Maxime Azadi, Journalist, 12.12.2016
Nach der Ermordung der drei kurdischen Revolutionärinnen in Paris sind jetzt genau vier Jahre vergangen. Nun soll nach vier Jahren der Prozess beginnen.
Nach Angaben von Personen, die mit dem Fall vertraut sind, soll der Prozess am 23. Januar im Pariser Strafgericht beginnen und voraussichtlich fünf Wochen dauern. Sakine Cansiz, Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), Fidan Dogan, Mitglied des Kurdistan Nationalkongresses (KNK) und Leyla Şaylemez, Mitglied der Kurdischen Jugendbewegung, wurden am 9. Januar 2013 in den Räumen des Kurdistan Informationszentrum (CIK – Centre d‘Information du Kurdistan) Nähe Gare du Nord, mitten in Paris, am helllichten Tag durch Kopfschüsse ermordet. Der mutmaßliche Mörder Ömer Güney wurde noch im selben Monat festgenommen und später verhaftet. Seitdem sitzt er im Pariser Gefängnis „Fresnes“.
Die zuständige Richterin Jeanne Duyé beschuldigt ihn, “durch individuelle und kollektive Planung Mord begangen und auf diese Weise mittels Terror die öffentliche Ordnung schwerwiegend beeinträchtigt zu haben”. Am 28. April 2014 wurde zusätzlich eine Klage eröffnet und 10 Monate Haft gefordert, weil er versucht hat, an Waffen und Sprengstoff zu gelangen, um seine Flucht aus dem Gefängnis zu organisieren.
Mordpläne des türkischen Geheimdienstes MIT
Aber wie und unter welchen Umständen wurden die Morde vollzogen? Es gibt ausreichend Fakten über das Profil des Mörders, sowie über das Profil der ermordeten Revolutionärinnen als auch ihrer möglichen Ziele. So wurde in der Akte aufgenommen, dass der mutmaßliche Mörder in Beziehung zum türkischen Geheimdienst steht und von ihm die Anweisung für die Morde erhalten habe. Der mutmaßliche Mörder Ömer Güney wurde 1982 in Sivas – Şarkışla geboren und lebte in Frankreich. Er heiratete 2003 eine Frau, die in Deutschland lebte und zog ebenfalls nach Süddeutschland. Die Ehe hielt sieben Jahre. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte darüber, dass Ömer Güney oder irgendjemand anderer aus seiner Familie die kleinste Sympathie für die Kurden pflegten. Der mutmaßliche Mörder bewegte sich vielmehr in türkisch-nationalistischen Kreisen und kehrte Ende 2011 spontan nach Frankreich zurück. Nur kurze Zeit später ging er in den kurdischen Verein in Villiers-le-Bel und beantragte eine Mitgliedschaft. Weil er Führerschein besaß und französisch sprach, setzt er diese „Fähigkeiten“ bewusst ein und begann für den Verein das eine oder das andere zu erledigen. Mit seiner ruhigen, gelassenen und „hilfsbereiten“ Art gelingt es ihm schnell Vertrauen zu gewinnen und sich in die Strukturen einzuschleusen. Die Ermittlungen zeigen, dass er, parallel zu seinen Tätigkeiten im Verein, beginnt mit unterschiedlichen Handynummern mit seinen Ansprechpersonen innerhalb des türkischen Geheimdienstes verschlüsselt zu kommunizieren.
Seine Situation hätte schon früher im Dezember 2012 während einer Jugendversammlung in Holland auffliegen können. Am 3. Dezember 2012 wird eine Kurdische Jugendversammlung in den Niederlanden von der holländischen Polizei gestürmt und alle 50 TeilnehmerInnen vorübergehend festgenommen. Auch Ömer ist anwesend, weil er die Jugendlichen aus Paris mit dem Auto gefahren hat. Obwohl alle Teilnehmer der Versammlung ihre Telefone abgeben, stellt die Polizei bei der Razzia bei Ömer ein Telefon mit einer türkischen SIM Karte sicher. Die Untersuchungen nach dem Mord ergeben, dass diese SIM Karte während der Jugendversammlung aktiv war und von dieser Telefonkarte Telefonate in die Türkei vollzogen wurden.
Während die Untersuchungen anhielten, tauchte 2014 ein Dokument auf, das die Unterschriften von folgenden Personen des türkischen Geheimdienstes beinhaltet: Der Leiter der Zweigstelle O. Yüret, Abteilungsteiler U.K Ayik, stellvertretender Vorsitzender der Zweigstelle S. Asil sowie der Vorsitzende H. Özcan. Die Anweisung in diesem Geheimdokument, datiert auf den 18. November 2012, ist eindeutig. Darin heißt es:
„Die Quelle hat die Möglichkeit erlangt, die europaweiten Aktivitäten, Kommunikationskanäle, Korrespondenzen und Übernachtungsorte von Sakine Cansiz, Codename Sara, in Erfahrung zu bringen. Dadurch kann die Quelle auch für eine operative Planung zur Neutralisierung des Zielobjekts eingesetzt werden.
Mit Rücksichtnahme auf die Quelle und die Sicherheit seiner Aktivitäten soll im Rahmen der chiffrierten Äußerungen, die zuvor von Legionär (Codename eines MIT-Agenten) gemacht wurden, die Planung für den Befehl einer Aktion gegen Sakine Cansiz aufgenommen werden.“
Fluchtpläne aus dem Gefängnis und der Weg zum Türkischen Geheimdienst (MIT)
Als diese Dokumente öffentlich wurden, schmiedete der von MIT als Quelle bezeichnete mutmaßliche Mörder Ömer Güney im Gefängnis von Paris Fluchtpläne. Der Besuch seines „Freundes“ namens Ruhi Semen im Gefängnis (Ruhi Semen lebt ebenfalls in Süddeutschland) wurde geheim aufgezeichnet. In dem Gespräch fordert Ömer Güney Ruhi Senem auf, seine „Anne“ (die Mutter) zu besuchen und „Bey“ etwas zu übermitteln. Die genannte Adresse von „Anne“ stellt sich als die Zentrale des Geheimdienstes in Ankara heraus. Das Gespräch wird ebenfalls chiffriert.
Die Ermittler haben am 27. Januar 2014 Ruhi Semen in Deutschland verhört. Während des Verhörs verteidigt sich Semen, indem er sagt, dass seine Absicht nur darin bestand, seinen Freund zu besuchen. Aber dort angekommen, verlangte Ömer andere Sachen von ihm. Er gesteht, dass in dem Gespräch chiffrierte Wörter eingesetzt wurden, dass mit „Anne“ der MIT und mit „Bey“ ein MIT-Agent gemeint war. Diese Informationen sind ebenfalls in der Untersuchungsakte.
Die Fakten zum Mord
Morgens am 9. Januar bringt Ömer Güney Sakine Cansiz, nachdem er zuvor mit ihr zur Post gefahren war, zum Kurdistan Informationszentrum (CIK). In den Vereinsräumen waren Fidan Doğan und Leyla Şaylemez. Cansiz und Şaylemez hatten sich dort verabredet, weil sie gemeinsam gegen 13:30 mit einem PKW nach Deutschland fahren wollten. Ömer Güney ermordete in den Räumen des Kurdistan Informationszentrum alle drei Frauen. Er geht davon aus, keine Spuren hinterlassen zu haben. In seiner ersten Aussage gibt er an, Sakine Cansiz zum Kurdistan Informationszentrum gebracht zu haben und später weggefahren zu sein. Er gibt an, nur einmal da gewesen zu sein. Aber die Kameraaufnahmen, die später ausgewertet wurden, zeigen, dass Ömer lügt. Denn auf den Aufnahmen verlässt Ömer zum zweiten und letzen Mal um 12:56 das Büro und somit ist er der Letzte, der die drei Frauen lebendig gesehen hat. Nachdem er das erste Mal das Büro verlässt, geht er zum Auto und kommt mit einer Tasche/Koffer zurück. Den Autopsieberichten zur Folge wurden die Morde gegen 12:30 verübt. Den Untersuchungen zur Folge wurde als erstes Sakine Cansiz durch drei Kopfschüsse ermordet, als zweites wird Fidan Dogan im Gesicht getroffen, die nächste Kugel trifft Leyla am Kopf. Später schießt der Mörder sowohl Fidan als auch Leyla jeweils weitere zwei Kugeln in den Kopf. Die letzte 10. Kugel drückt der Mörder Fidan in den Mund. Als Ömer das Gebäude verlässt, hat er eine Kapuze auf, obwohl es nicht regnet. Bei den Untersuchungen in den Vereinsräumen stellt sich heraus, dass alle Computer mit „Spionageprogrammen“ kontrolliert wurden und alle Inhalte an eine andere Adresse kopiert wurden. Auch bei der Untersuchung der Tasche und Kleidung von Ömer Güney stoßen die Ermittler auf Beweise und der DNA-Test bestätigt diese Annahme. Die Dokumente, Telefonaufzeichnungen und Verbindungen zeigen, dass diese Morde im Auftrage eines Staates vollzogen wurden.
Dieser Prozess ist ein Test für Europa
Wie bereits gesagt, wird der Prozess voraussichtlich am 23. Januar eröffnet werden, also in einer Zeit, in der der Faschismus in der Türkei sich immer mehr institutionalisiert und türkische Agenten neue Mordpläne in Europa schmieden. Es wird vermutet, dass allein in Deutschland tausende Agenten für den türkischen Geheimdienst Spionagetätigkeit ausüben. Der Pariser Prozess wird als ein Test für die europäischen Regierungen angesehen. Der türkische Staat benutzt seit 1980 viele europäische Länder wie Frankreich als Operationsgebiete. Die Kriminalisationspolitik europäischer Länder sowie die Interessensbeziehungen zum türkischen Staat versetzen auch Europa in große Verantwortung im Hinblick auf das Vorgehen der Türkei gegen die Kurden sowohl in der Türkei/Kurdistan als auch in Europa.
Lassen wir Staatsverbrechen nicht straffrei durchgehen!
Prozessbeginn gegen Ömer G., angeklagt wegen Mordes an Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez am 9. Januar 2013 in Paris
Aufruf zur Prozessbeoachtung, Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. – Cenî
Am 9. Januar 2013 wurden die kurdischen Politikerinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in der französischen Hauptstaat Paris im Auftrage des türkischen Geheimdienstes MIT ermordet. Damit stieg die Zahl derjenigen, die in Paris aufgrund ihrer politischen Einstellung und Betätigung überwiegend im Auftrag eines Staates ermordet wurden, auf 25 an.
Ziel und Botschaft dieser Morde sind meist gleich: Einschüchterung politisch aktiver Menschen, Vereitelung von Friedens- und Demokratisierungsprozessen, Zerstörung von Hoffnungen auf Freiheit und Selbstbestimmung.
Gleich ist auch die fehlende Aufklärung der Morde bzw. die fehlende Verurteilung der Täter und ihrer Auftraggeber. Staatliche Verbrechen bleiben meist straffrei. Keine der Mörder der getöteten libanesischen, tunesischen, palästinensischen und tamilischen PolitikerInnen wurde gefasst u/o verurteilt, ihre Fälle wurden rasch ad acta gelegt.
Im Fall der drei kurdischen Politikerinnen konnten die umfangreichen Anstrengungen und weltweiten Proteste der Kurdinnen und Kurden diesen Werdegang stoppen. Jahr für Jahr strömten zehntausende Menschen am Todestag nach Paris, Woche für Woche versammelten sich Kurden vor den französischen Botschaften in Europa: für die Aufklärung der Morde, die Verurteilung des Täters und die Dechiffrierung der Auftraggeber.
So wurde der mutmaßliche Täter Ömer Güney am 17.03.13, nicht zuletzt durch die Bemühungen vor allem der kurdischen Community, festgenommen. Die Untersuchungen zu dem Fall haben drei Jahre gedauert und waren begleitet von zahlreichen Zwischenfällen, die nahelegen, dass auch diese Morde ungeklärt bleiben sollten. So wurde bei einem Einbruch in das Haus der zuständigen Richterin der Computer mit entsprechenden Unterlagen zum Fall gestohlen. Auch ein Fluchtversuch des mutmaßlichen Mörders mit externer Hilfestellung generiert Zweifel. Die Verbindung Ömer Güneys zum türkischen Geheimdienst MIT ist den Akten zu entnehmen.
Die Untersuchungen sind nun abgeschlossen und die Prozessführung in Paris ist für den Zeitraum 23.01-02.03.2017 angesetzt.
Wir, das kurdische Frauenbüro für Frieden – Ceni e.V., rufen für diesen Zeitraum zur Prozessbeobachtung auf:Lasst uns unsere Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit in Paris vereinen und unüberhörbar machen. Der Ausgang dieses Prozesses wird nicht nur für den konkreten Fall von Bedeutung sein, sondern auch für alle vorherigen politischen Morde, die auf Aufklärung warten, sowie für bevorstehende.
Lasst uns unsere Kraft vereinen und uns gegen den Machtmissbrauch von Staaten, die bis zu Mord und Verbrechen gehen können, stellen und der Straflosigkeit von Staaten ein Ende setzen.
Lasst uns auf diese Weise die Verteidigung für das Recht auf Leben jedes Menschen gegen staatliche Angriffe übernehmen und die Stimme für Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit erheben.
Lasst uns den Gerichtsaal bei jedem Verhandlungstag füllen und auf diese Weise zeigen, wir haben Sakine, Fidan und Leyla nicht vergessen und das Verbrechen nicht vergeben. Lasst uns die Richter spüren, dass wir den Prozess sehr aufmerksam verfolgen.
In diesem Sinne erneuern wir unseren Appell an alle Frauen, für die Werte wie Frieden, Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit unverzichtbar sind, sich am 8. Februar und 15. Februar 2017 als Prozessbeobachterinnen, mit der Forderung nach „Aufklärung und Gerechtigkeit“ zu beteiligen.
Anmeldungen für eine Prozessbeobachtung erbitten wir zwecks Koordination und Absprachen bis zum 15 Januar 2017 über ceni_frauen@gmx.de, die genauere Planung, wie beispielsweise Anreise, Übernachtung und DolmetscherInnnen, werden wir anschließend zusammen besprechen.