Wie sieht die Zukunft der kurdischen Frage aus?

Joost JongerdenDr. Joost Jongerden*

(…) Die Aussichten auf eine bessere Zukunft hängen nicht nur von der Umsetzung radikaler Demokratie ab, sondern auch von Verhandlungsprozessen. Im März dieses Jahres, nach dem Newroz-Statement von Abdullah Öcalan, schienen die Aussichten auf einen Verhandlungsfrieden gut zu sein. Obwohl niemand Wunder erwartete, griff diese Idee in den Konfliktparteien, die PKK und der Staat waren bereit dazu, eine Einigung zu finden. Aber dennoch, in den Monaten, die der Newroz-Erklärung folgten, haben wir das Scheitern eines möglichen Friedensprozesses beobachtet. Die Frage, die sich uns aufwirft, ist eine ziemlich einfache: Was lief falsch? (…)

Die Zukunft von heute

Auf allen Konferenzen und Treffen, an denen ich in den letzten Jahrzehnten teilgenommen habe, an noblen und prestigeträchtigen Orten wie dem Europäischen Parlament oder in Hinterhofräumen, konnten die Reden mit dem Satz beginnen, dass die kurdische Frage in der Türkei ein aktuelles Thema ist. Dieser scheinbar zeitlose Eingangssatz kann den Eindruck vermitteln, dass sich nichts geändert hat, und doch ist nichts weniger wahr. Heute sind die Aussichten auf eine Lösung ganz andere als vor einigen Jahren oder Jahrzehnten. Es wurde viel erreicht, doch es bleibt noch viel zu tun. Dass die Aussichten in der kurdischen Frage in der Türkei heute andere sind als gestern, ist all den Menschen, die für eine andere Zukunft gekämpft haben, und – das sollten wir anerkennen – in hohem Maße der PKK zu verdanken. Anfangs noch eine kleine Gruppe bewaffneter GenossInnen, wurde sie zu einer Massenbewegung, die sich in vielen unterschiedlichen Bereichen institutionalisierte. Die Bewegung entwickelte ein politisches Programm, das sowohl ideologisch visionär ist als auch auf einer Alltagspraxis basiert. Dazu möchte ich im Folgenden ein paar Worte sagen und auch eine kritische Anmerkung machen.

Dieses ideologisch visionäre und fundierte politische Programm ist selbstverständlich das der radikalen Demokratie. Kurz gesagt, besteht dieses Projekt der radikalen Demokratie im Projekt der Demokratischen Autonomie und des Demokratischen Konföderalismus. Demokratische Autonomie bezieht sich auf eine Praxis, in der Menschen die notwendigen und gewünschten Lebensbedingungen durch direktes Engagement und Zusammenarbeit produzieren und reproduzieren. Demokratischer Konföderalismus lässt sich als Bottom-up-System (von unten nach oben) einer Selbstverwaltung charakterisieren. Demokratischer Konföderalismus ist wie ein Wurzelstock: Die Räte sind die Knotenpunkte in einem sich räumlich ausdehnenden Netzwerk und symbolisieren sowohl die Vereinigung Kurdistans als auch die Geschwisterlichkeit der Völker.

Die Idee von radikaler Demokratie ist selbstverständlich utopisch. Aber um es frei nach Oscar Wilde zu sagen: Eine Vision von einer Welt ohne Utopien ist wertlos (»Eine Landkarte der Erde, die nicht auch Utopia zeigt, ist keines einzigen Blickes wert«). Wir brauchen Utopia als Wegweiser zu einer guten und gerechten Gesellschaft. Doch in gewisser Weise ist radikale Demokratie nicht nur utopisch, ein Ort, den es nirgendwo gibt. Sie ist auch pantopisch, ein Ort, den es überall gibt, da die Projekte der radikalen Demokratie gegründet sind und praktiziert werden. In Diyarbakir [kurd.: Amed], einer Stadt, der ich mich verbunden fühle, habe ich »radikale Demokratie« in Aktion erlebt, aber sie wird auch in Westkurdistan in Gestalt einer Rätebewegung praktiziert. Diese Räte übernehmen Verantwortung bei der Organisierung des gesellschaftlichen Lebens und waren unter den Bedingungen des Aufstands und Krieges in Syrien in der Lage, Dienstleistungen für die soziale Grundversorgung bereitzustellen.

Aber es gibt auch Entwicklungen, die dieser Idee der radikalen Demokratie entgegenstehen. In Diyarbakir, aber auch in anderen Städten der Region, können wir eine Tendenz zur sozialen Fragmentierung und Trennung beobachten. Diese soziale Fragmentierung und Trennung drückt sich darin aus, dass sich die Wohlhabenden aus den zentrumsnahen Stadtvierteln in die neuen Vorstädte zurückziehen. Sie ziehen in geschlossene Wohnanlagen mit privaten Wachdiensten und Videoüberwachung. Die BewohnerInnen dieser Wohnanlagen erledigen ihre Einkäufe in Shopping Malls, die ebenso geschützt und überwacht sind und verbringen ihre Freizeit an ähnlich privatisierten und gesicherten Orten. Der flämische Essayist Lieven De Cauter bezeichnet diese räumliche Abschottung als Entwicklung einer kapselförmigen Gesellschaft, in der sich das Leben in private Enklaven zurückgezogen hat. In einer solchen Gesellschaft ist der öffentliche Bereich geräumt, so wie der Wolkenkratzer die Straße getötet hat. Wenn man den öffentlichen Raum aufgibt, wenn man die Straße aufgibt, argumentiert De Cauter, bedeutet das die Aufgabe der Außenwelt. Was bleibt, ist soziale Trennung und Abgrenzung. Beide sind zum Teil das Ergebnis einer systematischen und systemischen Erzeugung von Verunsicherung, aber auch einer wachsenden sozialökonomischen Ungleichheit, die ihre Ursache in neoliberaler Politik hat. Es ist ein städtischer Reflex auf die Vorstellung, die besagt: »Es gibt keine Gesellschaft.« Diese räumliche Abschottung, die Entwicklung der Einkapselungsstädte, die Architektur und Planung der sozialen Trennung und Abschottung müssen hinterfragt und diskutiert werden. Die Frage, wie eine alternative Stadtentwicklung, ein demokratischer Urbanismus aussehen könnte, muss gestellt und debattiert werden. Vielleicht bezog sich Abdullah Öcalan genau darauf, als er seinen AnwältInnen vor einigen Jahren sagte, sie sollten den DTP-(BDP)-Stadtverwaltungen raten, Murray Bookchin zu lesen, einen der Vordenker im Bereich der politischen Ökologie und des demokratischen Urbanismus. Diese Empfehlung ist aktueller denn je.

Die Aussichten auf eine bessere Zukunft hängen nicht nur von der Umsetzung radikaler Demokratie ab, sondern auch von Verhandlungsprozessen. Im März dieses Jahres, nach dem Newroz-Statement von Abdullah Öcalan, schienen die Aussichten auf einen Verhandlungsfrieden gut zu sein. Obwohl niemand Wunder erwartete, griff diese Idee in den Konfliktparteien, die PKK und der Staat waren bereit dazu, eine Einigung zu finden. Aber dennoch, in den Monaten, die der Newroz-Erklärung folgten, haben wir das Scheitern eines möglichen Friedensprozesses beobachtet. Die Frage, die sich uns aufwirft, ist eine ziemlich einfache: Was lief falsch? Um Antworten auf diese Frage zu ermitteln, sollten wir mindestens zwei Angelegenheiten in unsere Betrachtung mit einbeziehen: erstens falsche Erwartungen und divergierende Ziele, die mit dem Rückzug verbunden worden waren, und zweitens einen geführten Prozess.

Ich möchte zunächst mit den falschen Erwartungen beginnen.

Grundsätzlich haben die PKK und die AKP eine grundverschiedene Analyse des Problems. Erdogan, die AKP, oder in diesem Fall der türkische Staat, sehen das Problem als ein »Terrorismus-« oder »Waffenproblem«, während die PKK den bewaffneten Kampf nicht als das Problem ansieht, sondern als Symptom einer viel grundsätzlicheren Frage: die kulturnationalistische Politik der Türkei, welche die kurdische Bevölkerung zwang, sich selbst als TürkInnen darzustellen. Kurz, für den Staat handelt es sich um ein Sicherheitsproblem, während es für die kurdische Seite ein politisches Problem, eine Angelegenheit ihre Rechte betreffend ist. Die PKK knüpft den Rückzug ihrer KämpferInnen an eine politische Rückkehr, während die AKP den Rückzug als Beginn der Liquidierung der PKK ansieht, aus ihrer Sicht am besten begleitet von Asyl für die KaderInnen der Partei in Drittländern. Wenn die AKP diese Haltung nicht ändert, werden die Gespräche zum Krieg mit politischen Mitteln.

Im sogenannten Friedensprozess hatte die AKP-Regierung über mehrere Jahre Kontakte zur PKK, mit Gesprächen in unterschiedlicher Zusammensetzung und Kontexten. Eigentlich ist das, was wir in den letzten zwei Jahren beobachten konnten, als eine Verdichtung der Zusammensetzung oder Struktur der Gespräche anzusehen. Bei der momentanen Gesprächsrunde zwischen »der PKK« und »dem Staat« handelt es sich eigentlich um Gespräche zwischen offiziellen VertreterInnen des Staates und Abdullah Öcalan, bei denen die RepräsentantInnen in der Türkei (BDP) und die Organisation (PKK) in eine Satellitenposition als GesprächspartnerInnen manövriert werden. Im Vergleich zu den früheren Gesprächsrunden hat der sogenannte »Imrali-Prozess« den Kreis der Beteiligten gegenüber dem der »Oslo-Gespräche«, einer langen Serie direkter Gespräche zwischen VertreterInnen der PKK und des Staates zwischen 2007 und 2011, an denen hochrangige PKK-VertreterInnen und der Staatssekretär des türkischen Geheimdienstes MIT beteiligt waren, eingeschränkt.

In einem Interview im März 2013 stellte [das KCK-Exekutivratsmitglied] Zübeyir Aydar fest:

»Wenn wir VerhandlungspartnerInnen sind, dann wollen wir unsere eigene Delegation bestimmen. Lasst es uns klarstellen: Abdullah Öcalan repräsentiert und spricht in unserem Namen. Aber er ist nur eine Person. Er sollte das Recht haben, seine eigene Delegation zu wählen (…) Auf der einen Seite haben wir den Staat, mit tausenden zivilen Angestellten, BeraterInnen, Archiven und Dokumenten, und auf der anderen Seite eine Person, der sie sagen: Lass uns dieses Problem lösen. Okay, lasst uns dieses Problem lösen, aber er braucht Menschen, die ihm assistieren, er braucht BeraterInnen. (…) Jetzt kann er mit niemandem sprechen. Das ist kein Weg, um gesunde Verhandlungen zu führen. Und wenn sie aufrichtige Absichten haben, dann kann es nicht schwer sein, die richtigen Bedingungen zu schaffen.«

Offensichtlich gibt es kein Universalrezept für die Konfliktlösung, aber die »richtigen Bedingungen« für jeden erfolgreichen Friedensprozess beinhalten sicherlich nicht, dass eine Seite bestimmt, wer ihrE AnsprechpartnerIn sein soll. In diesem Fall haben wir VertreterInnen des Staates gesehen, die zuerst durch die PKK zu Öcalan sprechen und dann mit der PKK durch Öcalan unter Benutzung der BDP. Ein ernsthafter Versuch eines Friedensprozesses erfordert die Schaffung eines gewissen Grades von gegenseitigem Respekt und Anerkennung, was beinhaltet, dass beide Parteien ihre eigenen Delegationen wählen können, die dann auch Handlungsfreiheit haben. Eine Lösung muss »mit ihren AdressatInnen verhandelt werden« . Aber im Moment ähnelt das, was manchmal als Verhandlungen bezeichnet wird, mehr politischen Aufklärungsmissionen, in denen der Staat durch seine Geheimdienste die politischen Positionen der PKK und ihres inhaftierten Führers erforscht und beobachtet, ohne selbst Position zu beziehen. Dies zeigt sich auch in den Ergebnissen: Ein Versagen bei der Entwicklung einer verhandelten und von beiden Seiten anerkannten Roadmap hin zu einer politischen Lösung. Es sollte auch betont werden, dass eine politische Lösung etwas anderes ist als die Gewährung von Rechten. Rechte, denke ich, werden nie gewährt, sie werden im politischen Kampf gewonnen. Demokratie tröpfelt nicht von oben herab, sie baut sich von unten auf. Als solches sollten Verhandlungen als ein Ergebnis des politischen Kampfes betrachtet werden und nicht als Alternative dazu.

Für die Zukunft scheint für den Erfolg von Verhandlungen eine Erweiterung des Kreises der Beteiligten und ein Engagement für eine politische Lösung wichtig. Einerseits sollte die AKP VertreterInnen schicken, die über ein umfassendes Mandat verfügen (anstelle von GeheimdienstagentInnen mit unklarer Abhängigkeit), und andererseits sollte Abdullah Öcalan die Möglichkeit gegeben werden, sein eigenes Verhandlungsteam aufzustellen. Er sollte das Recht zu Gesprächen haben, mit wem, wann und wo er will. Beide Parteien müssen gleiche Möglichkeiten haben, den Prozess mitzugestalten. Es sollte wahrscheinlich ein für beide Seiten vertrauenswürdiger Moderator gesucht werden.

Wenn etwas aus diesen Zeilen hervorgehen kann, dann dass echte Verhandlungen die politischen Aufklärungsmissionen ersetzen können, die wir bis jetzt miterleben konnten und in denen der Staat die politischen Positionen der PKK erforscht und ohne jegliche Transparenz allein den nächsten Schritt bestimmt. Auf der Basis echter Verhandlungen ist eine politische Lösung der kurdischen Frage möglich. Dies setzt aber voraus, dass die AKP-Regierung ihre öffentliche Position widerruft, dass sie mit der PKK rede, aber nicht verhandle. Das schließt auch das Ziel ein, die PKK in eine neue, andere Türkei politisch zu integrieren, eine Türkei, in der die Menschen das Recht haben, ihre eigene Zukunft zu bestimmen, eine Türkei, die die Idee von der aktiven StaatsbürgerInnenschaft annimmt. Angesichts der anstehenden Wahlen und der nationalistischen Opposition, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei, gegen eine politische Lösung scheint dies ziemlich unwahrscheinlich. Und angesichts des explosiven Gemisches einer zögerlichen Regierung, eines scheiternden Friedensprozesses und einer ungeduldigen kurdischen Bevölkerung sind die Aussichten für eine Lösung ziemlich düster.

* Joost Jongerden ist Dozent für Entwicklungssoziologie und -anthropologie an der Universität Wageningen, Niederlande.

Redebeitrag von Joost Jongerden, 10. EUTCC-Konferenz, EU-Parlament Brüssel, 4.–5. Dezember 2013

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