Über das Leben in Jinwar, das Dorf der freien Frauen; für den Kurdistan Report Mai/Juni 2018
Es ist Frühling geworden in Jinwar, die Felder in sattem Grün, die Blätter der Obstbäume leuchten in der Sonne und auf den Feldern, zwischen dem Getreide, eine Vielzahl kleiner gelber Blumen, die sich wie ein Teppich über die Landschaft zu legen scheinen. Mehr als ein Jahr ist es nun her, dass die Bauarbeiten für das Frauendorf in Rojava/Nordsyrien begonnen haben, und steht man heute auf dem runden Platz in der Mitte des Dorfes und schaut sich um, so wundert man sich, wie viel doch innerhalb eines Jahres entstehen kann.
Das Dorf-Aufbaukomitee hatte sich vor einiger Zeit mit dem Ziel gegründet, ein ökologisches Dorf aufzubauen, in dem Frauen gemeinschaftlich und selbstbestimmt leben können. Von Beginn an sind Frauen aus verschiedenen Frauengruppen, Initiativen und Organisationen darin vertreten gewesen – Kongreya Star, der Stiftung der Freien Frauen Rojava (WJAR), des Jineolojî Komitees, der Organisation der Familien Gefallener, des Komitees für natürliche Medizin, andere interessierte Frauen und Internationalistinnen. Einige Monate des Diskutierens und Planens vergingen, bis sich dann am 25. November 2016 (dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen) das Komitee, einige Nachbarn und Gäste an Ort und Stelle versammelten, um den Bau des Dorfes zu verkünden und die ersten Bäume zu pflanzen. Am 10. März 2017 wurden dann die Grundsteine für die Fundamente der ersten Häuser gelegt und so wurde mit dem eigentlichen Aufbau des Dorfes begonnen.
Mittlerweile ist es wieder Frühling geworden, das Dorf ist gewachsen, vieles hat sich verändert und 21 Häuser wurden gebaut. Momentan besteht das Dorfkomitee vor Ort aus acht Frauen, die täglich im Dorf sind, gemeinsam leben, arbeiten und den Aufbau koordinieren. Einige wenige Frauen sind Tag und Nacht dort, während andere bei ihren Familien in den umliegenden Dörfern und in der Stadt leben, tagsüber im Frauendorf sind und abends zu ihren Familien zurückkehren. In diesen Tagen gibt es viel zu tun und die Frauen arbeiten die meiste Zeit des Tages gemeinsam draußen, oftmals unterstützt von Frauen aus den umliegenden Dörfern.
Ein Ort mit einer besonderen Atmosphäre
Die Häuser sind allesamt mit viel Mühe aus selbst hergestellten Kerpiç (Lehmziegeln) gebaut. Eine Bauweise, die traditionell für die Region ist. Die Baumaterialien sind ökologisch und stammen überwiegend aus der direkten Umgebung des Dorfes. Den ganzen Frühling und Sommer über hatte eine Vielzahl von Frauen und Unterstützer*innen die Ziegel aus Erde, Stroh und Wasser hergestellt und die Häuser aufgebaut. Zudem waren Gruppen aus verschiedenen Städten und Regionen Rojavas tageweise vorbeigekommen, um mit eigenen Händen den Aufbau zu unterstützen. Auch Männer aus den umliegenden Dörfern kommen, um bei den Bauarbeiten zu helfen, und es ist den unermüdlichen Kämpfen der Frauen in Rojava und Nordsyrien zu verdanken, dass hier nun auch Männer mit einem autonomen Frauen-Dorfkomitee für den Aufbau eines Frauendorfes arbeiten und dies mit einer (im Hinblick auf die Resistenz des Patriarchats) bemerkenswerten Offenheit und Selbstverständlichkeit tun.
Natürlich gibt es insgesamt auch immer wieder Skepsis gegenüber dem Dorf – es ist etwas Neues und niemand kann sich so recht ausmalen, wie das Leben hier denn tatsächlich einmal werden wird. Wenn Menschen dann aber ins Dorf kommen, bei den Arbeiten helfen oder mit den Frauen aus dem Komitee sprechen, finden viele sowohl die Idee als auch die Atmosphäre im Dorf so gut und besonders, dass sie öfter vorbeikommen und das Projekt unterstützen.
Neben den 21 Wohnhäusern ist seit ein paar Wochen auch die große Gemeinschaftsküche fertig geworden und gleich daneben eine mit Steinen gepflasterte Terrasse. Ein Raum für kleine Versammlungen ist fertig und auch der Dorfplatz ist schöner geworden. Die Mitte des Platzes bildet ein Wasserbrunnen in Sternform, der mit bunten Steinen und Tonscherben verziert ist und auf das Symbol der mesopotamischen Göttin Ischtar verweist. Drumherum haben die Frauen Bäume gepflanzt und es gibt viel Platz zum Zusammensitzen. Auch der Garten wächst und gedeiht. Alles ist grün in diesen Tagen und beinahe täglich gibt es etwas im Garten zu tun. Neben der Vielzahl von Aprikosen-, Granatapfel- und Olivenbäumen haben die Frauen auch einen Gemüsegarten angelegt, in dem sie Paprika, Auberginen, Gurken, Salat, Zwiebeln, Knoblauch und anderes Gemüse anpflanzen. Gleich neben dem Garten haben einige Frauen einen Tenur-Ofen gebaut, einen traditionellen Lehmofen, an dessen Innenwänden Brot in runden Fladen gebacken wird. Außerdem hat Jinwar nun eine eigene kleine Steinofen-Bäckerei, die bald zum ersten Mal eingeheizt werden kann. Sowohl der Garten als auch die Bäckerei sollen Basis für die Selbstversorgung des Dorfes und somit Grundpfeiler einer kommunalen Ökonomie werden. In der Bäckerei soll Brot sowohl für Jinwar als auch für umliegende Dörfer gebacken werden, denn die meisten Dörfer haben keine eigenen Brotöfen mehr und viele Menschen beziehen ihr Brot aus der Stadt. Die Idee ist, dass täglich Frauengruppen aus verschiedenen Dörfern kommen, um beim Backen zu helfen und auf diese Weise Arbeit und Brot geteilt werden. Das gemeinsame Arbeiten und kommunale Wirtschaften stellt ein wichtiges Element des Dorfes dar, in dem Frauen in allen Bereichen des Lebens Alternativen aufbauen können.
Ein Ort der vielen Geschichten und der kleinen und großen schrittweisen Veränderungen
Bis all das wirklich so richtig ins Rollen kommt, wird es allerdings noch ein paar Monate dauern. Nun sollen erst einmal die übrigen neun Wohnhäuser gebaut werden, außerdem die Schule, die Akademie und das Gesundheitszentrum. Vor ein paar Tagen haben die Frauen aus dem Komitee den Grundriss für das Fundament der Akademie vorbereitet und sobald es noch ein wenig wärmer geworden ist und die Zeit für die Kerpiç wieder beginnt, kann es mit dem Bau losgehen. In der Akademie soll Bildung zu verschiedenen Bereichen der Jineolojî organisiert werden. Theorie und Praxis sollen zusammengehen und mit dem Leben und Arbeiten im Dorf verbunden sein. In der Akademie können die Frauen zusammenkommen, lernen, Wissen austauschen. Bisher ist insbesondere Bildung zu ökologischer Landwirtschaft und Gärtnerei, Gesundheit, Geschichte, Demographie, Pädagogik und Grundlagen des freien Zusammenlebens geplant. Auch über Bildung und Seminare für Männer zu den Grundlagen der Frauenbefreiung haben die Frauen im Komitee schon nachgedacht.
Bis die ersten Frauen einziehen können, wird es nur noch ein paar wenige Wochen dauern. Eine der Frauen, die bald einziehen wird, ist Dicle. Sie kommt aus Serê Kaniyê (Ras al-Ayn), ist 25 und hat drei Kinder, die fern von ihr bei der Familie ihres Mannes im Irak leben. Ihre Familien hatten die Hochzeit früh arrangiert, Dicle wurde immer wieder von ihrem Mann geschlagen und hat eine schwere Zeit hinter sich. Einige Jahre lang hatten die beiden mit den neugeborenen Kindern in Damaskus gelebt, bis der Krieg anfing. Auf Drängen ihres Mannes waren sie nach Başûr (Südkurdistan) geflohen, wo ihr Mann sie schließlich mit einer anderen Frau betrogen hatte. Dicle ist daraufhin nach Rojava und in das Haus ihrer Mutter zurückgekehrt, was trotz der Schwierigkeiten eine große Erleichterung für sie war. Allerdings hatte die Familie ihres Mannes nicht erlaubt, dass sie die Kinder bei sich behält. Als sie von der Idee des Frauendorfes hörte, war sie sofort begeistert, wurde Teil des Komitees und hat sich schnell dazu entschieden, auch selbst ins Dorf zu ziehen. Im Moment bereiten die Frauen zusammen Dicles Haus vor und alle hoffen, dass auch ihre Kinder eines Tages hier einziehen können. Jinwar ist schon jetzt ein Ort der vielen Geschichten und der kleinen und großen schrittweisen Veränderungen.
In Zeiten wie diesen kann Jinwar ein Zeichen setzen – für eine Form des Widerstandes, die mit einer tiefen Veränderung und Befreiung der Gesellschaft einhergeht, die langfristig ist und von Frauen getragen wird. Es ist der Aufbau lebendiger gesellschaftlicher Alternativen, kommunaler und ethischer Lebensweisen, die Menschen zur Selbstbestimmung befähigen und eine tatsächliche Alternative zu einem sich durch Machtstrukturen und Kriege immer wieder selbst reproduzierenden, zerstörerischen kapitalistisch-patriarchalen System darstellen. »Eine Blume können sie ausreißen, aber den Frühling können sie nicht aufhalten«, ist ein schöner und treffender Spruch. Jinwar und die vielen Projekte von Frauen in Rojava/Nordsyrien, sowie überall auf der Welt, sind Teil dieses Frühlings und wir werden nicht aufzuhalten sein.