Was ist in Cizre eigentlich passiert?

cizreErdoğan Aydın für das Nachrichtenportal T24, 15.09.2015

Was in Cizre passiert ist, hat zunächst einmal unter Beweis gestellt, dass sich beim Umgang des Staates mit den Menschen in seinem eigenen Land nichts wirklich verändert hat.

In den letzten Jahrzehnten, vielleicht sogar in den letzten hundert Jahren hat in dieser Hinsicht keine strukturelle Entwicklung stattgefunden…

Der Staat wird weiterhin mit dem Verständnis von Yavuz Sultan Selim ((Osmanischer Sultan im 16. Jahrhundert, der bekannt war für die grausame Verfolgung der Aleviten in seinem Reich)) geführt und alle, die sich gegen die Bestimmung des Staates wehren, sollen weiterhin in die Knie gezwungen werden.

Anstatt sich auf die Seite der Rechte und der Freiheiten des Volkes zu stellen, stellt sich der Staat weiterhin ausschließlich auf die Seite seiner eigenen Herrschaft und Macht.

Das, was wir in Cizre gesehen haben, ist nichts anderes, als der Beweis, dass die Ereignisse vom 6. und 7. September ((Am 6. Und 7. September 1955 fanden in Istanbul Pogrome gegen dort lebende Christen und weitere Minderheiten statt)), dass Madimak ((Brandanschlag und pogromartiger Angriff auf das Hotel Madimak in der Stadt Sivas am 02. Juli 1993, bei dem 37 Menschen ums Leben kamen. Der Anschlag richtete sich gegen Aleviten, die zum Zeitpunkt des Angriffs sich zu einer Kulturfeierlichkeit im Hotel getroffen hatten.)), dass das Newroz von Cizre 1992 ((Das Newrozfest in Cizre 1992 wurde von der türkischen Konterguerilla angegriffen. Dabei kamen bis zu 50 Menschen ums Leben.)) auch in unserer Gegenwart weiter Bestand haben und dass die Türkei weiterhin weit davon entfernt ist, die Rechte des Volkes zu akzeptieren und institutionalisieren.

Natürlich hat aber die Tatsache, dass Cizre sich bis zum Schluss nicht ergeben hat, auch etwas anderes unter Beweis gestellt; nämlich dass dieses Land mit dieser Willkür nicht mehr geführt werden kann, dass dies unmöglich geworden ist und dass eine Neuordnung der Politik in der Türkei nun eine dringende Notwendigkeit geworden ist.

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Die Bilanz der Operation des Staates auf Cizre ist schlichtweg erschreckend:

Wir haben schmerzlich erfahren, dass wir in einer „Demokratie“ leben, in welcher selbst gewählte Abgeordnete und Minister der Übergangsregierung, die nicht nach Cizre gelassen wurden, keinerlei Befugnisse haben, wenn sie dem Staat in die Quere komme.

Die Operation begann mit Worten, die erklärten, dass diese „für die Unversehrtheit des Lebens und des Eigentums“ durchgeführt werde. Später ertönten Ansagen des Militärs, die der Bevölkerung mitteilten, dass dies ihre letzte Nacht werde. Und diese Ansagen mündeten letztlich in anderen Ansagen wie, „ihr seid alles Armenier!“ Acht, neun solcher Tage hat die Bevölkerung von Cizre durchgemacht.

Als am Samstagmorgen sich der Staat zurückzog, blieben die Leichname von 21 Menschen zurück, die in Tiefkühlfächern verwahrt werden mussten. Es blieben dutzende Menschen zurück, die  schwer verletzt wurden und nur mit primitivsten Mitteln behandelt werden konnten. Und es blieben hunderte von Mörsergranaten und Gewehrkugeln durchsiebte Häuser, Wohnungen und Autos zurück.

Der Staat behauptet zwar, dass er dort mit der PKK gekämpft habe und nicht ein Zivilist ums Leben gekommen sei. Aber die Realität ist eine andere. Denn alle Opfer waren Zivilisten, und außer vieren waren alle Kinder, Frauen oder alte Menschen!

Während selbst in Kriegen zwischen Staaten Kriegskonventionen eingehalten werden, wonach die Toten nicht öffentlich gezeigt werden und der Gegenpartei ermöglich wird, ihre Verletzten von der Front wegzubringen, hat der Staat in Cizre diese Konventionen gegen seine eigene Bevölkerung nicht beachtet.

Bis letzten Samstag herrschte in Cizre acht Tage und neun Nächte lang eine ununterbrochene Ausgangssperre. So sollte die Bevölkerung auf Linie gebracht werden. Aus Sicht der Menschenwürde ist das schlichtweg ein erschreckendes Bild.

Alte Frauen und Kinder wurden gezielt durch Scharfschützen ermordet. Aber darüber wurde nicht berichtet, keine Untersuchung eingeleitet.

Während die Menschen aus Cizre fürchteten, den nächsten Morgen nicht mehr erleben zu können, haben sie sich die Unterstützung und Solidarität ihrer Geschwister im Westen des Landes gewünscht. Aber vergebens…

Tag und Nacht die Geräusche des Maschinengewehr in einer Stadt, in der 140.000 Menschen, zehntausende Kinder leben, tagelang kein Strom, kein Wasser, kein Brot, kein Telefon…

Und dann die Amtsenthebung der Co-Bürgermeisterin von Cizre durch das Innenministerium…
Leyla Imret war vielleicht die mit dem größten Stimmanteil gewählte Bürgermeisterin in der gesamten Türkei.

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Sie wissen, dass es für Cizre keine Entschuldigung, keine Rechtfertigung gibt. Und genau deshalb haben sie eine permanente Desinformation über die Medien gestreut. Genau wie 1938 ((Jahreszahl des Völkermords von Dersim, bei dem durch die türkischen Staatskräfte bis zu 60.000 alevitische Kurden ermordeten)), wie in den 90er Jahren haben sie keine Journalisten, keine unabhängigen Delegationen, keine Abgeordneten und keine Minister in die Stadt reingelassen.

Die groteske Begründung hierfür lautete, dass in Cizre die Unversehrtheit des Lebens nicht garantiert werden könne. Dabei wurden wir alle Zeuge dessen, dass die Lebenssicherheit der Menschen ab dem Moment in Cizre zurück kehrte, als der Staat seine Hand von der Stadt abließ.

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Der Staat wollte das Widerstandspotential von Cizre in wenigen Tagen dem Boden gleichmachen. Doch der gemeinsame Widerstand der Bevölkerung von Cizre und der zunehmende internationale Druck auf die Türkei haben dafür gesorgt, dass der Staat am neunten Tag die Belagerung aufgeben musste, ohne dass er auch nur eines ihrer Ziel erreicht hatte.

Ohne Zweifel ist die Stadt in großen Teilen zerstört worden, die Menschen aus Cizre haben großes Leid und große Verluste erlitten. Doch Tatsache ist auch, dass das Recht auf Widerstand gesiegt hat.

Entgegen der Aufrufe des Staates, dass die Bevölkerung sich ergeben solle, entgegnete eine Frau aus Cizre wie folgt: „Warum sollen wir uns ergeben. Wir sitzen in unseren Häusern. Sollen wir uns ergeben, weil wir euch keine 400 Abgeordnete ((Vor den letzten Parlamentswahlen hatte der türkische Staatspräsident Erdoğan 400 Abgeordnete für die AKP bei den Wahlen gefordert. Mit dieser Zahl an Abgeordneten hätte die AKP alleine die Verfassung verändern und das von Erdoğan geforderte Präsidialsystem in der Türkei einführen können.)) gegeben haben? Wenn es das ist, dann müssen wir euch enttäuschen. Wir werden uns nicht ergeben.“

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Die in Cizre ausgehobenen Gräben der Bevölkerung wurden vom Staat als Vorwand für die Operation gegen die Stadt genutzt. Die Bevölkerung sollte ohne Bedingungen in die Knie gezwungen werden. Doch wenn man Mal mit einem demokratischen Bewusstsein bewertet, weswegen die Bevölkerung diese Gräben ausgehoben hat, dann wird man ohne Zweifel begreifen, dass das mit dem Bild der staatlichen „Sicherheitskräfte“ in den Augen der Bevölkerung zu tun hat.

Die Menschen in Cizre haben das Newrozfest von 1992 noch tief in ihrem Bewusstsein, als der Staat mit seinen Panzern das Fest stürmte und dutzende Menschen mitnahm, die nie wieder auftauchten. Die ausgehobenen Gräben sollten dazu dienen, dass die Geschichte sich nicht noch einmal wiederholt.

Wenn die „Sicherheitskräfte“, wie in jedem demokratischen Land, Teil eines Rechtssystems wären, das die Sicherheit der Bevölkerung zum Maßstab nimmt, dann wären weder Gräben in der Stadt ausgehoben worden, noch hätte es solch einen gesellschaftlichen Widerstand gegeben.

Wir wissen aus der Vergangenheit, dass es in Cizre keine Straße und kein Haus gibt, welches für jemanden von außerhalb verschlossen bleibt, sofern der Wille der Bevölkerung von Cizre respektiert wird. Die Gräben hingegen wurden ausgehoben, damit der Staat nicht willkürlich Hausrazzien durchführen und Menschen festnehmen kann, damit die gewählten Vertreter der Stadt nicht willkürlich des Amtes enthoben werden können, damit die staatlichen Kräfte willkürlich Menschen mitnehmen, die dann nie wieder auftauchen…

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