Im ANF-Interview äußert sich Meral Çiçek, die Vorsitzende des Kurdischen Frauenzentrums für Außenbeziehungen (REPAK) in Silêmanî (Sulaimaniyya) zu den aktuellen Entwicklungen in Südkurdistan, 06.06.2018
Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit dringt die türkische Armee in Südkurdistan in die von der kurdischen Guerilla gehaltenen Medya-Verteidigungsgebiete ein und besetzt zahlreiche Dörfer und strategische Berge. Angeblich stehe die Einnahme der Qendîl-Berge, die als „Hauptquartier“ der PKK gelten, kurz bevor. Die türkische Armee berichtet, sie sei nur noch 24 Kilometer von Qendîl entfernt. In den sozialen Medien wurden Videos geteilt, die türkische Soldaten in Bermizê bei Sidekan zeigten.
Meral Çiçek, die Vorsitzende des Frauenzentrums REPAK mit Sitz in Silêmanî, äußerte sich im ANF-Interview zu den Besatzungsversuchen des türkischen Staates, der Rolle der NATO und der Haltung regionaler und internationaler Kräfte.
Die Region Qendîl ist von einem großen Tal und einer breiten Straße durchzogen, ist es einfach für die türkische Armee, dort einzudringen?
Die Region Qendîl ist nicht nur sehr gebirgig, sondern auch strategisch gut zu verteidigen. Hinzu kommt, dass sie seit fast 20 Jahren komplett von der PKK kontrolliert wird, die mittlerweile jeden noch so kleinen Felsen, jeden Baum dort kennt. Für Bodentruppen ist es nicht möglich, unbemerkt einzudringen. Die Region selbst zu besetzen, scheint mir unmöglich. Dazu ist das Gebiet nicht nur zu groß und zu gebirgig, sondern aufgrund seiner geografisch-strategischen Lage für die Guerilla leicht zu verteidigen. Möglich wäre allerdings, dass das türkische Militär versucht, aus der Luft Soldaten auf einer Bergspitze zu platzieren, um so den Anschein zu erwecken, es habe Qendîl eingenommen.
In den 1990er Jahren ist die türkische Armee mehrmals mit Hilfe der PDK und YNK in die Region vorgedrungen, hat sich dann aber wieder zurückgezogen. Gibt es Informationen darüber, ob die türkische Armee die Region dauerhaft besetzen will? Welche innenpolitische Bedeutung hat der Angriffskrieg auf Südkurdistan für Erdoğan?
Die Invasionsbemühungen der türkischen Armee und dementsprechend die Gefechte zwischen ihr und den Guerillakräften konzentrieren sich noch immer auf das Gebiet Bradost, also zwischen Xakûrkê und Xinêre. Die enorm gebirgige Bradost-Region gehört zum Gouvernement Hewlêr (Erbil), welches von der PDK kontrolliert wird. Auch vor den aktuellen Besatzungsversuchen hat es in Südkurdistan mindestens 18 Stützpunkte der türkischen Armee und des türkischen Geheimdienstes MIT gegeben, allerdings lagen diese alle im Gouvernement Duhok. Neu hinzugekommen sind jetzt mindestens drei militärische Stützpunkte im Gouvernement Hewlêr. Das ist eine neue Entwicklung, die das Niveau der Zusammenarbeit und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem türkischen Staat und der PDK zeigt. Egal, ob mit oder ohne Einwilligung der PDK, die Existenz dieser militärischen Basen kommt schon jetzt einer Besatzung gleich.
Die Zusammenarbeit geht bis zum sogenannten Südkrieg 1992 zurück, bei dem die türkische Armee gemeinsam mit der PDK und der YNK in Südkurdistan versucht hat, die PKK zu besiegen. Dieser Angriffs- und Besatzungskrieg wurde im Rahmen der NATO geführt. Das ist wichtig bei der Betrachtung. Die Türkei hat Südkurdistan niemals ohne Einwilligung der NATO angegriffen. Vielmehr ist die NATO immer in irgendeiner Weise Teil der Operationen gewesen. Die türkische Besatzung Südkurdistans hat eigentlich 1992 begonnen. Zwar hat sich damals und auch während späterer Besatzungsversuche der Großteil der Soldaten zurückgezogen, jedoch sind Sondereinheiten des türkischen Militärs immer im PDK-Gebiet zurückgeblieben, bis zum heutigen Tag. Das heißt, es besteht seit über 25 Jahren eine begrenzte Besetzung.
Während der Besatzungsangriffe auf Efrîn hat die türkische Seite ganz offen zum Ausdruck gebracht, dass sie Pläne hegt, das gesamte unter kurdischer Kontrolle befindliche Gebiet – auch in Südkurdistan – unter eigene Kontrolle zu bringen. Noch deutlicher kann man es nicht ausdrücken. Das wird von südkurdischen Kräften, vor allem der PDK, oft nicht ernst genommen. Wir wissen jedoch um die neoosmanischen Träume Erdoğans, der am liebsten ganz Rojava und Südkurdistan annektieren will. Gemäß des Nationalpakts („Misak-ı Milli“) von 1920 sollten die Gouvernements Aleppo und Mosul zum neuen türkischen Staat gehören. Dieser Plan wurde jedoch von den westlichen Alliierten, vor allem Großbritannien und Frankreich, zunichte gemacht. Die Regierung Erdoğans stellt in den vergangenen Jahren außenpolitische Projekte immer wieder in Zusammenhang mit historischen Forderungen. Dies ist kein Zufall, sondern zeigt auf, worum es der neoosmanischen Türkei wirklich geht.
Darüber hinaus hat der Angriffskrieg auf Südkurdistan für Erdoğan so kurz vor den Wahlen natürlich innenpolitisch eine hohe Bedeutung. Denn die Türkei befindet sich in einer strukturellen Krise. Erdoğan will diese gemeinsam mit seinem ultranationalistischen Partner Bahçeli überwinden, indem sie versuchen, den türkischen Staat in einer Synthese von Islamismus und Faschismus zu reorganisieren.
Aber sie laufen Gefahr, vor Beendigung des Reorganisierungsprozesses durch die Krise selbst weggespült zu werden. Daher haben sie sich für vorgezogene Wahlen entschieden. Die militärische Besatzung Efrîns hat Erdoğan nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Jetzt versuchen sie erneut durch militärisches Säbelrasseln eine nationalistische Stimmung zu erzeugen, die ihnen bei den Wahlen Stimmen bringen soll. Das Thema Qendîl wird da zum wiederholten Male hoch gekocht.
Wie verhalten sich die Regierung des Irak und Südkurdistans gegenüber der militärischen Aggression? Die türkische Regierung berichtet in der Hürriyet, dass man mit der irakischen Regierung einig sei, die PKK nicht länger in der Region zu dulden. Zumindest scheint die Besatzung gebilligt zu werden?
Zunächst einmal sollte nicht vergessen werden, dass wir uns im Irak momentan in einer Zwischenphase befinden. Am 12. Mai haben Wahlen stattgefunden und die neue Regierung ist noch nicht gebildet. Von irakischer Seite hat es in den vergangenen Jahren nicht eine offizielle Erklärung gegeben, die die Existenz des türkischen Militärs innerhalb der irakischen Staatsgrenzen billigt. Die Türkei versucht oft, über gleichgeschaltete Medien eine solche Wahrnehmung innerhalb der Öffentlichkeit zu konstruieren. Diese Berichte haben keine Basis. Im Gegenteil, in der nahen Vergangenheit haben irakische Regierungsvertreter des Öfteren die Türkei dazu aufgefordert, das irakische Staatsgebiet zu verlassen. Jedoch sind seitens der irakischen Regierung keine praktischen Schritte auf diese Forderungen gefolgt. Was Südkurdistan angeht, muss man zwischen der PDK und den anderen Parteien unterscheiden. Die türkische militärische Präsenz besteht allein auf dem von der PDK kontrollierten Gebiet.
Dazu kommt, dass es momentan eigentlich keine wirkliche Regierung in Südkurdistan gibt. Das Parlament hat seine Funktion verloren und tagt kaum noch. Drei Parteien, die eigentlich an der Regierung beteiligt sind, sind de-facto nicht mehr Teil von ihr. Daher kann man nicht von einer Reaktion der Regierung selbst sprechen, sondern muss auf die Reaktionen der einzelnen Parteien schauen. Einige Vertreter*innen der YNK haben die türkischen Besatzungsversuche verurteilt. Es gibt in Silêmanî eine Initiative von NGO-Vertreter*innen und Politiker*innen, die sich gegen diese Besatzungsangriffe organisieren. Diese haben gestern eine Erklärung abgegeben und planen konkrete Aktionen gegen die türkische Besatzung.
Kannst Du etwas dazu sagen, was die quasi-Aufspaltung des Gebietes durch einen türkischen Korridor für die Medya-Verteidigungsgebiete bedeutet?
Natürlich behindert die Präsenz der türkischen Armee in den Medya-Verteidigungsgebieten die Bewegungsfreiheit der Guerilla. Zu einer kompletten Aufspaltung ist es noch nicht gekommen. Aber inwieweit und wie konkret so eine Aufspaltung die Medya-Verteidigungsgebiete beeinflussen würde, kann ich momentan nicht beurteilen.
Wie verhält sich die Dorfbevölkerung in der Region? Inwieweit sind sie von den Bombardements und Angriffen betroffen? Wie ist ihr Verhältnis zur den HPG und der Frauenguerilla YJA-Star?
Vor einigen Tagen ist ein Video veröffentlicht worden, dass türkische Soldaten im Dorf Bermizê zeigt. Dies wurde in einer Dauerschleife ausgestrahlt. Es gab Aufnahmen, auf denen zu sehen war, dass türkische Soldaten Lebensmittelpakete und ähnliches verteilen, sowie eine Versammlung mit den Dorfbewohnern abhalten. Dies deutet darauf hin, dass das türkische Militär versucht, die Zivilisten in der Region mit Geschenken zu kaufen. Die Versammlung zeigt, dass versucht wird, die Dorfbevölkerung zu überzeugen. Kurz darauf hat das Militär das Dorf verlassen. Ich habe gehört, dass die PDK das türkische Militär dazu aufgefordert hat, die Dorfbevölkerung selbst zu überzeugen. Das zeigt eigentlich, dass die Dorfbewohner*innen gegen solch einen Angriff und die Präsenz des türkischen Militärs sind und die PDK alleine nicht in der Lage dazu ist, ihre Meinung zu beeinflussen.
Die Menschen in der Region leben seit Jahrzehnten mit der Guerilla zusammen. Sie wissen um deren Lebensstil, Prinzipien, Verhältnisse etc. Oft suchen sie zuerst bei ihnen Hilfe, wenn sie etwas brauchen oder jemand krank ist. Das ist ein Vertrauensverhältnis. Klar gibt es immer wieder Einzelne, die mit den Besatzern kollaborieren, oder Menschen, die Angst davor haben, dass man ihre Rente kürzt, sollten sie nicht kooperieren. Aber der Großteil der Menschen ist sich der Natur und der Ziele der türkischen Angriffe bewusst.
Man sollte auch nicht vergessen, dass diese Menschen Bombardements und Angriffe nicht erst mit der PKK, sondern schon viel früher erlebt haben. Diese Berge sind in den 1970er und 1980er Jahren vom irakischen und iranischen Staat aus der Luft und vom Boden aus angegriffen worden, weil die Peschmerga ihren Widerstand von dort aus organisierte. Dass jetzt von PDK-Kreisen gesagt wird, Grund für die türkischen Angriffe sei die PKK, ist in diesem Kontext ein Witz, weil dieser Logik nach der Grund für die Anfal-Kampagne des Baath-Regimes in den 1980er Jahren die Präsenz der Peschmerga gewesen wäre.
Aber natürlich sind die Menschen von den Angriffen betroffen, in den vergangenen Monaten sind mindestens sieben Zivilisten von türkischen Kampfjets gezielt getötet worden. Außerdem werden immer wieder Häuser, Gärten, Felder und Vieh der Zivilbevölkerung bombardiert. Das hat System, denn so soll von Seiten der Bevölkerung Druck auf die PKK ausgeübt werden. Aber die gewünschten Ergebnisse bringt diese Politik nicht.
Auch die Region Şengal steht ständig auf der Agenda der türkischen Armee. Nach wie vor ist die Hälfte des Gebietes, unter anderem die Stadt, ohnehin von der irakischen Armee besetzt. Wie groß ist die Gefahr eines Angriffs auf Şengal? Auch hier stellt sich die Frage, inwieweit die irakische Regierung eine Besatzung akzeptieren würde.
Şengal hat noch einmal einen Sonderstatus, da es verwaltungstechnisch nicht zur Autonomen Region Kurdistan gehört und nach dem Unabhängigkeitsreferendum im Oktober 2017 erneut unter irakische Kontrolle geraten ist. Die PKK-Guerillaeinheiten haben sich im März aus Şengal zurückgezogen. Dadurch ist eine militärische Auseinandersetzung mit der Türkei abgewendet worden. Die Verteidigungskräfte der YBŞ und YJŞ befinden sich aber weiterhin in Şengal und sorgen für die Selbstverteidigung der ezidischen Gemeinschaft dort. Eine Besatzung durch die türkische Armee ist sehr unwahrscheinlich.
Wie verhalten sich die USA und Europa angesichts der Besatzung des Nordirak?
Wie eben schon gesagt, muss man sich die Rolle der NATO vor Augen führen. Sowohl in der Vergangenheit als auch heute hat die Türkei ihre militärischen Angriffe auf Südkurdistan nie ohne Einverständnis oder Koordinierung mit der NATO geführt. Das ist ganz klar. Sowohl Besatzungsversuche als auch Luftangriffe finden in diesem Rahmen statt. Die Türkei handelt nicht unabhängig, sondern weiß die NATO hinter sich. Spätestens seit 1985 führt die Türkei einen NATO-Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Das haben wir zuletzt in Efrîn gesehen.