Seyit Evran, Firanews, 13.12.2016
Die Herrschaftszeit des IS in Minbic war geprägt von Stille und Angst. Seitdem die Stadt allerdings befreit ist, kehrt die Lebendigkeit wieder in die Stadt zurück. Viele Läden und Geschäfte, die unter der IS-Herrschaft geschlossen wurden, sind mittlerweile wiedereröffnet worden. Auf dem Markt herrscht eine neue Lebhaftigkeit. Doch das, was am meisten ins Auge sticht, sind die vielen neueröffneten Shisha-Läden. Bevor der IS die Kontrolle in der Stadt übernahm, gab es nur einige wenige Shisha-Geschäfte in der Stadt. Nachdem der IS nun vertrieben wurde, werden es immer mehr.
Wie wird Minbic verwaltet?
Das erste, was nach der Befreiung der Stadt geschah, ist die Übernahme der Verwaltung durch den Volksrat gewesen. Bereits mit der Ankündigung der Befreiungsoperation von Minbic hatte sich ein provisorischer Volksrat mit einem Co-Vorsitz an der Spitze gebildet. Der Volksrat hatte mit dem Beginn der Kämpfe sich dem aus der Stadt flüchtenden Volk angenommen und versucht, ihre Grundversorgung zu organisieren. Natürlich konnten die Mitglieder des Volksrates in jener Zeit sich noch nicht einmal in die Nähe von Minbic wagen, da der IS sie keine Sekunde am Leben gelassen hätte. Aus diesem Grund wurde der Volksrat bestehend aus Einwohnern der Stadt außerhalb von Minbic gegründet. Nun ist dieser Volksrat das zentrale Verwaltungsorgan der Stadt. Außerdem ist Minbic nun auch der Gastgeber des Volksrates von Cerablus, der sich, wie der Minbic-Volksrat zuvor auch, im Exil organisiert.
Eine der ersten Aktivitäten des Volksrates von Minbic nach erfolgter Befreiung der Stadt war es, die Schulen wiederzueröffnen. Anschließend wurden folgende gesellschaftlichen Strukturen im Rahmen des Volksrates gebildet: Die Sicherheitskräfte der Asayish, die Volksräte für das Umland von Minbic, und die Komitees für die Wirtschaft, die Gemeindeverwaltung, die Frauenhäuser, die Akademien, die Energie- und Wasserversorgung, den Verkehr, den Zoll, die Infrastruktur, die Rechtsfragen, die Gesundheit, die Bildung und die Versorgung von Hilfsbedürftigen.
Die Arbeit der Stadtverwaltung
Eine der aktivsten Institutionen in Minbic ist ohne Frage die Gemeindeverwaltung der Stadt. Sie kümmert sich um die Grundversorgung mit Wasser und Strom, sowie die Sauberkeit der Stadt. Auch der Wideraufbau von zerstörten Teilen der Stadt gehört zu dem Aufgabenbereich der Verwaltung. Die erste erbrachte Leistung der Gemeinde war die Reparatur des Wasserversorgungssystems, welches zu Herrschaftszeiten des IS und im Zuge der Kämpfe beschädigt worden war. Dort, wo die Reparatur nicht möglich war, hat die Gemeinde alternative Lösungen entwickelt und es geschafft, eine umfassende Wasser- und Elektrizitätsversorgung in der Stadt zu gewährleisten.
Ein anderer Arbeitsschwerpunkt der Gemeinde war die Lösung der grundlegenden Infrastruktur-Problematik. Die Aufbauarbeiten für die Infrastruktur, die im Laufe der 73 Tage andauernden Befreiungsoffensive beschädigt und zerstört wurden, halten weiter an. Allen voran die Kämpfe um das Flussbett haben dazu geführt, dass die Brücken der Stadt zerstört wurden. Diese werden aktuell wieder aufgebaut. Während der Offensive wurden einige Brücken durch Autobomben des IS in die Luft gejagt. Andere Brücken wurden durch die Anti-IS-Koalition aus der Luft bombardiert, um den Bewegungsspielraum der Dschihadisten zu beschränken. Aktuell verfügt die Stadt über keine Brücken. Somit ist Minbic gegenwärtig in zwei geteilt. Das soll sich aber schnell wieder ändern. Das Ziel ist es, die Brücken noch vor Beginn der anstehenden Regenzeit wiederaufzubauen.
In vier Monaten haben sich 2.000 Menschen dem Militärrat angeschlossen
Den größten Zulauf nach der Befreiung hat der Militärrat von Minbic erhalten. In einer Zeitspanne von rund vier Monaten haben sich mehr als 2.000 Menschen dem Militärrat der Stadt angeschlossen. Nach deren Ausbildung haben sich in der Stadt drei Bataillone gebildet, welche die Stadt vor möglichen Angriffen des IS und vor einer Besatzungsoffensive der Türkei schützen sollen.
Es sind allen voran Söhne und Töchter der arabischen Lokalbevölkerung, die sich dem Militärrat von Minbic anschließen. Aber auch die Turkmenen, Kurden und Tscherkessen der Stadt nehmen ihren Platz in den Reihen des Militärrats ein.
Alle Kämpfer des Militärrats, die wir getroffen haben, sprechen der SDF (Demokratische Kräfte Syriens), sowie den Einheiten der YPG und YPJ ihre Dankbarkeit aus. Zusammengefasst sagen sie: „Obwohl in der Stadt keine YPG/YPJ Kämpfer mehr sind, haben wir die Bedeutung des Kampfes, den Mut und die Tapferkeit von ihnen gelernt. Sie haben uns beigebracht, dass der Weg zur Freiheit über den des Widerstandes führt. Sie haben uns gezeigt, dass ein Mensch für die Freiheit in seinem Land und seiner Heimat ohne mit der Wimper zu zucken, in den Tod gehen kann.“
Das Problem der beschlagnahmten Ausweise wird gelöst
Eines der Hauptprobleme bei dem Versuch, in Minbic wieder in die Normalität zurückzukehren, sind die fehlenden Ausweispapiere unzähliger Bewohner der Stadt. Der IS hatte nämlich die Ausweisdokumente der Menschen von Minbic konfisziert. Diejenigen, die sich dem IS anschlossen, erhielten anschließend eigens produzierte Ausweise. Der Rest der Bevölkerung blieb ohne gültige Dokumente zurück. Das Einwohnermeldeamt aus der Zeit des Baath-Regimes wurde vom IS bei seiner Flucht in Brand gesteckt, sodass auch alle Akten vernichtet wurden. Um dieses Problem zu beheben, hat der Volksrat von Minbic ein provisorisches Einwohnermeldeamt geschaffen und produziert vorläufige Personalausweise.
Viele Orte können problemlos besucht werden
Für eine „normale“ Stadt mag das nichts Außergewöhnliches sein. Aber für Minbic handelt es sich bei dem Folgenden um eine große Sache:
Während der Herrschaftszeit der FSA, später der Al-Nusra Front und schließlich des IS hatte die Stadt kaum einen Kontakt zur Außenwelt. Die Bevölkerung von Minbic konnte noch nicht einmal ins nahegelegene Kobanê oder nach Cerablus reisen. Das war ihnen nämlich untersagt. Nun gibt es diese Begrenzungen für die Menschen nicht mehr. Denn der Busbahnhof von Minbic hat seine Arbeit wiederaufgenommen und neben dem Nahverkehr sind auch die Busse in die nahgelegenen Städte wieder in Betrieb. Die Menschen können somit nach Cerbalus, Afrin, Kobanê, Girê Spî und selbst nach Aleppo oder Damaskus reisen, wenn sie das möchten. Für die Bevölkerung ist es eine große Sache, dass sich die Tore in die anderen Städte des Landes für sie wieder eröffnet haben.
Der Brotpreis ist gesunken
Der IS versucht überall, wo er sich breit macht, mit verschiedenen Mitteln die Menschen an sich zu binden. In Minbic taten die Islamisten dies vor allem durch die erhöhten Preise für Grundnahrungsmittel. Denn während ihre Mitglieder mit allem Nötigen versorgt wurden, war der Rest der Einwohner steigenden Preisen für Brot und andere Lebensmittel ausgesetzt. Dadurch wurde das tägliche Überleben für die Menschen immer schwieriger. So kostet das Laib Brot überall in Rojava 65 syrische Lira. Während der IS-Herrschaft in Minbic kostete das Brot hingegen zwischen 350 und 400 Lira.
Auch für andere Lebensmittel galten die überteuerten Preisen: So beträgt der aktuelle Preis für ein Kilogramm Tomaten 325 Lira. Unter dem IS lag dieser Preis bei 1000 Lira. Treibstoff habe es so gut wie gar nicht gegeben. Ein Bewohner von Minbic erklärt mir, dass er nun günstiger an Brot, Gemüse, Benzin und andere Produkte gelangt. „Alleine daran merken wir, dass wir befreit worden sind“, so seine Worte.
16.000 Flüchtlinge wurden aufgenommen
Zu Zeiten der Besatzung von Minbic durch den IS flohen waren tausende Menschen aus Stadt zur Flucht gezwungen. Einige suchten Schutz im ebenfalls umkämpften Aleppo, andere zog es in Richtung Türkei. Wieder andere suchten aber auch Zuflucht in den friedlicheren Städten Rojavas. Nach der Befreiung ihrer Stadt sind viele der damals Geflüchteten wieder zurückgekehrt. Einige hatten das Glück, ihre Häuser unbeschädigt wieder vorzufinden. Andere mussten ihre Häuser von Neuem errichten oder eine Wohnung zur Miete finden.
Bemerkenswert ist allerdings eine anderer Punkt: Während die Bevölkerung von Minbic vor einiger Zeit noch selbst zur Flucht gezwungen war, nehmen sie nun selbst Geflüchtete aus anderen Städten Syrien auf. Insbesondere aus dem Umland des umkämpften al-Bab suchten in den letzten Wochen sehr viele Menschen Zuflucht in Minbic. Die Zahl der Geflüchteten in der Stadt wird mit bis zu 16.000 beziffert. Die Bevölkerung von Minbic kennt das Leid dieser Menschen, die aufgrund des anhaltenden Kriegs ihre Heimatorte verlassen musste, nur zu gut. Aus diesem Grund öffnen sie nun als Gastgeber auch ihre Arme für die Geflüchteten.
Minbic ist nun nach vier Jahren Besatzung endlich frei. Doch die Wunden dieser Stadt und ihrer Menschen sind noch nicht verheilt. Auch die Angriffe auf die Stadt haben noch kein Ende endgültiges Ende gefunden. Dennoch kommen viele Menschen aus Minbic die aktuellen Tage wie ein Traum vor. Denn die Menschen werden nun nicht mehr in die Moscheen zum Gebet gezwungen, sondern können diese freiwillig besuchen. Das Rauchen einer Zigarette oder eine Shisha ist nunmehr auch nicht mehr verboten. Die Frauen der Stadt fühlen sich nicht gezwungen, sich zu Hause einzusperren. Niemand muss auf der Straße mehr den Anblick von Menschen ertragen, die in öffentlichen Käfigen über Tage eingesperrt werden. Auch die öffentlichen Hinrichtungen von Menschen gehören endlich der Vergangenheit an. Die Läden werden nicht dicht gemacht. Es gibt keine Ausgangssperren zu Abendzeiten. Die Menschen können die ganze Nacht draußen verbringen und spazieren gehen, wenn sie das möchten. Und Frauen wie Männer können sich wieder so kleiden, wie sie es möchten.
Die Bevölkerung von Minbic ist noch etwas zaghaft. Nach so vielen Jahren der Unterdrückung kommt ihnen die neue Freiheit surreal vor. Aber so langsam verstehen sie, dass die wiedererlangten Freiheiten Realität sind. Sie begreifen auch, dass diese Freiheiten mit großen Opfern erlangt worden sind. Viele mussten für die Befreiung der Stadt ihr Leben lassen. Die Menschen der Stadt erklären, dass sie diese Opfer niemals vergessen werden.
Die Frauen tauchen in allen Lebensbereichen wieder auf
Sowohl zu Zeiten des IS, als auch davor hatten die Frauen in Minbic keinen großen Anteil am öffentlichen Leben. Viele Frauen waren auch vor der Ankunft des IS verschleiert. Doch der IS hob die Restriktionen gegen die Frauen deutlich an. Und so glich das Leben der Frauen in der Stadt einem Leben in Haft. Mit der Befreiung vom IS änderte sich dies rapide. Die Frauen fingen an, in allen Teilen des öffentlichen Lebens ihren Platz einzunehmen. Im Kreise der Sicherheitskräfte, im Volksrat, beim Zoll, in den Akademien, überall beteiligten sich die Frauen am Wiederaufbau des Lebens in Minbic.
An der belebtesten Kreuzung im Stadtzentrum von Minbic begegnen wir einer Frau, die damit beauftragt ist, den Verkehr zu regeln. Ich frage meine Begleiter, ob solch ein Bild vor der Zeit des IS hier möglich gewesen wäre. Die Antwortet lautet ganz klar, dass das nicht möglich war. Es stellt etwas völlig Neues dar, dass Frauen überall im öffentlichen Leben ihren Platz einnehmen können.
Im Frauenhaus der Stadt diskutierten Frauen gemeinsam über ihre Probleme und erarbeiten für diese ihre eigenen Lösungen. Viel beschäftigt sind die Frauen hier mit den psychischen Problemen, die sie in der Herrschaftszeit des IS und der Al-Nusra Front erlitten. Auch das Thema der innerfamiliären Gewalt an Frauen ist ein wichtiges Thema, für das die Frauen nach Lösungen suchen.
Mehr als die Hälfte der Schulen wurde wiedereröffnet
Zur Zeit des IS waren in Minbic fast alle Schulen geschlossen worden. Es gab nur wenige Schulen, die noch in Betrieb waren und in diesen wurden die Kinder mit den Lehren der Islamisten indoktriniert. Seit der Befreiung der Stadt wurden bislang 250 der zuvor rund 400 Schulen der Stadt wiedereröffnet. In diesen Schulen wurde der Unterricht für tausende von Schülern aufgenommen. Bei den 150 weiterhin geschlossenen Schulen handelt es sich um solche, die zu nah an den umkämpften Gebieten mit dem IS oder den türkischen Truppen liegen.
Es wird viel Mühe dafür aufgebracht, um die Probleme im Bildungswesen zu lösen. Ein Teil der Lehrer, die aus der Stadt geflüchtet waren, sind mittlerweile zurückgekehrt. Auch die übrigen ehemaligen Lehrer von Minbic sollen zur Rückkehr überredet werden. Doch auch ohne sie herrscht derzeit kein akuter Mangel an Lehrpersonal.
Das Müllproblem wird gelöst
Eine weitere Herausforderung der Gemeindeverwaltung stellte das Müllproblem in der Stadt dar. Dieses Problem gab es in der Stadt bereits vor Beginn des Bürgerkriegs. Denn das Regime hatte in den vergangenen 20 Jahren die Verantwortung für die Müllbeseitigung an private Unternehmen übergeben und diese erfüllten die ihnen auferlegte Pflicht nur unzureichend. Und so hat die Gemeindeverwaltung zu einer kollektiven Müllbeseitigung aufgerufen, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Die Müllbeseitigungsabreiten in der Stadt und im Umland sind weiterhin im vollen Lauf. Rund 70% des Müllproblems sei bereits beseitigt, berichtet man uns.