Im seit April 2021 andauernden Kobanê-Prozess der türkischen Justiz gegen insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Freiheitsbewegung wurden gestern 36 Urteile gesprochen. Den Angeklagten werden terroristische Straftaten und Mord in Dutzenden Fällen im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 vorgeworfen. Politische Beobachter sprechen hingegen von einem Rachefeldzug der türkischen Regierung gegen Politiker:innen der HDP. So wurden unter anderem die ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, zu 40 Jahren bzw. 32 Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.
Auslöser des Verfahrens war ein während einer Krisensitzung verfasster Beitrag des HDP-Vorstands auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, in dem neben der Solidarität den Bewohner:innen der nordsyrischen Stadt Kobanê, das zu dem Zeitpunkt von der Terrormiliz “Islamischer Staat” (IS) eingekesselt und bedroht war, auch ein Aufruf zu unbefristeten Protesten gegen die türkische Regierung, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendet habe.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte wertet Aufruf als politische Rede
Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme aber keine Beweise vor. Im Dezember 2022 stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP. Die Türkei ignoriert dieses Urteil und auch alle anderen Entscheidungen des EGMR sowie des Ministerkomitees des Europarates im Zusammenhang mit den damaligen HDP-Abgeordneten.
Die bisherigen Urteile im Überblick
Gestern wurden nun Urteile gegen insgesamt 36 Angeklagte gesprochen. 24 von ihnen wurden zu Haftstrafen verurteilt und alle vom Mordvorwurf freigesprochen. Gegen die übrigen Angeklagten wurde das Verfahren abgetrennt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Während der Urteilsverkündung verließ die Verteidigung aus Protest den Gerichtssaal.
Die Urteile sehen wie folgt aus:
Ahmet Türk: Zehn Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; befindet sich auf freiem Fuß
Ali Ürküt: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ wurde zunächst auf 16 Jahre und anschließend auf 13 Jahre und vier Monate reduziert; bleibt im Gefängnis
Alp Altınörs: 18 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis
Altan Tan: Freispruch nach CMK 223
Ayhan Bilgen: Freispruch in allen Anklagepunkten
Ayla Akat Ata: Neun Jahre und neun Monate Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; U-Haft wird angerechnet bzw. Aussetzung der Reststrafe, kommt frei
Aynur Aşan: Neun Jahre Haft Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; bleibt wegen „Fluchtgefahr“ im Gefängnis
Aysel Tuğluk: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; ist wegen Demenz-Erkrankung seit 2022 auf freiem Fuß
Ayşe Yağcı: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Aussetzung der Reststrafe
Beyza Üstün: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; Aufhebung der Meldeauflagen
Bircan Yorulmaz: Freispruch in allen Anklagepunkten
Bülent Parmaksız: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“, bleibt im Gefängnis
Can Memiş: Freispruch in allen Anklagepunkten
Dilek Yağlı: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis
Emine Ayna: Zehn Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; befindet sich auf freiem Fuß
Figen Yüksekdağ: 32 Jahre und neun Monate Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“, „Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“, Terrorpropaganda; bleibt im Gefängnis
Gülfer Akkaya: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; Aufhebung der Meldeauflagen
Gülser Yıldırım: Freispruch in allen Anklagepunkten
Gültan Kışanak: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“, acht Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, Strafmaßerhöhung auf insgesamt zwölf Jahre; wird entlassen
Günay Kubilay: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“
İsmail Şengül: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; bleibt im Gefängnis
Meryem Adıbelli: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Haftentlassung angeordnet
Mesut Bağcık: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Aufhebung der Meldeauflagen angeordnet
Nazmi Gür: Erschwerte lebenslange Haft wurde auf 18 Jahre reduziert; viereinhalb Jahre Haft wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis
Pervin Oduncu: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ wurde auf 18 Jahre reduziert; bleibt im Gefängnis
Sebahat Tuncel: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“, acht Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, Strafmaßerhöhung auf insgesamt zwölf Jahre; wird entlassen
Selahattin Demirtaş: 20 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“, viereinhalb Jahre Haft wegen „Straftaten gegen den öffentlichen Frieden“, zweieinhalb Jahre Haft wegen „Öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ im Zusammenhang mit einer Rede an Newroz 2016, sowie vier weitere Jahre wegen „Terrorpropaganda“ in sieben Fällen. Die Gesamtstrafe gegen den früheren HDP-Vorsitzenden beläuft sich auf 42 Jahre Haft. Er bleibt im Gefängnis.
Sibel Akdeniz: Freispruch in allen Anklagepunkten
Sırrı Süreyya Önder: Freispruch in allen Anklagepunkten
Zeki Çelik: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; wurde auf 18 Jahre reduziert, sowie viereinhalb Jahre für „Provokation zur Begehung einer Straftat“; wird per Haftbefehl gesucht
Zeynep Karaman: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; wurde auf 18 Jahre reduziert, sowie viereinhalb Jahre für „Provokation zur Begehung einer Straftat“
Zeynep Ölbeci: Zwölf Jahre und neun Monate Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; bleibt im Gefängnis