Erdoğan plant kein Ende des Krieges in Kurdistan, sondern dessen Eskalation

In der Presse häufen sich Meldungen, der türkische Präsident Erdoğan habe ein Ende der Militäroffensiven in Syrien und im Irak angekündigt. Diese Aussagen sind irreführend, da sie gute Absichten der Türkei suggerieren. Auch die Darstellung, es handele sich um Abwehr von Angriffen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist äußerst problematisch.

Denn die Realität ist eine andere:

Seit Jahresbeginn hat die Türkei 1076 Angriffe auf die Kurdistan-Region des Irak (KRI) durchgeführt, allein 238 seit dem Start der jüngsten Offensive am 15. Juni. Die Einwohner:innen von 162 Dörfern wurden bereits vertrieben, weitere 602 Dörfer sind von Zwangsmigration bedroht. Die Angriffe führen zudem zu einer exzessiven ökologischen Destruktion. Şengal, Lebensraum der Ezid:innen, ist ebenfalls regelmäßig Ziel türkischer Angriffe. Erst vor wenigen Tagen starb der Journalist Murat Mîrza İbrahim bei einem Drohnenangriff. Auch die Angriffe gegen das Gebiet der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien dauern an.

In der Kurdistan-Region des Irak verfügt die Türkei bereits über 71 Militärbasen in einem Radius von 30 km landeinwärts. Zusätzlich wurden in den vergangenen Wochen 300 Panzer in die Region verlegt. Das Medienunternehmen Spee hat Dokumente veröffentlicht, wonach der türkische Staat plant, mehr als 800 syrische paramilitärische Banden, v.a. IS-Mitglieder, in Uniformen der türkischen Armee einzuschleusen.

Der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler legte jüngst die Absichten offen, mit den Worten: „Wir werden unsere Operationen fortsetzen, bis der letzte Terrorist neutralisiert ist.“ Worauf der türkische Staatspräsident Erdoğan somit in seiner Rede abzielte, ist nicht die Beendigung von Okkupation und Angriffen. Es geht darum, die Kurd:innen und ihre Errungenschaften gänzlich zu vernichten. Passend in diesem Zusammenhang ist ein Teil des Titels vom Spiegel, in dem vom „Krieg gegen Kurden“ gesprochen wird. Die in den Artikeln vorherrschende Reduktion der Angriffe auf die PKK wird allerdings dem Kontext überhaupt nicht gerecht.

Im Hinblick auf die Absichten und damit die Staatsideologie der Türkei ist auch die Haltung Devlet Bahcelis, Vorsitzender der Türkischen Nationalistischen Bewegung (MHP), die mit der AKP koaliert, bezeichnend. Er beanspruchte bereits öffentlich den Nordirak als türkisches Staatsgebiet und sagte, dass keine „Macht im Weg stehen könne, damit Kirkuk die 82. und Mosul die 83. Provinz“ der Türkei werden.

Die Angriffe von syrischem Territorium auf die Türkei– so die Übernahme des Wordings von Erdoğan –, entsprechen ebenfalls nicht der Realität. Einen solchen Angriff gab es nicht. Es sei hier an die Aussage vom damaligen Geheimdienstchef und jetzigen Außenminister Hakan Fidan von März 2014 erinnert „Wenn nötig, werde ich vier Männer nach Syrien schicken, ich werde acht Raketen auf die Türkei abfeuern lassen und eine Rechtfertigung für einen Krieg schaffen.“

Die Kontextualisierung des Themas im Rahmen der Einstufung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Terrororganisation und der Verweis auf wiederholte Anschläge ist falsch. Die Listung ist eine rein politische Festlegung, wie der Zeitpunkt der Erstlistung zeigt; diese erfolgte, nachdem die PKK ihre bewaffneten Einheiten aus den Staatsgrenzen der Türkei zurückzog und einen zentralen Paradigmenwechsel vollzog. Hier sei auch auf das Urteil des belgischen Kassationshofs verwiesen, der feststellte, die Arbeiterpartei Kurdistans ist Partei in einem bewaffneten Konflikt und keine Terrororganisation.

Festzuhalten ist, dass Erdoğans Syrienpolitik gescheitert ist. Daher sendet er seit Wochen Botschaften an seinen syrischen Counterpart Basar al-Assad, um ein Treffen und nachfolgend die Normalisierung der Beziehungen zu erwirken. Dieser allerdings knüpfte einen Austausch an die Bedingung, sich auf die Kernfragen der Unterstützung des „Terrorismus“ durch Ankara und des Abzugs der türkischen Truppen aus Syrien zu konzentrieren. Der irakische Außenminister Fuad Hussein kündigte indes ein Treffen zwischen syrischen und türkischen Regierungsvertretern in Bagdad an. Hussein hatte sich am Rande des NATO-Gipfels mit seinem türkischen Amtskollegen getroffen.

Das Schweigen zur Annexion von Teilen des irakischen Territoriums impliziert, wie auch in der Vergangenheit im Falle von Nordsyrien, regionale wie internationale Zustimmung. Allerdings deuten Äußerungen der USA darauf hin, dass unkontrollierte Entwicklungen nicht auszuschließen sind.

Vor diesem Hintergrund ist journalistische Genauigkeit essenziell. Jede Ungenauigkeit und die unkommentierte Übernahme von Narrativen türkischer Staatsideologie führen zu fehlerhaften Einschätzungen der Entwicklungen, was in Zeiten zunehmender Krisen und Kriege nicht allein problematisch, sondern auch gefährlich ist.