Bedran Çiya Kurd ist stellvertretender Ko-Vorsitzender der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Im ANF-Interview hat er sich zu den Zielen der Türkei in Syrien, der Beziehung zwischen der Autonomieverwaltung und der syrischen Regierung in Damaskus sowie zur Haltung der Großmächte USA und Russland und dem Zusammenhang mit Idlib und Libyen geäußert.
Beginnen wir mit der Syrienkrise. Auf der einen Seite ist ein Teil des syrischen Territoriums vom türkischen Staat besetzt und es wird sogar versucht, die Besatzungszone auszuweiten. Auf der anderen Seite wird von einer politischen Lösung gesprochen. Sehen Sie eine politische Lösung am Horizont?
Das Hauptziel des Vorgehens der Türkei in Nord- und Ostsyrien ist die Aufsplitterung des syrischen Territoriums und die Aneignung von Teilen Syriens. Die Politik des türkischen Staates zielt darauf ab, dauerhaft in Syrien zu bleiben. Dagegen muss auf gesellschaftlicher, militärischer, politischer und diplomatischer Ebene gekämpft werden. Ein Teil des syrischen Territoriums ist besetzt, davon fühlen sich viele Kreise gestört. Auch Damaskus ist damit nicht einverstanden. Bestimmte Abkommen, die zwischen der Türkei und Russland getroffen worden, passen Damaskus nicht. Die syrische Regierung hat sich ablehnend dazu geäußert. Das finden wir wichtig. Wir unterstützen alle Bemühungen, die türkische Besatzung zu beenden.
Solange ein Teil Syriens besetzt ist, kann kaum von einer politischen Lösung gesprochen werden. Russland bemüht sich seit einer Weile um eine Annäherung zwischen Ankara und Damaskus. Vor wenigen Tagen hat beispielsweise ein Treffen zwischen beiden Seiten in Moskau stattgefunden. Es wird versucht, eine Rückkehr zu bestimmten Abkommen aus der Vergangenheit zu bewirken. Eines davon ist das Abkommen von Adana [von 1998; erlaubte der Türkei „bei Bedrohung“ syrisches Territorium zu betreten und erzwang den Abzug der PKK aus Syrien]. Unsere Haltung dazu ist eindeutig. Wir betrachten es als ein Abkommen, dass sich gegen die Bevölkerung der Region und insbesondere gegen das kurdische Volk richtet. Wir alle wissen, dass es keine Lösung beinhaltet. Es handelt sich um ein Abkommen, dass gegen den Willen der Bevölkerung geschlossen wurde. Wenn eine Lösung gewollt ist, müssen alle diese Abkommen, die gegen den Willen der Völker unterzeichnet wurden, neu überdacht werden.
Sie sagen, dass Russland zwischen Ankara und Damaskus vermittelt. Russland bemüht sich jedoch auch um eine Vermittlung zwischen Ihnen und Damaskus. Wie ist das zu bewerten?
In der Tat gibt es die Initiative Russlands für den Beginn eines Dialogs zwischen der Autonomieverwaltung und Damaskus. Im Rahmen dieser Initiative ist während der Besatzungsoperation des türkischen Staates in Serêkaniyê [Ras al-Ain] und Girê Spî [Tall Abyad] auch ein militärisches Abkommen zwischen den QSD [Demokratische Kräfte Syriens] und der syrischen Armee getroffen worden. Russland hat zugesagt, dass im Nachzug zu diesem Militärabkommen ein politischer Dialog beginnen soll. Auf dieser Grundlage hat Russland mit der Autonomieverwaltung Gespräche geführt und auf gleiche Weise mit Damaskus. Von beiden Seiten wurden Lösungsvorschläge eingeholt und der Gegenseite übermittelt. Ein direktes Gespräch mit Damaskus über eine politische Lösung hat jedoch noch nicht stattgefunden. Es gibt jedoch Bemühungen, die immer noch andauern.
Unserer Meinung nach will Russland eine Annäherung zwischen der Autonomieverwaltung und Damaskus bewirken. Beide Seiten sollen zu einem Block gemacht werden, der unter russischer Initiative steht. Auf diese Weise soll ganz Syrien unter russischem Einfluss stehen. Natürlich haben wir eine eigene Meinung zu diesem Thema. Wir haben eigene Ansichten zu der Frage, wie eine Lösung beschaffen sein muss. Die Verwaltung der Region, die Autonomieverwaltung und ihre Institutionen, die Verteidigung und die Anerkennung des Willens der Bevölkerung müssen verfassungsrechtlich garantiert werden. Auf diese Weise kann sich eine politische Lösung entwickeln. Eine plötzliche Rückkehr zum Zustand vor 2011, als ob nichts gewesen wäre und wie sie von Damaskus gefordert wird, kommt nicht in Frage. So entsteht keine Lösung. In diesem Rahmen gibt es von unserer Seite aus bestimmte Bemühungen. Auch Russland bemüht sich. Wenn Russland es will, kann es zu einer Lösung beitragen. Wir sind dazu bereit.
Die USA haben lange Zeit sowohl mit Ihnen als auch mit der Türkei zusammengearbeitet. Zum jetzigen Zeitpunkt haben sie es vorgezogen, die türkische Besatzung zuzulassen. Und jetzt führt Russland Gespräche sowohl mit Ihnen als auch mit der Türkei. Betrachten Sie die Rolle Russlands eher als Gefahr oder als eine Gelegenheit für die Entstehung einer Lösung?
Richtig, Trump und Erdoğan haben sich auf eine Besatzung von Girê Spî und Serêkaniyê geeinigt. Aber diese Besatzung ist das Ergebnis eines Dreierbündnisses zwischen den USA, der Türkei und Russland. Dass Girê Spî und Serêkaniyê nach dem Rückzug der USA der türkischen Besatzung überlassen werden, dass Kobanê, Minbic [Manbidsch] und das Grenzgebiet Russland überlassen werden und dass die USA sich im Ölgebiet von Dêrik, Tirbêspiyê bis Deir ez-Zor aufhalten, ist das Ergebnis dieses Dreierabkommens. Auf dieser Grundlage haben sich alle Kräfte in der Region neu positioniert.
Durch das Abkommen zwischen den USA und der Türkei sind Serêkaniyê und Girê Spî besetzt worden. Zuvor ist durch ein Abkommen zwischen Russland und der Türkei Efrîn besetzt worden. Aus diesem Grund betrachten wir jedes Handeln dieser beiden Länder als zweifelhaft. Wir sagen, dass diese Mächte kein weiteres Mal Abkommen auf unsere Kosten schließen sollen. Es handelt sich um Großmächte, die Allianzen bilden und Abkommen treffen, aber sie sollten nicht zum Nachteil der Völker der Region sein. Es muss daran erinnert werden, dass das auch zum Schaden dieser Großmächte sein kann. Das entstandene Misstrauen ist die Konsequenz daraus.
Auf der anderen Seite sind vom türkischen Staat besetzte Regionen wie Efrîn, Idlib, Azaz, Dscharablus, Serêkaniyê und Girê Spî auch für Russland und Syrien eine große Bedrohung. Das gesamte Projekt der Türkei zielt auf eine Zersplitterung Syriens ab. Die in diesen Gebieten angesiedelten Terrorgruppen bedeuten für alle eine große Gefahr. Vor allem die Existenz des syrischen Staates und seine Gesamtheit sind gefährdet.
Gerüchten zufolge spricht der türkische Staat mit Russland über eine Übergabe von Idlib an das syrische Regime und fordert im Gegenzug eine Besatzung von Kobanê. Besteht diese Gefahr?
Die Drohungen des türkischen Staates und der von ihm gesteuerten Milizen gegen Nord- und Ostsyrien sind noch nicht vorbei. Die Gefahr ist nicht gebannt. Sie besteht solange weiter, wie das türkische Regime seine mörderische Politik gegen die Bevölkerung fortsetzt. Es kann Kobanê treffen oder einen anderen Ort. Mit dieser Bedrohung müssen wir jederzeit rechnen.
Russland möchte mit der Türkei auf bestimmter Ebene in Idlib eine Einigung erreichen. Unserer Ansicht nach gibt es bereits gewisse Einigungen, wie zum Beispiel die Einnahme der internationalen Verkehrswege zwischen Aleppo und Damaskus sowie zwischen Aleppo und Latakia durch das syrische Regime. Dagegen stemmen sich jedoch bestimmte Gruppen, was bedeutet, dass die Türkei ihr Russland gegebenes Versprechen nicht einhalten kann. Auf der anderen Seite ist Libyen zu den Idlib-Verhandlungen hinzugekommen. Wie Sie wissen, haben Russland und die Türkei die libyschen Konfliktparteien Haftar und Sarradsch in Moskau zusammengebracht. Bei diesem Treffen war vorgesehen, dass im Gegenzug zu einer Waffenruhe in Libyen ein bestimmter Teil von Idlib an das syrische Regime übergeben wird. In Libyen ist ein ähnliches Modell wie in Syrien vorgesehen. Russland und die Türkei haben geplant, dass ein Teil Libyens unter des Kontrolle des von Moskau gestützten Generals Haftar bleibt und der andere Teil unter der Kontrolle der von der Türkei unterstützten Einheitsregierung in Tripolis. Zu diesem Thema ist jedoch noch keine Einigung erzielt worden. Wie sich diese Angelegenheit auf Idlib auswirken wird, ist abzuwarten.
Zwischen den QSD und dem syrischen Regime ist ein militärisches Abkommen getroffen worden. Besteht die Möglichkeit, dass dieses Abkommen in eine politische Einigung mündet? Kann daraus ein gemeinsames Programm zur Befreiung der unter türkischer Besatzung stehenden Gebiete in Syrien entstehen?
Das zwischen den QSD und der syrischen Armee getroffene Abkommen war darauf angelegt, eine Besatzung durch den türkischen Staat und seine verbündeten Dschihadistengruppen zu verhindern. Sollte es sich als erfolgreich erweisen, kann daraus auch eine politische Zusammenarbeit entstehen. Die QSD und die syrische Armee können gemeinsam von Serêkaniyê bis Idlib gegen Besatzung und Terror kämpfen. Aber wie bereits gesagt, ist das mit einer politischen Einigung verbunden. Ein gemeinsamer militärischer Kampf hängt von einer politischen Allianz ab. Ansonsten wäre er schwach. Ich wiederhole ein weiteres Mal, was wir immer schon sagen: Ein Bündnis zwischen der Autonomieverwaltung und der Regierung in Damaskus sowie zwischen den QSD und der syrischen Armee würde Syrien stärken. Syrien wäre damit politisch, militärisch und wirtschaftlich sehr viel stärker. Wir bringen diese Tatsache ständig zur Sprache, damit auch Damaskus es versteht. Eine solche Situation würde Syrien keinesfalls schwächen, sondern im Gegenteil viel stärker machen. Die momentan in Damaskus vorherrschende Denkweise betrachtet es jedoch als Schwäche.
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Das Interview wurde zuerst am 16.01.2020 bei ANF Deutsch veröffentlicht.