Anfang des Jahres kündigte die Demokratische Selbstverwaltung der Regionen Nord- und Ostsyriens (DAANES) Kommunalwahlen an. Doch der anstehende Wahltermin in der Region macht die Gegner*innen der Selbstverwaltung nervös. Wir möchten einen Blick auf die Hintergründe der anstehenden Wahlen werfen.
Die Wahlen sind ein entscheidender Schritt in der Volksrevolution, die in Nord- und Ostsyrien stattfindet. Sie folgen auf die Veröffentlichung des neuen Gesellschaftsvertrags im Dezember 2023. Der Gesellschaftsvertrag ist die De-facto-Verfassung der DAANES, die nach mehrjährigen Beratungen mit verschiedenen politischen Akteur*innen, Stammesversammlungen und Kommunalräte verfasst wurde. Er ist das Ergebnis eines langen Konsultationsprozesses, dessen Ziel es war, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag (der 2014 verkündet und 2016 überarbeitet wurde) nicht mehr dem geopolitischen und politischen Kontext entsprach. Damals bezog sich dieser Gesellschaftsvertrag in erster Linie auf die mehrheitlich kurdischen Gebiete. Eines der Ziele des neuen Gesellschaftsvertrages ist es daher, eine Antwort auf die neuen gesellschaftlichen Realitäten im nord- und ostsyrischen Gebiet mit seinen sieben Kantonen zu bieten.
Der Gesellschaftsvertrag enthält in seiner Präambel das Konzept der “Demokratischen Nation”, das auf die Schriften des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan zurückgeht und in dem das Recht “jeder ethnischen Gruppe, jeder religiösen Überzeugung, jeder Stadt und jeder lokalen, regionalen und nationalen Einheit (…) mit ihren eigenen föderalen und demokratischen Identitäten und Strukturen teilzunehmen” verteidigt wird (Abdullah Öcalan, Demokratische Nation, 2016).
Eine der Herausforderungen des neuen Gesellschaftsvertrags ist die Stärkung der Dezentralisierung der Selbstverwaltung. Auf diese Weise wird der kommunalen Ebene mehr Entscheidungskompetenz und Autonomie eingeräumt, was ein stärker basisorientiertes politisches System garantiert, auch in Gebieten, in denen die kommunalen Strukturen noch geschwächt sind. Dies ist vor allem in den arabisch geprägten Gebieten der Fall, die sich gegenwärtig noch von der Herrschaft des IS erholen.
Wahlen und die Zukunft Nord- und Ostsyriens
Die Wahlen sind sowohl intern als auch extern von großer Bedeutung. Intern wird eine hohe Wahlbeteiligung den Willen und das Vertrauen der Bevölkerung in das neue demokratische System widerspiegeln. Indem sie neue Wege für eine stärkere Beteiligung der Araber*innen am politischen System eröffnen, werden sie zeigen, dass die Menschen im Norden und Osten Syriens nach Jahrzehnten der Baath-Herrschaft, in denen die Strategie des “Teile und Herrsche” galt, in einem dezentralisierten System zusammenleben können, das alle bestehenden gesellschaftlichen Komponenten respektiert. Darüber hinaus sind sie eine von mehreren Möglichkeiten, einige der Probleme und Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu lösen, mit denen die Menschen in Nord- und Ostsyrien konfrontiert sind, indem die neu gewählten Vertreter*innen, die hauptsächlich für administrative Aufgaben zuständig sein werden, ihren Wähler*innen gegenüber rechenschaftspflichtig gemacht werden.
Nach außen würden Wahlen die DAANES weiter legitimieren. Wie wir noch sehen werden, haben Wahlen im politischen System Nord- und Ostsyriens zwar nicht die zentrale Bedeutung wie in repräsentativen Demokratien, sie bleiben aber für eine beträchtliche Anzahl staatlicher oder parastaatlicher Akteur*innen ein wichtiger Schritt zur Legitimierung politischer Strukturen. In einer Zeit, in der DAANES als zukünftiger Akteur*in in Syrien ständig um ein Mindestmaß an Repräsentation in internationalen Gremien kämpfen muss oder versucht, große Industriemaschinen oder andere Produkte, die normalerweise Staaten vorbehalten sind, auf dem internationalen Markt zu erwerben, könnte diese zusätzliche Legitimität bestimmte wirtschaftliche oder diplomatische Beziehungen erleichtern oder zumindest die Rechtfertigung für eine Verweigerung der Zusammenarbeit mit DAANES erschweren und so einen effektiveren Druck auf die verschiedenen internationalen Organisationen ermöglichen. Darüber hinaus würde der Druck auf die westlichen Staaten zunehmen, den türkischen Angriffen Einhalt zu gebieten.
Die Wahlen im politischen System Nord- und Ostsyriens
Um die Bedeutung der Wahlen zu verstehen, muss man das politische System verstehen, in dem sie stattfinden. Die Kommunen gelten als ein zentraler Baustein der demokratischen konföderalen Struktur, die im Norden und Osten Syriens aufgebaut wird. Der Demokratische Konföderalismus, ein von Abdullah Öcalan geprägtes System, basiert auf direkter Demokratie und lokalen Versammlungen, setzt auf Ökologie, die Zusammenarbeit aller ethnischen und religiösen Gruppen und eine Frauenbewegung, die als Avantgarde der Gesellschaft gilt. Sie vertritt ein dezentralisiertes Modell, in dem die Kommunen die wichtigsten Entscheidungsorgane im politischen Leben sind.
Seit Beginn der Revolution wurden zwei Wahlen abgehalten. Sie fanden 2015 und 2017 in den drei damals bestehenden Kantonen Efrîn, Cizîre und Firat statt. Während diese Wahlen die unteren Ebenen des kommunalen Systems betrafen, sollten 2018 allgemeine Wahlen für die höchste Ebene des föderalen Organs der neu gegründeten Autonomen Verwaltung Nord- und Ost-Syriens (AANES) stattfinden. Diese Wahlen wären die ersten gewesen, die nicht nur Rojava, sondern auch die kürzlich befreiten mehrheitlich arabischen Regionen Manbij, Raqqa und Tabqa (in Deir ez-Zor dauerte der Krieg noch an) einbezogen hätten. Nach der türkischen Invasion in Efrîn im Januar 2018 und der Zerstörung der dort aufgebauten demokratischen Strukturen wurden diese Wahlen jedoch aus Sicherheitsgründen nicht durchgeführt.
Die anstehenden Wahlen betreffen alle Gemeinden innerhalb der DAANES und dienen daher der Wahl von Vertreter*innen, ähnlich wie es in Nationalstaaten der Fall sein kann. Es gibt jedoch einen großen Unterschied: Die Arbeit dieser Vertreter*innen wird durch das Bottom-up-System der Gemeinden kontrolliert. Im Konfliktfall haben die Kommunen das letzte Wort. Im Allgemeinen können die höheren Verwaltungsebenen keine Entscheidungen treffen oder Projekte in einem bestimmten Stadtteil durchführen, ohne die Kommunen zu konsultieren.
Bei den Wahlen werden für die höheren Ebenen ein Rat und geschlechterparitätische Ko-Vorsitzende gewählt. Die beiden Ko-Vorsitzenden erleichtern die Arbeit und helfen bei der Umsetzung von Beschlüssen, können aber keine Beschlüsse ohne die Kommunen fassen. Sie vertreten also ihren Gemeinderat auf übergeordneter, kantonaler Ebene.
Die Verbindung des Kantonalrats und zu den Räten der Kommunen ist für das Funktionieren des politischen Systems unerlässlich. Es sind die Kantonalräte, die alle Beschlüsse und Wünsche der Kommunen an die Stadtverwaltungen weiterleiten können. Wenn die Kommunen gut organisiert sind, liegt der Entscheidungsprozess mehr in ihren Händen, und die kantonale Ebene beschränkt sich auf die Umsetzung dieser Entscheidungen und die Verwaltung des Tagesgeschäfts. Es besteht also eine Symbiose zwischen der kommunalen und der kantonalen Ebene. Je schwächer die Kommunen sind, desto wichtiger wird jedoch die Rolle der Kantone.
Zu den Wahlen sind 43 politische und soziale Parteien zugelassen. Zweiundzwanzig dieser Parteien haben sich zu einem Bündnis mit dem Namen “Volks- und Frauenallianz für Freiheit” zusammengeschlossen, dem auch die Partei der Demokratischen Einheit (PYD), der Frauendachverband Kongra Star und weitere Parteien aus der Region angehören. Das zweite Bündnis mit dem Namen “Gemeinsam für bessere Dienstleistungen” besteht aus fünf Parteien, darunter die Grüne Demokratische Partei.Neben den Bündnissen treten drei Parteien unabhängig bei den Wahlen an. Darüber hinaus gibt es 270 unabhängige Kandidat*innen bei den Wahlen. Diese Kandidat*innen treten vor allem in den arabischen Regionen an und können als ermutigendes lokales Zeichen für die geschaffenen Selbstverwaltungsstrukturen gewertet werden. Besonders bemerkenswert ist dieses Engagement in einer Region wie Deir ez-Zor, in der der IS immer noch stark präsent ist.
Insgesamt 5.337 Personen nehmen als Kandidat*innen von Bündnissen, Parteien oder als Unabhängige an diesen Wahlen teil. Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass alle Personen über 18 Jahre, die seit mindestens fünf Jahren in den DAANES leben und zum Zeitpunkt der Wahlen ihre Wahlkarte in ihrer Kommunen erhalten haben, an den Wahlen teilnehmen können.
Nord- und Ostsyrien ist eine sehr vielfältige Region mit unterschiedlichen Völkern und Religionen. Das politische System von DAANES ermöglicht eine spezifische Repräsentation jeder Minderheit, was bei den Wahlen sichtbar wird.Viele Minderheiten haben eigene Parteien gebildet, die sie vertreten. So vertritt beispielsweise die Êzîdisch-Syrische Union speziell die Interessen der Êzîd*innen oder die Partei der Union der Suryoye die Interessen der christlichen Minderheiten.
Herausforderungen und Bedrohungen
Die Wahlen finden jedoch unter schwierigen Bedingungen statt. Der seit zwölf Jahren andauernde Bürgerkrieg in Syrien hat die Wirtschaft der Region lahmgelegt. Hinzu kommen die anhaltenden Embargos der westlichen Staaten und der Nachbarländer Türkei und Irak. Die wirtschaftliche Lage im Norden und Osten Syriens wurde durch türkische Luftangriffe im Oktober und Dezember 2023 sowie im Januar 2024 erschüttert, die auf wichtige zivile Infrastruktur wie Strom-, Öl- und Gaswerke abzielten.
Kurz vor den Wahlen, die ursprünglich am 31. Mai stattfinden sollten, startete der türkische Staat eine Reihe von Luftangriffen, nur wenige Stunden nachdem er die Wahlen zu einer Bedrohung seiner “nationalen Sicherheit” erklärt hatte. Bei diesen Angriffen wurden fünf Menschen getötet und 15 verletzt. Darüber hinaus kündigten die USA an, die Durchführung der Wahlen nicht zu unterstützen, was de facto grünes Licht für alle türkischen Vergeltungspläne gab. Nach den türkischen Angriffen und der Ankündigung der USA wurden die Wahlen auf den 8. August verschoben, da mehr Vorbereitungszeit benötigt wurde.
Die bevorstehenden Wahlen im Norden und Osten Syriens sind ein wichtiger Schritt zur Festigung der Demokratie. In diesem “Superwahljahr”, in dem weltweit in 66 Ländern gewählt wird, sind Wahlen mitten in einer Revolution sicherlich einzigartig. Die Wahlen in Nord- und Ostsyrien sollen den Willen des Volkes repräsentieren und sind Teil eines größeren Projekts, das den Menschen echte Demokratie und Freiheit bringen soll.