Riesige Flüchtlingsströme aus Rojava erreichen Südkurdistan

semalkaPressemitteilung von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 21.08.2013

Allein seit dem 15. August sind 30.000 Menschen nach Südkurdistan geflohen – Scharfe Kritik aus Rojava gegenüber der südkurdischen Regierung

Infolge der anhaltenden Angriffe islamistischer Gruppen und des Baath-Regimes auf die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien (Rojava), haben sich binnen kürzester Zeit riesige Flüchtlingsströme in Richtung Südkurdistan (Nordirak) gebildet. So sind nach Angaben der UN nach Öffnung des Grenzübergangs in Semalka rund 30.000 Menschen nach Südkurdistan geflüchtet. Eine vor Ort tätige Mitarbeiterin der US-amerikanischen Flüchtlingsorganisation „International Rescue Committee“ (IRC) sprach davon, dass sie Flüchtlingsströme von solchem Ausmaß noch nie miterlebt hätte.

Kritik an der Haltung der südkurdischen Regierung äußerte die in Rojava aktive Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM). So habe die Regierung Südkurdistans zwar den Grenzübergang für Flüchtlinge geöffnet. Aber der Transport von Lebensmitteln und Medikamenten nach Rojava werde von den Verantwortlichen der südkurdischen Regierung weiterhin unterbunden. Dadurch seien die Menschen in Rojava weiter einem wirtschaftlichen Embargo ausgesetzt.

Scharfe Kritik an der Haltung der südkurdischen Regierung und der Demokratischen Partei Kurdistans PDK unter der Führung von Massud Barzani äußerte auch Ilham Ahmet, Vertreterin der Frauenbewegung innerhalb des Kurdischen Hohen Rates. Gegenüber dem Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad erklärte sie telefonisch, dass die südkurdische Regierung mit der Unterbindung von Hilfslieferungen nach Rojava eine bewusste Entvölkerungspolitik gegenüber der Region betreibe. Diese Politik bewertet sie als Teil des Angriffskonzepts gegen die Errungenschaften der kurdischen Bevölkerung in Rojava. „Bisher haben sie jegliche humanitäre Hilfe aus Südkurdistan für Rojava unterbunden, während zeitgleich islamistische Gruppen ihre Angriffe gegen die Bevölkerung fortsetzten. Nachdem sie gesehen haben, dass die Angriffe am Widerstand der YPG scheitern, haben sie nun die Grenze einseitig von Rojava in Richtung Südkurdistan geöffnet, um die Fluchtbewegung der Bevölkerung zu fördern. Wir sagen nicht, dass diese Flüchtlingsbewegungen gestoppt werden müssen. Unsere Forderung ist allerdings, dass den Menschen vor Ort Unterstützung geleistet werden muss und ihnen nicht die Flucht als einzige Option gelassen werden darf. Denn durch solch eine Politik wird versucht, den Willen der Bevölkerung zu brechen. Die PDK versucht mit dieser Politik die Flüchtlingsbewegungen für ihre eigenen machtpolitischen Interessen zu missbrauchen“, erklärt Ahmet.

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Hintergründe:

Menschliche Tragödie bei Sêmalka

Tausende Flüchtlinge, die aufgrund des anhaltenden Bürgerkriegs in Syrien ihre Heimat verlassen haben, konnten nun den lange Zeit geschlossenen Grenzübergang Sêmalka in Richtung der Autonomen Region Kurdistan passieren.

Nach örtlichen Informationen sollen innerhalb der letzten vier Tage nahezu 17.000 Menschen den Grenzübergang passiert haben. Die Menschen sollen seitens des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge, in Flüchtlingslagern der Städte Dihok, Hewler und Süleymaniye untergebracht worden sein.

Vor mehreren Wochen sind die Menschen aus Städten wie Halep, Rakka, Humus und Haseki zunächst in die relativ sichereren kurdischen Gebiete in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) geflüchtet. Sie wurden im Rahmen der Möglichkeiten des Kurdischen Hohen Rates und der Bewegung der Demokratischen Gesellschaft (TEV-DEM) in Schulen untergebracht und dort versorgt. Nun haben sich in den vergangenen vier Tagen tausende arabische und kurdische Flüchtlinge auf den Weg in die Autonome Region Kurdistan im Nordirak gemacht, nachdem sie erfahren haben, dass der Grenzübergang Sêmalka geöffnet worden ist.

Zuvor war der Grenzübergang von der südkurdischen Regierung für Flüchtlinge geschlossen. Aufgrund des Drucks der kurdischen Öffentlichkeit war diese nun gezwungen den Grenzübergang zu öffnen und das UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge veranlasste zudem den Bau von Flüchtlingslagern in den Städten Dihok, Hewler und Süleymaniye.

Die Flüchtlinge am Grenzübergang in Sêmalka, erklärten, dass sie wochenlang in Rojava in Zelten, die in Schulen und Feldern aufgeschlagen wurden, leben mussten: „Der Grenzübergang sei offen, erzählten sie. Doch wir mussten jeden Tag zusehen, dass die nicht der Fall sei. Zuletzt waren sie Donnerstag nach einem Flüchtlingsanstrom von tausenden Menschen gezwungen, den Übergang zu öffnen. Die Flüchtlinge verurteilten zudem die Falschmeldung des Fernsehsender Rudaw, wonach der Grenzübergang schon immer offen gewesen sei und es sich nur um Propaganda seitens der PYD handele.“

Die Flüchtlinge wurden beim Überqueren des Grenzübergangs von Peshmergas in Militäruniformen kontrolliert. Infolge der Weigerung vieler Flüchtlinge sich kontrollieren zu lassen, entstand eine Massenpanik. Dabei kam es zu gewaltsames Übergriffen der Peshmerga gegen die Flüchtlinge.

Quelle: ANF, 18.08.2013, ISKU

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Medikamentenmangel nimmt dramatisches Ausmaß an

Während die Angriffe gegen Rojava (Westkurdistan) sowohl von Seiten islamistischer Gruppierungen als auch des Baath-Regimes fortgesetzt werden, wird berichtet, dass es kaum noch Medikamente und Infusionsbeutel in der Region gibt. So gibt es derzeit keine Impfstoffe mehr gegen Masern und Kinderlähmung. In der Stadt Dêrik müssen Medizistudierende sich um die Patienten kümmern, weil die Ärzte in der Stadt bereits geflohen sind. Die Studierenden berichten, dass es zwei Dialysegeräte, aber 50 Dialysepatienten im Staatskrankenhaus der Stadt gibt. Aufgrunddessen seien bereits zwei Patienten ums Leben gekommen.

Die Notlage bei der Medikamentenversorgung ist Folge des Embargos gegen Rojava. Neben den geschlossenen Grenzübergängen zur Türkei und zur Autonomen Region Kurdistan haben auch die Islamisten wichtige Zufahrtswege in die Städte Westkurdistans versperrt. In vielen Städten sind deshalb die Medikamente in den Krankenhäusern bereits aufgebraucht. Auch Impfstoffe für Kleinkinder gibt es kaum noch. Sowohl Tollwutimpfungen gibt es keine mehr, als auch Infusionen gegen Schlangen- und Skorpionsbisse.

Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF) beschreibt die Sprecherin der Gesundheitskommission von Dêrik, Rojin Ahmed, die medizinische Notlage. So erzählt sie, dass die Bevölkerung ins Krankenhaus kommt und Blut spenden will. Doch weil es nicht mehr genügend Blutbeutel gibt, ist das nicht möglich. Auch sie macht auf die fehlenden Infusionsmittel, Impfstoffe und sonstige Medikamente aufmerksam und fährt wie folgt fort: “Wenn die Leute hier von einer Schlange gebissen oder einem Skorpion gestochen werden, schicken wir sie nach Qamislo. Ob ihnen dort geholfen wird, wissen wir nicht. Viele Menschen versuchen bereits wieder mit traditionellen Heilverfahren zu helfen.” Ahmed erklärt, dass sie gemeinsam mit fünf Medizinstudierenden, die im letzten Semester sind, für die Gesundheitsversorgung in Dêrik verantwortlich ist. Genauso sehr wie Medikamente gebe es einen Bedarf an MedizinerInnen.

Quelle: ANF, 19.08.2013, ISKU

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