirkungen auf die Umsetzung des Frauenschutzabkommens in anderen Ländern. So forcierten konservative bis ultra-nationalistische Kräfte kurz danach auch in Polen und Ungarn Diskussionen über einen möglichen Rückzug aus dem Abkommen.

In Deutschland brachte die Diskussion über einen Austritt der Türkei die riesengroßen Lücken in der Umsetzung der Forderungen der Istanbul-Konvention zum Vorschein. Insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie war die Entscheidung der türkischen Regierung eine klare Kriegserklärung an Frauen, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind sowie Aktivist:innen, die für ein Ende dieser Gewalt kämpfen. Doch auch die starken Proteste der Aktivist:innen in der Türkei haben ihre Kraft und Energie weit über die Grenzen des Landes verströmt. Klar ist, dass die weitreichenden Forderungen der Konvention nur durch einen starken, entschlossenen und verbundenen Kampf der Frauenbewegungen, Organisationen und LGBTIQ*-Menschen umgesetzt werden können.

Mit einer vom Kurdischen Frauenbüro für Frieden CENÎ e.V. organisierten Online-Veranstaltung am 10. Juni soll nun zweieinhalb Monate nach der Rückzugsentscheidung der Türkei Bilanz gezogen und ein Blick auf den aktuellen Stand der Kämpfe für den Erhalt und die Umsetzung der Istanbul-Konvention geworfen werden. Es soll ein Austausch darüber stattfinden, wie das Abkommen in der öffentlichen Wahrnehmung in der Türkei, Polen und Deutschland diskutiert wird und wie die Situation der von Gewalt betroffenen Frauen aktuell aussieht. Außerdem geht es um einen Austausch über die Entwicklungen und Synergien der Kämpfe für die Istanbul-Konvention und eine Vernetzung. Im Anschluss an die Veranstaltung gibt es auch Zeit für Fragen und Diskussionsbeiträge der Zuhörer:innen.

Es diskutieren:

• Gülistan Kılıç Koçyiğit, HDP-Abgeordnete von Mûş

• Britta Schlichting, Zentrale Informationsstelle autonomer Frauenhäuser

• Anna Krenz, Dziewuchy Berlin

Istanbul-Konvention

Die Istanbuler Konvention wurde 2011 vom Europarat als völkerrechtlicher Vertrag ausgefertigt und soll einen europaweiten Rechtsrahmen schaffen, um insbesondere Frauen vor jeglicher Form geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen, solche Gewalt zu verhindern und, falls sie trotzdem vorkommt, die Täter und Täterinnen zur Rechenschaft zu ziehen. Das Anwendungsfeld ist dabei sehr breit gefasst: es reicht von allen Formen von Gewalt in Ehe und Partnerschaft (physische, psychische, sexuelle Gewalt, Stalking, etc.), über andere Formen der Gewalt im sozialen Nahraum wie Zwangsverheiratung oder Genitalverstümmelung, bis hin zu Gewalt im öffentlichen Raum, von der vor allem Frauen betroffen sind. Das Abkommen bezieht sich zwar in erster Linie auf Gewalt an Frauen, fordert die Mitgliedstaaten aber auch zu Maßnahmen gegen Gewalt an Männern und Kindern auf.

Die von der Konvention vorgesehenen Maßnahmen betreffen sowohl den Bereich der Prävention wie auch die Betreuung und Unterstützung von Opfern, den Rechtsschutz oder die Verfahren. Ein besonderes Kapitel ist der geschlechtsspezifischen Gewalt im Zusammenhang mit Migration und Asyl gewidmet. Die Konvention verfügt zudem über einen spezifischen Monitoring-Mechanismus (GREVIO), um eine effektive Umsetzung ihrer Bestimmungen seitens den Parteien zu gewährleisten. Die Vereinbarung gilt als Meilenstein im Kampf gegen patriarchale Gewalt und wurde bisher von 45 Staaten und der Europäischen Union (EU) unterzeichnet. 34 Länder haben den Vertrag ratifiziert.

Die Türkei unterzeichnete als erstes Land die Konvention und ratifizierte den Vertrag 2012 im Parlament, doch in der Praxis wurden die Rechtsnormen nicht angewandt. Weder wurden die vorgesehenen Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen realisiert, noch wurde beispielsweise das Gesetz Nr. 6284, das nach Angaben der AKP-Regierung als „Schutzmantel für Frauen“ wirken soll, effizient durchgesetzt. Für den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention hat das AKP/MHP-Regime den 1. Juli 2021 angesetzt, aber laut türkischer Verfassung hat der Präsident nicht die Befugnis, internationale Verträge ohne Zustimmung des Parlaments per Dekret aufzukündigen. Internationale Abkommen stehen in der Türkei im Verfassungsrang. Seit dem angekündigten Austritt der türkischen Regierung mobilisieren Frauenrechtsgruppen landesweit täglich zu Protesten und fordern die Rücknahme der Entscheidung. Zahlreiche Frauenorganisationen, Rechtsanwaltskammern und Einzelpersonen haben zudem Nichtigkeitsverfahren beim Staatsrat eingereicht, weil sie den Schritt des türkischen Präsidenten als „ungültig” bezeichnen.

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