Situation der êzîdischen Frauen unter den Flüchtlingen, Nord-Kurdistan (Südost-Türkei)

ezidische_frauenDr. Leyla Ferman, August 2015

Die Situation der Frauen unter den êzîdischen Flüchtlingen ist in den ersten Wochen der Flucht nach Nord-Kurdistan dadurch aufgefallen, dass Frauen unter tiefen traumatischen Erfahrungen litten. Viele der Frauen konnten kaum aufrecht gehen und waren durch den Schock verstummt. Erst durch den Einsatz von Antidepressiva konnte den Frauen vorerst geholfen werden.

Es kann von verschiedenen Etappen des tiefen Traumas ausgegangen werden:

 

  1.  Als sie erfuhren, dass der Islamische Staat (IS) Şengal angriff.
  2.  Die Einkesselung in den Şengal-Bergen und der Tod vieler Menschen – besonders der Kinder und älterer Menschen – durch Hunger und Durst.
  3. Die Angst davor, dass FreiheitskämpferInnen der HPG / YJA-Star (Volksverteidigungskräften der PKK) und der Volksverteidigungseinheiten YPG sowie der Frauenverteidigungseinheiten YPJ aus Rojava/Nord-Syrien nicht ausreichen würden, um einen sicheren Fluchtkorridor, in einem IS-eroberten Gebiet, für die zehntausenden Êzîden zu schaffen.
  4. Die weitere Flucht nach Nord-Kurdistan.
  5. Für jene, die an die Grenze nach Bulgarien gegangen sind, die Rückkehr in die Kamps (nach Bulgarien deshalb, weil man sich erhofft hat über die Grenze von Bulgarien nach Europa zu gelangen)

Viele Frauen wollten den Schritt nach Bulgarien nicht unterstützten, trauten sich jedoch wegen einer folgenden Reaktionen ihrer Männer nicht, sich dagegen auszusprechen.

Über Wochen sind den Bedürfnissen der Frauen wenig Aufmerksam entgegen gebracht worden – zu sehr war man mit materiellen und technischen Bedürfnissen wie Zelten, Kleidung, Nahrung, etc. beschäftigt. Allerdings gab es in allen êzîdischen Kamps in Nord-Kurdistan unter den Kampleitungen immer Frauen, die für die êzîdischen Frauen als Ansprechperson zur Verfügung standen. Durch die Schaffung von Schulen werden auch die Frauen entlastet. Auch die Frauenzelte mit den Ateliers (Nähzelte, Schneidereien, „Frauen-Handwerk“ allgemein) schaffen Beschäftigung für die Frauen und lenken sie mehr oder weniger für eine kurze Zeit von den geschehenen Ereignissen ab. Grundsätzlich hat das Leben auf der Flucht die Lage der Frauen innergesellschaftlich nicht gebessert: Wie gehabt, bleibt die Hausarbeit, die Kinderbetreuung, etc. bei der Frau.

Die tiefen Gedanken, Wunden und Sorgen werden selten explizit ausgesprochen. Nachdem sich eine junge Frau im Kamp in Amed (tr. Diyarbakır) das Leben nahm, erreichte die Beschäftigung mit den traumatisierten Frauen einen Höhepunkt. Die Arbeit mit Êzîdinnen wird stärker als zuvor von Fachpersonen betreut. Auch ist ein Rehabilitationszentrum in Amed diesbezüglich im Aufbau.

Die Frauen, die in IS-Gefangenschaft waren, bedürfen besonders intensiver Betreuung. Allerdings betrachten viele êzîdische Männer in den Kampfs die separate Beschäftigung mit Frauen stets mit Misstrauen, da sie jüngster Vergangenheit extrem brutale Erfahrungen durch den IS erlitten, die immer noch ca. 4.000 êzîdische Frauen und Kinder festhält, verkauft, misshandelt und vergewaltigt. In einer Gesellschaft, in der die Frau als „Ehre“ des Mannes und der Gesellschaft betrachtet wird, ist die Demütigung der Frau gleichzeitig die des Mannes und somit ein Schande innerhalb der Gesellschaft.

Mit Familien, die die Frauen, welche vom IS befreit wurden, nicht mehr aufnehmen wollen, werden intensive Gespräche geführt. Der êzîdische Waisenrat in Laliş (heilige Stätte der Eziden / Sonnen- und Feuertempel) hatte ziemlich früh nach dem 03. August 2014 entschieden, dass die aus der IS-Gefangenschaft befreiten Frauen weiterhin als Êzîdinnen anerkannt werden.

Beispiele aus Süd-Kurdistan und Rojava (West-Kurdistan) zeigen, dass jene Frauen, die aus der IS-Gefangenschaft befreit wurden oder sich befreien konnten, sich teils das Leben nehmen oder in den Kampf gegen den IS ziehen.

Die Autorin Dr. Leyla Ferman ist als Beraterin der Großstadtverwaltung von Mêrdin (Mardin) tätig und Mitglied des Vorstandes der Föderation Ezidischer Vereine