“Allein das Volk hat ein Recht, mich zur Rechenschaft zu ziehen”

hdpGemeinsame Verteidigungsrede der HDP-Abgeordneten, Civaka Azad, 06.11.2016

Aufgrund der aktuellen Festnahmen der HDP-Abgeordneten möchten wir nochmals auf die gemeinsame Verteidigungschrift der Abgeorndeten der Demokratischen Partei der Völker aufmerksam machen. Diese Verteidigungsrede haben alle festgenommenen Abgeordneten vor dem Haftrichter vorgetragen. Veröffentlicht wurde die gemeinsame Verteidigung am 22. Juni 2016, also bereits kurz nach der Immunitätsaufhebung der HDP-Abgeordneten im türkischen Parlament:

“Meine Partei – die Demokratische Partei der Völker (HDP) – hat am 07. Juni 2015 bei den Parlamentswahlen mit mehr als 6 Millionen Wählerstimmen die 10%-Hürde genommen und 80 Abgeordnete in das türkische Parlament entsendet. Dadurch ist es ihr mittels demokratischer Politik und dem Willen der Wählerinnen und Wähler gelungen, die Alleinherrschaft der AKP, und die Möglichkeit, dass diese alleine die Verfassung im Lande verändern kann, zu unterbinden. Doch Recep Tayyip Erdoğan, welcher ein “Ein-Mann-Regime” in der Türkei errichten möchte und hierfür vor keinem Rechtsbruch zurückschreckt, hat diese Wahlergebnisse nicht akzeptiert, die Bildung von Koalitionsregierungen unterbunden und so das Land in die Neuwahlen geführt. Parallel dazu hat er den seit knapp drei Jahren anhaltenden Lösungsprozess beendet, weil dieser seinen Stimmanteil nicht gesteigert und deshalb von ihm nicht mehr als nützlich erachtet wurde. Dadurch hat er das Land praktisch ins Feuer der bewaffneten Auseinandersetzungen geführt.

In der Atmosphäre dieser Auseinandersetzungen, in welcher die Bürgerinnen und Bürger aus nachvollziehbaren Gründen in Angst um Leib und Seele versetzt waren, hat die AKP bei ungleichen und unfairen Wahlen von Neuem die Alleinherrschaft erlangt.

Recep Tayyip Erdoğan hatte nach den Wahlen vom 07. Juni auf eine panische und eilige Weise das Parlament und die Regierung für nichtig erklärt, die Justiz in großen Teilen unter seine Kontrolle gebracht, die Medien vollständig an sich gebunden, und somit einen Putsch im Lande vollzogen. In seiner völligen Hemmungslosigkeit hat er höchstpersönlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Verfassung nicht akzeptiere, das Regime de facto verändert habe, und deshalb auch die Entscheidungen des Verfassungsgerichts nicht respektieren werde. Somit brachte er unverfroren zum Ausdruck, dass er den Staat persönlich beschlagnahmt hat.

Gegen seine Person gibt es in seiner Amtszeit als Ministerpräsident verschiedenste ernstzunehmende Beschuldigungen wie Korruption, Diebstahl, Schwarzgeldtransfer, die Durchbrechung der internationalen Sanktionen gegen den Iran durch illegale Vergehen wie Goldhandel oder illegale Waffenlieferungen an terroristische Gruppierungen in Syrien. Untersuchungen zu all diesen Vorwürfen konnten allerdings durch seinen Druck und seine Kontrolle über die Justiz im Lande derzeit verdunkelt werden.

Doch Erdoğan ist sich bewusst, dass für ihn eine endgültige Befreiung von den Untersuchungen aufgrund dieser Vorwürfe nur möglich ist, wenn er alle Kompetenzen im Land auf seine Person vereint. Und dass er hierfür zu allem bereit scheint, ist mittlerweile unbezweifelbar. Ihm ist es gelungen, jeden Tag durch die Entsendung von Leichnamen in alle vier Himmelsrichtungen der Türkei die chauvinistischen und nationalistischen Gefühle der Menschen zu stärken, rassistische Hassreden zu verbreiten, und unter der Lüge, „das Land sei mit der Gefahr des Separatismus konfrontiert“, Menschenmassen für seine eigenen politischen Zwecke um sich zu scharren. Auf diesem Wege schreitet er Schritt für Schritt auf sein Ziel zu.

Das einzige Hindernis auf dem Weg zu diesem Ziel, also die Errichtung eines diktatorialen Regimes, das als Präsidialsystem deklariert wird, ist die Demokratische Partei der Völker. Dass es unserer Partei bei den Wahlen vom 01. November erneut gelungen ist, die Wahlhürde zu nehmen und 59 Abgeordnete ins Parlament zu entsenden, hat abermals eine verfassungsändernde Mehrheit für die AKP im Parlament verhindert. Aus diesem Grund arbeitet Erdoğan für den Fall von möglichen vorgezogenen Neu- oder Zwischenwahlen auf eine AKP-Fraktion hin, die aus 367 ihm getreuen Abgeordneten besteht.

Unsere Partei die HDP macht sich eine Politik zu Eigen, welche die multikulturelle, multilinguale und multireligiöse Realität der Türkei widerspiegelt und setzt sich dementsprechend aus Vertreterinnen und Vertretern mit verschiedenster Identität und religiöser Herkunft zusammen. Wir sind Türken, Kurden, Araber, Armenier, Turkmenen, Suryoye, Eziden, Mhallami und Vertreter von vielen weiteren ethnischen Gruppen, die an die Demokratie und das gemeinsame Leben glauben und die davon überzeugt sind, dass ein gerechtes und gleichberechtigtes Leben möglich ist, das auf einer pluralistischen, kommunalen und auf Autonomien basierenden Demokratie beruht.

Unsere Partei HDP verteidigt den Kampf der Frauen um Freiheit und Befreiung. Durch den Schutz der gleichberechtigten politischen Teilhabe der Frau ist es unserer Partei gelungen, den Anteil der Frauen unter den Abgeordneten in der Türkei auf ein Rekordhoch zu tragen. Die Aufhebung der Immunitäten unserer weiblichen Abgeordneten wäre somit auch eine Bedrohung für die Frauen in der Türkei und ein schwerer Schlag gegen ihren Kampf um Gleichberechtigung.

Wir sind gegen jegliche Form von Gewalt und glauben fest daran, dass jeder Konflikt durch Dialog und Verhandlungen überwunden werden kann. Folglich ist die HDP für Erdoğan, der die Vorherrschaft eines auf einem Mann, einer Sprache und einem Glaube beruhenden Faschismus zu etablieren sucht, auch aus ideologischer Sicht eine Gefahr.

Aus diesem Grund war unsere Partei seit Beginn ihres politischen Lebens ein Angriffsziel Erdoğans. Doch bislang ist es ihm weder mit Täuschungsversuchen noch mit Ungerechtigkeiten, weder mit persönlichen Angriffen noch mit Bombenanschlägen gelungen, unserer Partei Herr zu werden. Nun setzt er, als eine Person, die eigentlich durch das von ihm bekleidete Amt unabhängig und unparteiisch sein sollte, mit der Aufhebung der Immunitäten und dem Versuch, uns durch die Justiz verurteilen zu lassen, zu einem neuen Angriff an.

Wir sind gewählte Vertreter des Volkes. Wir repräsentieren daher nicht unsere eigene Person, sondern das Volk, das uns gewählt hat. Derzeit stehe ich als ein Vertreter der Legislative, ein Mitglied des Parlaments, das die Immunität genießt, vor Ihnen. Dass ich gegenüber dieser Verantwortung, die ich trage, sowie gegenüber dem Willen des Volkes eine Respektlosigkeit begehe, ist unmöglich von mir zu erwarten.

Ich scheue nicht davor zurück, vor einer gerechten und unabhängigen Justiz Rechenschaft abzuliefern. Es gibt keine Rechenschaft, die ich nicht zu ablegen bereit wäre. Doch während die Justiz in unserem Lande am Boden liegt, werde ich es nicht akzeptieren, zum Subjekt eines solchen politischen Verfahrens gemacht zu werden. Es geht mir hierbei nicht um eine Respektlosigkeit gegenüber Ihrer Person oder Ihrer Persönlichkeit. Doch ich akzeptiere es nicht, eine Figur in einem Justiz-Theaterstück zu werden, das auf Befehl Erdoğans errichtet wurde.

Ich werde auf keine Frage antworten, welche Sie mir stellen werden. Ich glaube nicht an ein gerechtes Urteil durch Ihr Gericht. Selbst dass ich hierher gebracht wurde, stellt einen Rechtsbruch dar. In der politischen Arena sollte der Gegenüber eines Politikers auch ein Politiker sein, nicht ein Justizbeamter. So gesehen müssten Sie sich, als Mitglied einer Justiz, das sich aufgrund internationaler Vereinbarungen verfassungsgemäß den universellen und demokratischen Rechtsprinzipien verpflichtet fühlen müsste, diesem politischen Spiel ebenfalls verweigern.

Wir werden unseren politischen Kampf solange fortführen, bis in unserem Land Frieden herrscht und ein pluralistisch-demokratisches System aufgebaut worden ist. Gegen die Polarisierung der Gesellschaft setzen wir auf ein gleichberechtigtes gemeinsames Leben. Gegen die Gewalt setzen wir auf einen demokratisch-politischen Wettkampf. Gegen den Monismus setzen wir auf Pluralismus, gegen den Faschismus auf Demokratie und gegen eine religiös-rassistische Politik auf die Religions- und Gewissensfreiheit. Natürlich setzen wir uns gegen Diskriminierung und Hassreden und für die Rechte des kurdischen Volkes ein, die ihnen allein aufgrund der Tatsache, dass sie ein eigenständiges Volk sind, zustehen. Und natürlich setzen wir uns auch für die gleichberechtigte Bürgerschaft der alevitischen Gesellschaft ebenso ein, wie für die Glaubensfreiheit weiterer religiöser Minderheiten. Wir setzen uns für die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen am politischen, sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Leben ein. Wir setzen uns für den Schutz der Umwelt und Ökologie gegen die Zerstörung durch den Kapitalismus ein. Wir stellen uns gegen die Profitgier des Marktes und setzen uns für die Rechte der Arbeiter ein. Egal ob wir uns weiterhin im Parlament oder in den Gefängnissen befinden werden, ihr werdet uns nicht daran hindern können, diese Gedanken weiter zu vertreten und für diese Gedanken uns einzusetzen.

Wir haben keine Zweifel daran, dass wir uns von der Diktatur, die unserem Land und unserem Volk unter dem Deckmantel des „Präsidialsystems“ aufgezwungen wird, befreien werden. Früher oder später wird der Kampf um Demokratie siegen. Dieses Regime, das durch die Person Erdoğans vollständig abgenutzt wurde, wird ohne Zweifel abgelöst werden müssen.

Ich habe weder eine Forderung noch eine Erwartung an Sie. Allein das Volk, das mich gewählt hat, hat ein Recht mich aufgrund meiner politischen Haltung und Handlung zur Rechenschaft zu ziehen.”