Solidarität mit den inhaftierten Bürgermeistern in der Türkei

Berliner Bezirksbürgermeisterin übernimmt Patenschaft für eine inhaftierte HDP/DBP Bürgermeisterin, 14.08.2017

Im Juli verabschiedete das Berliner Bezirksparlament Friedrichshain-Kreuzberg einen Antrag, der die Bürgermeisterin auffordert, eine Patenschaft für eine inhaftierte kommunale Bürgermeisterin in der Türkei zu übernehmen.

Eingebracht hatte diesen Antrag die Bezirksverordnete der LINKEN, Elke Dangeleit. In den deutschen Medien wird kaum darüber berichtet, dass mittlerweile über 80 Bürgermeister und Bürgermeisterinnen der HDP/DBP ((DBP: Demokratische Partei der Regionen, ist Teil der Demokratischen Partei der Völker-HDP)) im Südosten der Türkei verhaftet sind und die Kommunen unter Zwangsverwaltung stehen. Dies hat zur Folge, dass die Umwelt-, Frauen-, Bildungs- und Menschenrechtsprojekte, die in den letzten Jahren in der Türkei entstanden sind – z.T. auch mit EU-Mitteln -, geschlossen wurden und deren Mitarbeiter ebenfalls teils inhaftiert, oder extremen Repressionen ausgesetzt sind. Das Damoklesschwert  ‚Unterstützung einer Terrororganisation‘ hängt inzwischen über Allen, die der Opposition zu Erdogan verdächtig sind. Umso wichtiger ist es, dass es solidarische Botschaften an genau diese Menschen in der Türkei gibt und sie nicht alleine gelassen werden. Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass es in Deutschland nicht nur ‚Jubeltürken‘ für die AKP gibt, sondern dass es genauso wie in der Türkei auch in Deutschland eine große Solidarität von Türken, Kurden, Deutschen und vielen anderen Nationalitäten gibt.

Wir dokumentieren hier die Rede der Bezirksverordneten vor dem Bezirksparlament Friedrichshain-Kreuzberg und den Antrag.

„Stellen Sie sich einmal vor, unsere Bürgermeisterin wird von der Bundesregierung von heute auf morgen abgesetzt. Spezialeinheiten der Polizei stürmen ihre Wohnung, durchsuchen und verwüsten sie. Frau Herrmann wird festgenommen mit dem Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung – ohne Vorlage von Beweisen. Der von der Bundesregierung eingesetzte Zwangsverwalter entlässt von heute auf morgen alle Angestellten der Bezirksverwaltung. Das Bezirksparlament wird aufgelöst, alle demokratisch gewählten Abgeordneten – mit Ausnahme der Abgeordneten der Regierungspartei und dem rechten Lager werden verhaftet. Den Betroffenen und deren Familien wird Besitz und Vermögen genommen, Pensionen gestrichen.

Genau das passiert im Moment in einem Land, mit dem ein großer Teil der Bevölkerung in unserem Bezirk eng verbunden ist. Was in der Türkei gerade passiert, und da muss ich nicht ins Detail gehen, das können Sie täglich in der Presse nachlesen, ist die Installierung einer Diktatur. Präsident Erdogan hat auch schon die Einführung der Todesstrafe nach dem Referendum angekündigt. Dies bewegt die türkischen und kurdischen Menschen in unserem Bezirk. Ob im Späti oder beim Bäcker, überall werden die neuesten Nachrichten ausgetauscht. Noch ist es ruhig hier im Bezirk. Aber es brodelt unter der Oberfläche. Vor allem die Kritiker des Referendums von Erdogan haben Angst, öffentlich Position zu beziehen. Sie wollen sich und ihre Angehörigen in der Türkei nicht in Gefahr bringen. Denn: ‚Big brother is watching you‘, in der Moschee, in der Schule, auf dem Markt. Selbst die Abstimmung zum Referendum in den Konsulaten kann zur Gefahr werden. Es gibt erste Berichte darüber, dass Bürgern, die auf irgendwelchen geheimen Listen stehen, bei der Abstimmung der Pass entzogen wurde. Es ist an der Zeit, dass wir Position beziehen und uns solidarisch mit den demokratischen Kräften in der Türkei erklären.

Unser Bezirk hat eine Städtepartnerschaft mit dem Istanbuler Bezirk ‚Kadiköy‘, der zum Wahlkreis 1 zählt, in dem der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas kandidierte. Er ist seit Monaten im Gefängnis. Dutzende Verfahren sind gegen ihn anhängig, nur weil er seinen Job als Parteivorsitzender der HDP und als Abgeordneter in Ankara gemacht hat. Zeitgleich wurden mehr als 80 gewählte Bürgermeister und Bürgermeisterinnen im kurdischen Südosten ihres Amtes enthoben und inhaftiert. Dabei handelt es sich ausschließlich um HDP/DBP Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die zum Teil mit über 80% von der Bevölkerung gewählt wurden. Diese benötigen die Unterstützung aus unseren Landesparlamenten und Kommunen, denn die Zwangsverwaltungen betreffen Provinzen, Großstädte wie Diyarbakir, wie auch kleine Kommunen.

5,9 Millionen Menschen sind davon betroffen, denn die Zwangsverwalter stoppten alle von den Kommunen durchgeführten sozialen Projekte: Frauenprojekte, Bildungsinitiativen, kurdische Kulturprojekte, humanitäre Hilfsprojekte.

Auf Bundesebene gibt es schon eine breite Solidarität mit den inhaftierten HDP-Abgeordneten im Rahmen des Projektes ‚Parlamentarier schützen Parlamentarier‘. Bundestagsabgeordnete aller Parteien haben Patenschaften für HDP-Abgeordnete vom Parlament in Ankara übernommen. Ich möchte hier nur eine Auswahl nennen von den 60 Bundestagsabgeordneten, die eine Patenschaft übernommen haben: Fabricius/CSU, Patzelt/CDU, Oppermann/SPD, Hofreiter/Grüne, Wagenknecht/Linke

Wir als Berliner Bezirk mit dem größten Anteil von Bürgern und Bürgerinnen mit migrantischen Hintergrund sollten als Demokraten und Demokratinnen ebenfalls Solidarität zeigen.

Zeigen wir dem Erdogan – Regime: Wir sind solidarisch mit den inhaftierten Politikerinnen und Politikern in der Türkei….“

Der folgende Antrag wurde im Juli bei Enthaltung der CDU angenommen:

Die Bezirksverordnetenversammlung möge beschließen:

Die Bezirksbürgermeisterin wird gebeten, in ihrer Funktion als Bürgermeisterin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg eine Patenschaft mit einer in der Türkei inhaftierten Bürgermeisterin der HDP/DBP nach dem Vorbild des Projekts „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ im Bundestag aufzunehmen.

Begründung:

Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Türkei sind über 80 kurdische Kommunen von 103 gewählten Kommunen unter staatliche Zwangsverwaltung ((https://civaka-azad.org/wp-content/uploads/2017/08/AppointedStateCommissioners-13-05-17-2.pdf)) gestellt und ihre Bürgermeister*innen abgesetzt worden. Die Bürgermeister*innen sind durch nicht gewählte Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt. Das sind in der Regel Gouverneure oder Landräte, die schon davor die Zentralregierung in der Region repräsentiert haben. Von diesen Absetzungen sind 5,9 Millionen Menschen betroffen. Die Zwangsverwalter stoppten alle von den Kommunen zuvor durchgeführten Projekte. Hunderte städtische Angestellte verloren ihre Arbeit. 85 Bürgermeister*innen sind mittlerweile inhaftiert.

Durch die Absetzung und Inhaftierung der Bürgermeister*innen wird der Wille der Bevölkerung ignoriert, die diese bei den Kommunalwahlen 2014 gewählt haben. Mit der Verhaftung hunderter Medienvertreter*innen, Richter*innen und tausender Staatsangestellter werden darüber hinaus elementare Grundsätze der Demokratie und der Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt.

Eine Patenschaft für abgesetzte und inhaftierte Bürgermeister*innen zu übernehmen, ist ein Akt der Solidarität und gleichzeitig eine klare Stellungnahme dahingehend, dass die Absetzung der freigewählten Bürgermeister*innen undemokratisch ist und unter keinen Umständen hingenommen werden kann.

Ferner wird damit zum Ausdruck gebracht, dass Bürgermeister*innen aus Deutschland über ihre eigene Staatsgrenze hinaus für Demokratie, insbesondere für kommunale Demokratie  und die Akzeptanz des Willens der Bevölkerung einstehen und die Einhaltung dieser Grundsätze einfordern.

Durch die Übernahme einer Patenschaft wird das Schicksal der abgesetzten und inhaftierten Bürgermeister*innen publik gemacht und die Öffentlichkeit wird sensibilisiert. Patenschaften helfen dabei, internationalen Druck auf die türkische Regierung auszuüben. Mit ihrem Engagement können Paten sich direkt bei der türkischen Regierung für die Freilassung der Inhaftierten, zumindest für faire und transparente Verfahren einsetzen und für den Schutz vor zukünftiger Verfolgung plädieren. Auch für die Betroffenen ist eine solche Solidarität von enormer Wichtigkeit, weil dies ihren Einsatz für demokratische Werte und ihren Widerstand gegen Unrecht, unterstützen kann.

In der 18. Wahlperiode (Stand März 2017) haben insgesamt 111 Bundestagsabgeordnete eine solche Patenschaft übernommen. ((https://www.bundestag.de/blob/437116/35f89796712c7db54d71444b90c2c1e5/psp-uebersicht_abgeordnete-mit-patenschaft-data.pdf)) Davon haben 60 Bundestagsabgeordnete fraktionsübergreifend das parlamentarische Schutzprogramm für die türkischen Kollegen aktiviert und übernehmen Patenschaften für 37 Abgeordnete der HDP. ((http://www.spiegel.de/politik/deutschland/tuerkei-bundestagsabgeordnete-helfen-tuerkischen-kollegen-a-1120854.html))

Auch auf kommunaler Ebene gibt es bundesweite Initiativen:

  • Die Fraktionen der Bürgerschaft in Hamburg haben die Vorgänge in der Türkei in einer Parlamentssitzung am 09.11.2016 auf das Schärfste kritisiert und eine gemeinsame Solidaritätserklärung für die verhafteten Abgeordneten, Journalisten und Bürgermeister abgegeben. ((http://www.mopo.de/hamburg/politik/fraktionen-erklaeren-solidaritaet–sanktionen-gegen-die-tuerkei–25066236))
  • Der ehemalige Oberbürgermeister von Hannover und Vorsitzende des Deutschen Städtetages, Herbert Schmalstieg erklärte sich bereit, sich an dieser Initiative zu beteiligen, indem er versucht, weitere Bürgermeister*innen für dieses Projekt zu gewinnen. Er verfasste einen öffentlichen Aufruf an die Bürgermeister*innen in den Kommunen, in dem er zur Solidarität aufruft: „Wir sollten weiter die Verantwortlichen in Stadt, Region, Land und Bund auffordern, gegen diese antidemokratischen Verhaltensweisen schärfstens zu protestieren.“ ((https://gfbvberlin.wordpress.com/2016/11/29/aufruf-zur-solidaritaet-mit-kurdischen-buergermeistern/))
  • Auch in Münster gibt es eine parlamentarische Initiative für eine Patenschaft mit den inhaftierten Bürgermeister*innen.

Wie kann eine solche Patenschaft in der Praxis aussehen?

Nach dem Vorbild des Projekts „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ im Bundestag, an dem sich Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien beteiligen (z.B.: Oppermann/SPD, Hofreiter/Grüne, Wagenknecht/LINKE, Patzelt/CDU, Fabricius/CSU), können folgende Schritte eingeleitet werden:

  • In Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern und durch öffentliche Aufrufe kann auf die Situation der inhaftierten/verfolgten Politiker*innen hingewiesen werden. Dabei kann ihre Freilassung bzw. ihr Schutz vor willkürlichen Strafverfolgungen gefordert werden
  • Durch Petitionsschreiben und Pressearbeit kann öffentliche Sensibilität für die Lage der Politiker*innen geschaffen werden
  • Im Ausland kann das Engagement der Politiker*innen – so möglich – durch ein persönliches Gespräch gewürdigt werden – alternativ können die Politiker*innen – sofern sie auf freiem Fuß sind – auch nach Friedrichshain-Kreuzberg eingeladen werden
  • Durch Briefwechsel mit den Inhaftierten können sie moralisch unterstützt werden
  • Der Einsatz für ein faires Gerichtsverfahren kann durch Prozessbeobachtung vor Ort unterstrichen werden

Es bleibt zu hoffen, dass sich auch weitere Kommunen in Deutschland an solchen Solidaritätsaktionen beteiligen. Sogar in der AKP mehren sich die kritischen Stimmen, insbesondere was die Inhaftierung deutscher Menschenrechtler anbetrifft. Die Vorverurteilung der Inhaftierten durch Erdogan auf öffentlichen Veranstaltungen, die Massenverhaftungen ohne Beweise, die Verurteilungen ohne stichhaltige Beweise, sehen mittlerweile auch Mitglieder der AKP kritisch. Doch der Widerstand von dieser Seite ist sehr verhalten – es könnte ja auch sie selbst treffen. Gülen lässt grüßen!