Cemil Bayik, Mitglied des Exekutivkomitees der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) und Gründungsmitglied der Arbeiter*innenpartei Kurdistans (PKK), im Interview mit der spanischen Zeitung Publico, 08.02.2018
Aus aktuellem Anlass und aufgrund wichtiger im Interview enthaltenen Inhalte, die helfen, um die kurdische Frage und die Politik der AKP-Regierung der Türkei differenzierter zu betrachten, geben wir im Folgenden die deutschsprachige Übersetzung bestimmter Fragen des Interviews wieder.
Herr Bayik, wenn wir als Journalisten etwas über die PKK schreiben, müssen wir angeben, dass manche Organisationen und Staaten, zum Beispiel Spanien, die PKK als eine Terrororganisation betrachten. Können Sie erklären, warum die PKK nicht als eine terroristische Organisation gesehen werden sollte?
Um zu verstehen, dass die PKK keine terroristische Organisation ist, müssen die Bedingungen ihrer Entstehung erläutert werden. Der Entstehungsgrund der PKK ist von der Lage des kurdischen Volkes und Kurdistans bedingt. Kurdistan war und ist im Nahen Osten in vier geteilt und wird von vier Staaten kolonisiert. Ferner ist in der Türkei eine Mentalität vorherrschend, die die Verleugnungsstrategie „Kurden gibt es nicht, die kurdische Sprache existiert nicht, ein Land namens Kurdistan gibt es nicht“ fährt.
Es ist bekannt, dass Menschen, die sich als „Kurden“ bezeichneten, 1980 im Gefängnis von Diyarbakir ermordet wurden. Es herrscht also eine Realität eines Volkes, dessen Existenz verleugnet wird, seine Sprache verboten ist und dessen Land in vier geteilt und kolonisiert ist. Die Kurden sind ein Volk, das in vier Teile zersplittert ist und unter der jeweiligen Kolonisation lebt.
Die PKK als Bewegung ist fundamental aus solchen kontextuellen Bedingungen hervorgegangen und sie hat sich das Ziel gesetzt, das zersplitterte kurdische Volk und Kurdistan zu befreien. Wenn wir das so betrachten, dann muss an erster Stelle das hegemoniale regionale und globale System in Frage gestellt werden, welches Kurdistan und das kurdische Volk aufgeteilt und kolonisiert hat.
Kurdistan ist in Gefangenschaft
Wenn die Unterdrückungssituation der Geografie Kurdistans und des kurdische Volkes vergegenwärtigt wird, welche Perspektive sollte primär eingenommen werden? Die der Opfer und Unterdrückten oder die des Unterdrückers und Ausbeuters? Kurdistan ist in Gefangenschaft. Das kurdische Volk ist einem Unterdrückungs- und Kolonialsystem ausgesetzt. Die PKK ist im Kontext eines unterdrückten Volkes und ihres aufgeteilten Landes entstanden. Wenn also die PKK unter solchen Bedingungen entstanden ist und sie sich die Befreiung eines Volkes zum Ziel gesetzt hat, dann kann ihre Stigmatisierung als terroristisch und das Nutzen solcher Begrifflichkeiten zu ihrer Charakterisierung nur die Sprache der Staaten, welche den Kolonialismus und die Verleugnung in Kurdistan ausüben, sein. Eine Analyse, die die notwendige und legitime Entstehung der PKK berücksichtigt und primär von diesem Punkt aus vorgeht, wird zu mehr korrekten Interpretationen und fundierten Beurteilungen führen.
Des Weiteren: Wenn man sich die derzeitigen Methoden und Mittel der PKK, die hinsichtlich der Lösung der kurdischen Frage angewendet werden, veranschaulicht, dann wird deutlich, dass diese Interpretationen [PKK sei eine Terrororganisation] nichts anderes als Verzerrungen sind.
Die PKK ist für jede demokratische und politische Lösungsoption offen
Die PKK als eine politische und philosophische Bewegung hat seit dem Tag ihrer Entstehung mit ihrem Programm, ihrem Ziel, ihren Grundsätzen und ihren angewendeten Mitteln sehr eindeutig unter Beweis gestellt, dass sie eine Bewegung demokratischen Charakters ist. Sie verfügt über eine Programmatik, die fern vom Nationalismus ist und die Befreiung Kurdistans und der Völker in Kurdistan verfolgt. Mit einer progressiven Programmatik verfolgt sie das Ziel, das kurdische Volk zu befreien und die kurdische Frage zu lösen. Die Mentalität der Gegenmacht ist jedoch eine nationalstaatliche, verleugnende und despotische, die der demokratischen Lösung der Frage keine Gelegenheit bietet. Sie lässt der einen Befreiungskampf leistenden PKK keine andere Möglichkeit als den militärischen Kampf. Die PKK ist für jede noch so geringe demokratische und politische Lösungsoption offen. Doch weil der türkische Staat keine Möglichkeit als den militärischen Weg zulässt, ist sie gezwungen, die nationale Befreiung durch den militärischen Kampf zu führen. Sie ist gezwungen, eine auf den bewaffneten Kampf basierende Verteidigung zu entwickeln. Um die Verleugnungs-, Zwangsassimilations- und Kolonialpolitik zu brechen, ist solch eine Linie unabdingbar. Und das macht die PKK unter der Beachtung der internationalen Kriterien.
Wenn internationale Abkommen beachtet werden, dann stellt sich für einen Widerstand keine Frage nach den Mitteln, denn sie verfügt über Legitimität. Der Gebrauch von Waffen und Gewalt im Rahmen eines legitimen Kampfes generiert Legitimität. Die PKK ist seit ihrer Entstehung eine Bewegung, die im Rahmen des internationalen Kriegsrechts gegen die Assimilation und Verleugnung einen bewaffneten Kampf führt und sich auf dieser Grundlage politisch organisiert. Die PKK hat die Genfer Kriegskonvention unterzeichnet und erklärt, dass sie internationale Abkommen einhalten wird. Sie hat bereits 1994 das Genfer Abkommen unterzeichnet und schriftlich an relevante Stellen unterbreitet. Wenn ihre Praktik beobachtet wird, dann sehen wir sehr deutlich, dass sie sich an die Regeln hält. Wir haben seit 30–40 Jahren eine Kriegssituation. Es ist richtig, dass im Krieg einige unglückliche Ereignisse entstanden sind. Aber wenn wir die grundsätzliche Linie betrachten, dann zeigt sich offen, dass der von der PKK entwickelte bewaffnete Kampf sich gegen die militärischen Einheiten der kolonialistischen Kräfte richtet. Weder hat sie eine Linie verfolgt, die gegen zivile Bereiche ausgerichtet war, noch hat sie Gewalt gegen Zivilisten eingesetzt. Es ist bekannt, von welchem Punkt aus die PKK ihren vierzigjährigen Kampf begonnen und welche Kraft sie bis heute entwickelt hat. In ihrer vierzigjährigen Kampfgeschichte hat die PKK in der Türkei nie bewusst und absichtlich eine militärische Aktion oder ein Massaker an Zivilisten vollzogen. Nicht nur in der Türkei, in keinem Bereich innerhalb ihres Aktionsradius hat sie eine solche Herangehensweise verfolgt. In der Türkei werden Aktionen ausschließlich gegen Sicherheitskräfte – Strafvollzugsbeamte, Soldaten, Polizisten oder Agenten des Geheimdienstes – ausgeübt. Es sind diejenigen Kräfte, die gegen das kurdische Volk auf brutalste Art vorgehen und dabei unmenschliche Mitteln nutzen.
Vor den Augen der Welt wurden in den 1990er Jahren Tausende kurdische Dörfer entvölkert, Zehntausende kurdische Zivilisten durch staatliche Todesschwadronen ermordet. Mehr als sechs Millionen Menschen haben sie zur Vertreibung aus Kurdistan in die türkischen Metropolen gezwungen. Hundertausende Menschen haben sie inhaftiert, Zehntausende haben sie gefoltert und festgenommen.
Diejenigen, die in den 1990er Jahren die Dörfer verbrannten und das kurdische Volk in die Städte vertrieben, haben 2015 und 2016 wiederum die Städte zerstört und hunderte Zivilisten ermordet. Sie haben versucht, das demografische Gleichgewicht Kurdistans zum Nachteil der Kurden zu verändern. All das wurde vor den Augen der ganzen Welt getan und nichts wurde dagegen gesagt. Wenn sich so etwas an anderen Orten der Welt ereignen würde, würden die Proteste laut sein; wenn es aber um die Kurden geht, dann wird aufgrund der Beziehungen zur Türkei nichts gesagt, geschweige denn was unternommen.
Die kurdische Befreiungsbewegung führt gegen solche mörderischen Kräfte einen Verteidigungskrieg. Darüber hinaus wurde in dieser Verteidigungslinie darauf geachtet, jedwede Angriffe gegen die Zivilbevölkerung zu unterlassen. Das wird auch so bleiben.
Die PKK hat einen hohen Organisierungsgrad
Die PKK verfügt über ein weltweites Organisierungs-Netzwerk. Die PKK hat einen hohen Organisierungsgrad im Nahen Osten, insbesondere in Europa. Wenn wir uns die internationalen oder bilateralen Beziehungen europäischer Staaten zur Türkei ansehen, dann zeigt sich ihre die Türkei unterstützende Position – trotzdem hat die PKK nie Aktionen gegen die Interessen dieser Staaten unternommen oder Gewalt angewendet. Nie wurde unsererseits eine Politik verfolgt, die diese Staaten und ihre Interessen zum Ziel hatte. So etwas kommt auch nicht in Frage. Nur mit demokratischen Protestaktionen im Rahmen der rechtstaatlichen Ordnung soll auf die Angriffe auf Kurden und Kurdistan aufmerksam gemacht werden. Wenn wir aus dieser Perspektive auf die PKK sehen, dann kristallisiert sich heraus, dass ihre Auflistung und Stigmatisierung als terroristische Organisation nicht mit ihrem Charakter, ihren politischen Zielen und ihren Methoden zusammenhängt.
Warum ist die Auflistung der PKK als Terrororganisation 2002 vorgenommen worden?
Allein wenn wir uns den Zeitpunkt anschauen, als die PKK der Terrorliste zugefügt wurde, dann zeigt sich, dass die Entscheidung eine politische ist und mit den Beziehungen zur Türkei zusammenhängt. Die PKK ist in den 1970er Jahren entstanden, doch die Auflistung der PKK als Terrororganisation ist 2002 vorgenommen worden; ein Zeitraum, wo keine militärischen Auseinandersetzungen stattgefunden haben und die Guerilla dabei war, sich aus den türkischen Staatsgrenzen zurückzuziehen. Die Auflistung hat also 30–35 Jahre nach der Entstehung und des Kampfes der PKK stattgefunden. In diesen 30–35 Jahren wurde ein großer Kampf und Widerstand geleistet; große Kriegsgefechte und Aktionen fanden statt. Warum wurde die PKK bis 2002 nicht in die Terrorliste aufgenommen, sondern erst nach 2002, als keine militärischen Auseinandersetzungen vorherrschten und keine Kriegssituation gegeben war?
Welche Entwicklungen fanden um das Jahr 2002 denn statt? Ich erinnere mal daran: Zunächst einmal wurde auf der politischen Ebene ein internationaler Komplott gegen unseren Vorsitzenden Abdullah Öcalan entwickelt. Der im Jahr 1999 vollzogene internationale Komplott [Vertreibung A. Öcalans aus Syrien] ereignete sich in der Phase, als die USA ihre Nahost-Politik konzipierte und eine Intervention in Erwägung zog. Diese interventionistische Nahost-Politik der USA basierte auf dem Plan und der Notwendigkeit, die PKK aus dem Weg zu räumen. Die mit der Verhaftung unseres Vorsitzenden endende Politik, hatte das Ziel, die Instrumentalisierung der Türkei für die Intervention der USA im Nahen Osten zu vertiefen. Es wurde damit gerechnet, dass zusammen mit unserem Vorsitzenden auch die Bewegung als Ganzes und ihre vierzigjährige revolutionäre Arbeit wirkungslos gemacht werden können. Doch die Verhaftung unseres Vorsitzenden erzielte für sie nicht die erhofften Ergebnisse. Im Gegenteil, Abdullah Öcalan hat in der Gefangenschaft große und intensive Denkleistungen erbracht und einen praxisbezogenen Paradigmenwechsel vollzogen. Die PKK hat das neue Paradigma gänzlich angenommen und sich organisational umstrukturiert und politisch umorientiert.
Ein paar Jahre nach dem Komplott wurde die PKK in die Terrorliste aufgenommen. Als unsere Bewegung in diese Liste aufgenommen wurde, wurde die folgende Politik und Aktionen der PKK unternommen – sie waren das Ergebnis der Arbeit unseres Vorsitzenden: Erstens hat die Bewegung eine ideologische und theoretische Erneuerung und damit den Paradigmenwechsel realisiert. Zweitens: Es war eine Situation, in der unser Vorsitzender, um die kurdische Frage auf demokratischem Wege zu lösen, nach einem einseitigen Waffenstillstand gerufen hatte. Die PKK folgte diesem Appell und zog die Guerilla-Kräfte aus den Grenzen der Türkei ab.
Warum wurde die PKK in einer Phase in die Terrorliste aufgenommen, in der sie einen Paradigmenwechsel vollzog, sich an demokratisch-politische Lösungswege orientierte und ihre militärischen Aktionen einseitig beendete? Natürlich ist dies eine gänzlich politische Entscheidung.
Es ist daher nicht möglich, die PKK aufgrund ihrer tatsächlichen Programmatik, ihrer Charta, ihrer Realität und der von ihr genutzten Mitteln als eine terroristische Organisation zu bezeichnen. Mit anderen Worten, die Aufnahme der PKK in die Terrorliste ereignete sich aufgrund einer bestimmten politischen Situation und der Interessenspolitik von Staaten.
Im Original erschien der Artikel am 08.02.2018 unter dem Titel “Warum die PKK keine terroristische Organisation ist” auf der Homepage der Nachrichtenagentur ANFdeutsch.