Vorwurf der Kindesentführungen gegen die PKK vor dem Hintergrund des stockenden Lösungsprozesses

erdogan_polisEine Bewertung von Civaka Azad, 13.06.2014

Die Meldung von der Verschleppung von über 200 Mädchen in Nigeria durch die islamistische Sekte Boko Haram versetzte die Weltöffentlichkeit in Aufschrei. Zwar konnten einige wenige Mädchen sich aus den Händen der Islamisten befreien, doch die Situation der allermeisten Mädchen ist weiterhin unklar. Die Wut und Trauer über solch eine menschenverachtende Entführung ist auf der gesamten Welt groß.

Auch in den türkischen Medien war die Entführung von Boko Haram ein Thema. Das nahmen wohl in den Reihen der türkischen Regierung einige Herrschaften zum Anlass, sich darüber Gedanken zu machen, wie man aus dieser weltweiten Welle der Empörung für die eigenen politischen Zwecke Profit schlagen kann. Die Formel, die sich aus diesen Überlegungen ergeben hat, ist sichtlich einfach: Man erschafft ein Szenario, das gewisse Parallelen zu dem Fall in Nigeria aufweist und setzt dieses Szenario über die eigenen Medien ins Licht der Öffentlichkeit. Und schon kann ein Kolumnist wie Fehmi Koru in der AKP-nahen Tageszeitung Star titeln „Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen der PKK und Boko Haram?“ ((http://haber.stargazete.com/yazar/boko-haram-ile-pkknin-farki-var-mi/yazi-889646)). Doch schauen wir uns das ganze Mal genauer an.

Seit mehreren Wochen protestieren in Amed (Diyarbakir) knapp 40 Familien vor dem Gebäude der Stadtverwaltung. Die Forderung der meisten TeilnehmerInnen des Protestes ist, dass ihre Kinder, die sich in der jüngeren Vergangenheit der PKK angeschlossen haben, zu ihnen zurückkehren sollen. Auf die Forderungen der Familienangehörigen kommen wir später noch zurück. Interessant ist zunächst einmal, in welches Licht die AKP-Regierung diesen Protest setzt. Die Regierungsvertreter erklären nämlich, dass die PKK Minderjährige entführt habe und deshalb die Menschen in Amed protestieren würden. Unlängst hat sich der türkische Ministerpräsident höchstpersönlich zum Schützer dieser vermeintlich entführten Kinder stilisiert. „Ey HDP, ey BDP. Wo seid ihr? Ihr wisst, dass diese Kinder Geiseln sind. Wenn ihr nicht geht und sie zurückbringt, werden wir unseren B- und C-Plan ins Leben rufen“, erklärte Erdoğan Ende Mai in der Gruppensitzung seiner Fraktion ((http://www.aa.com.tr/tr/haberler/335469–saldirilari-bertaraf-ettik)). Um was es sich bei diesen B- und C-Plan handelt, blieb offen. Die Drohung war dennoch unverkennbar.

Aussagen wie diese verdeutlichen, wie sehr die türkische Regierung derzeit den vermeintlich „Lösungsprozess“ in der kurdischen Frage an den Abgrund führt. Vielleicht greift Erdoğan auch gerade deshalb zu solch einem aggressiven Ton, um ihre Untätigkeit in dem Prozess zu übertünchen. Während der Unmut in der kurdischen Bevölkerung gegenüber der Haltung der AKP wächst, agieren nun die Verantwortlichen in Ankara wohl mit der Taktik „Angriff ist die beste Verteidigung“. Dass das Entführungsszenario dabei nur eine schlechte Kopie des Falls von Boko Haram ist, haben die vermeintlich Entführten selbst deutlich gemacht. So erklärten die beiden Geschwister Fatma und Merve Ekici, dass sie von niemandem irgendwohin entführt worden sind. „Wir haben uns der Bewegung angeschlossen, um unserer Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft gerecht zu werden“, erklären sie in einer Videobotschaft ((http://www.kurdistan24.org/2014/06/diyarbakirda-eylem-yapan-annelere-cocuklarindan-mesaj-var/)).

Ein wenig absurd erscheint es schon, dass gerade Erdoğan sich zum Anwalt der Familien und zum Schützer der vermeintlich entführten Kinder erklärt. Denn ebenfalls Ende Mai erklärte derselbe Ministerpräsident zum Jahrestag des infolge der Gezi-Proteste von türkischen Sicherheitskräften ermordeten 15-jährigen Berkin Elvan, dass er nicht verstehen könne, weshalb die Menschen dies um Anlass nehmen, um erneut auf die Straße gehen. „Sollen wir bei jedem, der stirbt eine Zeremonie veranstalten. Er ist tot und die Sache ist vorbei“, so Erdoğan ((http://www.radikal.com.tr/turkiye/erdogan_hic_kaza_olmaz_anlayisi_yanlis-1193513)). Bei den Protesten zum Todestag von Berkin wurde dann erneut ein Mensch von der türkischen Polizei ermordet. Und die Mörder des Jungen wurden bislang auch nicht zur Rechenschaft gezogen.

Dass der Fall von Berkin kein Einzelfall ist, dokumentiert der Menschenrechtsverein IHD. Demnach wurden allein im Zeitraum des ersten Regierungsantritts der AKP im Jahr 2002 und November 2012 183 Kinder ermordet. Gerade in den kurdischen Gebieten sind die Täter nicht selten türkische Sicherheitskräfte. So wurde beispielsweise im November 2004 der erst 12-jährige Uğur Kaymaz gemeinsam mit seinem Vater in der Region Qoser (Kiziltepe) ohne Vorwarnung mit 13 Kugeln erschossen. Zunächst erklärte das Militär, dass es sich bei den Toten um „Terroristen“ handele, was die Medien bereitwillig aufgriffen. Erst später wurde eingestanden, dass es sich um zwei zivile Opfer handelt. Ein weiteres Beispiel ist der Fall von der damals ebenfalls 12-jährigen Ceylan Önkol, die Ende September 2009 in der Region Pîran (Lice) durch einen Granatwerfer ermordet worden ist. Auch dieser Fall blieb ohne Konsequenzen für die Täter. Und als letztes Beispiel seien die vier Minderjährigen unter den insgesamt 13 von türkischen Sicherheitskräften ermordeten Menschen genannt, die während der Volksaufstände 2006 in Amed und Qoser ums Leben kamen. Drei der vier ermordeten Minderjährigen waren sieben, acht und neun Jahre alt ((Einer der ermordeten Kinder war der siebenjährige Enes Ata; in einem Artikel aus der Süddeutschen Zeitung heißt es, dass es sich bei der Tatwaffe um eine G3 der deutschen Waffenfirma Heckler & Koch gehandelt hat)) . Auch damals hatte der türkische Ministerpräsident ähnliche Aussagen getroffen, wie wir sie auch bei den Gezi-Protesten im vergangenen Jahr oft zu hören bekamen. Er hat nämlich öffentlich seinen Sicherheitskräften deutlich gemacht, dass sie das Nötige gegen die Demonstranten zu verrichten hätten, auch wenn es sich dabei um Frauen und Kinder handele. Nicht in der Dokumentation aufgelistet, aber dennoch erwähnenswert, wenn es um den Umgang der türkischen Regierung insbesondere mit kurdischen Kindern geht, ist der Skandal im Pozanti-Gefängnis von Mitte 2012. In der Jugendvollzugsanstalt wurden kurdische Jugendliche, die vorwiegend infolge von Protesten festgenommen wurden, systematisch von ihren Mithäftlingen unter der Mitwissenschaft der Wärter und der Gefängnisleitung vergewaltigt. Erst als der Skandal auch international für Aufsehen sorgte, wurde das Gefängnis geschlossen, doch auch in der Folgezeit ereigneten sich ähnliche Vorfälle in Jugendvollzugsanstalten. Und nach Angeben des türkischen Justizministeriums befanden sich im November 2012 1.943 Kinder und Minderjährige aufgrund des Vorwurfs „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“  in türkischen Gefängnissen. ((https://www.civaka-azad.org/wp-content/uploads/2012/12/Menschenrechtsverletzungen.pdf)). Die aktuelle Zahl der inhaftierten Minderjährige dürfte von jener Zahl nicht sonderlich abweichen.

Was die Mörder der genannten Kinder angeht, sie führen unbehelligt ihr Leben fort und verrichten ihren Dienst – ohne Konsequenzen zu fürchten – für den türkischen Staat. Während die türkische Regierung nun rein gar nichts gegen die Mörder aus dem Staatsdienst tut, erscheint es etwas lächerlich, wenn sie nun vorgibt, den Familienangehörigen, die derzeit in Amed protestieren, helfen zu wollen, damit sie wieder zu ihren Kindern gelangen.

Nun nochmal zurück zu den Familien in Amed. Die Forderung, dass der Sohn oder die Tochter. egal welchen Alters, heil zur Familie zurückkommt, ist wohl eine der natürlichsten Wünsche jeder Mutter, die ein Kind in den Bergen hat. Insofern ist auch der Inhalt des Protestes dieser Familien legitim. Nur der Adressat ist der Falsche. Denn solange der Konflikt in Kurdistan nicht mit politischen Mitteln gelöst wird, werden aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin junge Menschen in die Berge gehen, um Widerstand zu leisten. Zumal die türkische Regierung trotz vermeintlichen Lösungsprozesses in der kurdischen Frage den Menschen überhaupt keinen Raum für einen politischen Widerstand gibt. Allein die jüngsten Ereignisse in Pîran, bei denen Sicherheitskräfte zwei Demonstranten ermordeten, stellen die Haltung der AKP eindrucksvoll unter Beweis ((https://civaka-azad.org/tuerkischer-staat-ermordet-zwei-menschen-piran/)) . Und während die Ermordung der zwei Menschen bereits nach einem Tag kein Thema mehr in der Politik und den Medien der Türkei ist, wird seit mehreren Tagen eine erschreckende Debatte darüber geführt, warum ein Jugendlicher, der während der Proteste eine türkische Fahne von einem Mast abgehängt hat, denn nicht von den Sicherheitskräften erschossen worden sei. Gegen die Sicherheitskräfte wurden nun deshalb sogar Untersuchungen eingeleitet  ((http://www.radikal.com.tr/politika/erdogan_ve_ruhaniden_ortak_basin_toplantisi-1196347)).

Der Protest der Familien in Amed müsste sich gegen die AKP richten, denn wenn diese den gegenwärtigen Dialogprozess mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden endlich in Verhandlungen zur Lösung der Frage transformiert und die damit einhergehenden Schritte in Richtung einer Lösung tätigt, werden nicht nur die Kinder der in Amed protestierenden Menschen bald wieder bei ihren Familien sein, sondern alle Menschen, die sich der PKK angeschlossen haben, können wieder in ein ziviles Leben eingebunden werden. Doch die gegenwärtige Rhetorik und Praxis der türkischen Regierung deutet leider eher auf Eskalation als auf eine Lösung hin.

 

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