“Türkei hat Aleppo verkauft, um im Gegenzug dafür al-Bab zu erhalten”

Interview mit dem KCK-Exekutivratsmitglied Murat Karayılan, Firatnews, 19.12.2016 (Teil 1)

Derzeit finden wichtige und rasante Entwicklungen im Mittleren Osten statt. In Aleppo haben Gruppen wie die Al-Nusra Front und Teile der Freien Syrischen Armee die entscheidende Schlacht gegen das syrische Regime und Russland verloren. Die Verlierer dieser Auseinandersetzung waren also die Gruppen, die von der Türkei unterstützt werden. Nach diesem Ausgang in Aleppo sprechen bereits einige Kreise von neuen Machtverhältnissen in Syrien und der gesamten Region. Können Sie uns Ihre Perspektive zu diesen Entwicklungen mitteilen? 

Es ist richtig, wir können von einer neuen Phase des Krieges im Mittleren Osten sprechen. Jeder Akteur in diesem Krieg stellt gerade neue Kalkulationen auf, um den weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen und darin die eigene Position neu einschätzen zu können. Einer der wichtigsten Faktoren bei diesen Kalkulationen ist die Frage, wie die Politik des künftigen US-Präsidenten Donald Trump in Syrien und im Mittleren Osten aussehen wird. Es wird viel spekuliert und alle Seiten bereiten sich auf mögliche Eventualitäten, welche die eigene Position und Interessen in der Region tangieren könnten, vor.

Der zweite wichtige Punkt in dieser neuen Phase ist die Frage, was für eine Politik das syrische Regime und Russland nach dem erfolgreichen Ausgang der Schlacht um Aleppo verfolgen werden. Natürlich spielt hier auch die Rolle des Irans mit rein. Die Rolle dieser Akteure im weiteren Verlauf des Krieges ist also auch Gegenstand der Kalkulationen. Es stellt sich die Frage, ob das syrische Regime nach dem Sieg von Aleppo nun einen Kurs fährt, der auf die militärische Eroberung weiterer Gebiete im Land abzielt. Oder ob das Regime nun aus einer Position der Stärke heraus in den Dialog mit den übrigen Konfliktparteien tritt und eine diplomatische Lösung anstrebt. Die Antwort auf diese Frage wird wohl in den kommenden Tagen deutlich werden.

Kann das Regime eine Lösung durch Dialog erzielen?

Das Regime und die mit ihr agierenden Akteure Russland, Iran und die libanesische Hisbollah verfügen eigentlich über eine gute Gelegenheit. Sie können mit der Einsicht, dass das alte Syrien so nicht wieder ins Leben zu rufen ist, eine Demokratisierungsreform in die Wege leiten, und den Weg einer Föderation oder einer anderen Administrationsform mit lokalen Selbstverwaltungen einschlagen, um so ein demokratisches System im Land zu etablieren. Sie können mit Rojava oder der Föderation Nordsyrien in Kontakt treten und die Fragen der Demokratisierung über den Weg des Dialogs lösen. Sie können im Prinzip mit allen Gruppen im Land, außer der Al-Nusra Front und dem IS, mittels Dialog eine politische Lösung entwickeln und umsetzen. Die Grundlage einer solchen Lösung sollte ein demokratisches Syrien sein, in welchem sich alle Völker sicher fühlen und sich selbst politisch verwalten und repräsentieren können. Ich denke, da gibt es eine Aussicht auf Erfolg. Wenn das Regime sich aber für den anderen Weg entscheidet und nach dem Motto, „ich habe in Aleppo gesiegt, ich kann überall anders auch siegen“, agiert, dann werden sich der Konflikt und die Auseinandersetzungen nur noch weiter vertiefen.

Ich würde gerne von Ihnen erfahren, welche Rolle die Türkei bei der Schlacht um Aleppo gespielt hat?

Ich muss hierzu zunächst sagen, dass die Syrien-Politik der Türkei bereits vor der Schlacht von Aleppo am Boden lag. Und nun wurden in Aleppo nicht nur die Al-Nusra Front und die FSA geschlagen, sondern gleichzeitig auch die AKP und Erdoğan. Der Hauptgrund für dieses Fiasko der türkischen Syrien-Türkeipolitik liegt darin, dass sie vollständig auf eine anti-kurdischen Linie ausgerichtet ist. Am Anfang hatte sie noch das Ziel, Assad in Syrien zu stürzen und mögliche Errungenschaften der Kurden in einem neuen Syrien zu unterbinden. Nun hat sie das erste Ziel aufgegeben und konzentriert sich alleine auf die anti-kurdische Politik in Syrien. Allein aus diesem Grund hat sie Gruppen wie die Al-Nusra unterstützt und auch ihre Basis in Aleppo stark gemacht. Das Ziel war es, mit Hilfe dieser Gruppen das Erstarken der Kurden in Rojava zu unterbinden. Anschließend hat die Türkei ihre Ziele weiter konkretisiert und sich mit Russland darüber geeinigt, dass die Kantone Afrin und Kobanê nicht miteinander verbunden werden. Die Türkei hat also Aleppo verkauft und im Gegenzug dafür al-Bab verlangt. In dessen Folge wurden die Gruppen in Aleppo fallengelassen, die zuvor noch von der Türkei als ihre „Brüder“ bezeichnet worden waren. Und diese Brüder haben dann keine Chance mehr in Aleppo gehabt, der Umzinglung standzuhalten.

Und hat die Türkei im Gegenzug dafür al-Bab ausgehändigt bekommen? In den türkischen Medien wird ja bereits eine Stimmung zelebriert, als habe man die Stadt erobert.

Nein. Noch ist es der Türkei nicht gelungen, al-Bab einzunehmen. Al-Bab ist ein Thema für sich. Wie du schon sagtest, seit vier Monaten wird in den türkischen Medien vom Siegeszug von Cerablus bis al-Bab gesprochen. Das Gebiet von Cerablus bis Dabiq hat die türkische Offensive ohne jegliche Auseinandersetzungen eingenommen. Doch sobald es zur Gegenwehr des IS kam, wie vor den Toren von al-Bab geschehen, ist die Operation ins Stocken geraten. Das macht klar, dass die türkische Armee und ihre Verbündeten nicht wirklich erfolgreich sind. Denn trotz aller militärtechnischen Vorteile gelingt es Ihnen nicht, in die Stadt vorzudringen. Die Meldungen in den türkischen Medien täuschen also über die Realität auf dem Schlachtfeld hinweg.

Der eigenen Bevölkerung wird also etwas vorgegaukelt. Auch die Verluste in den eigenen Reihen werden verheimlicht. Von Mal zu Mal ist zwar die Rede von einzelnen türkischen Soldaten, die ums Leben gekommen sind. Doch die tatsächlichen Verluste der türkischen Armee auf syrischem Boden gehen ohne Zweifel deutlich darüber hinaus.