Hintergrund: Das türkische Militärmandat für Auslandseinsätze und der Widerstand von Kobanê

logoEine Bewertung von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 05.10.2014

Am 2. Oktober 2014 verlängerte die türkische AKP- Regierung das Mandat für das türkische Militär für grenzüberschreitende Operationen im Irak und in Syrien. Es handelt sich hierbei um eine Verlängerung des Mandats vom 4. Oktober 2012 , und nicht wie viele türkische und auch deutsche Medien versuchen zu suggerieren um ein Neumandat, welches aufgrund der drohenden Gefahr durch den Islamischen Staat erklärt worden ist.

Um den Sachverhalt genauer zu verstehen, bedarf es die Vorfälle aus der jüngsten Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Die Bilder von vorfahrenden türkischen Panzern an der syrischen Grenze erscheinen wie ein Déjà-vu. Denn vor etwa zwei Jahren zeichnete sich ein fast identisches Bild ab. Kurz bevor es damals zur Mandatsabstimmung kam, explodierten Bomben im türkischem Reyhanli. Laut offiziellen Angaben kamen hierbei mindestens 51 Menschen ums Leben, doch viele gehen von weitaus höheren Opferzahlen aus. Verantwortlich für diesen Angriff war – so die Aussage der AKP-Regierung – der syrische Geheimdienst. ((http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-beschuldigt-syriens-geheimdienst-wegen-anschlag-in-reyhanli-a-899309.html))

Suche nach einem Grund für militärisches Eingreifen in Syrien

Die Türkei hatte nun, angesichts der äußeren Bedrohung ihres Landes, eine Legitimation für ein militärisches Eingreifen in Syrien gefunden. Die Erwartung der Türkei, dass der syrische Machthaber Assad, den der jetzige türkische Präsident Erdogan vor Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs auch Mal als seinen Bruder bezeichnete, in kurzer Zeit gestürzt werden könne, erwies sich als eine Fehlkalkulation. Also mussten die Herrschaften in Ankara neue Pläne schmieden, um ihr Ziel eines Regimewechsels in Damaskus zu erreichen. An welche Art von Plänen man hierbei dachte, wurde öffentlich, als ein Mitschnitt einer geheimen Tonbandaufnahme an die Öffentlichkeit gelangte, in welcher der jetzige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu (damaliger Außenminister), der Geheimdienstchef Hakan Fidan, der Unterstaatssekretär Feridun Hadi Sinirlioglu und der stellvertretende Armeechef Yasar Güler zu hören sind. ((http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/im-wortlaut-einen-vorwand-koennen-wir-liefern-12868947.html))

Inszenierung eines Angriffs

Fast schon Hollywood-würdig war die Beratung über eine inszenierte Operation, die die Rechtfertigung für einen Krieg bieten sollte. Erwogen wurden, Anschläge auf Grabstätten durchzuführen oder türkische Agenten von syrischem Boden aus Raketen auf türkisches Territorium feuern zu lassen. Geheimdienstchef Fidan sagte wörtlich: „Wenn es nötig ist, kann ich vier Männer nach Syrien schicken und acht Raketen auf die Türkei abfeuern lassen, um einen Kriegsgrund zu schaffen. Wenn nötig, kann auch ein Angriff auf die Grabstätte erfolgen.“

Der damalige Außenminister Davutoğlu bekräftigte, dass Regierungschef Erdogan in der momentanen Situation einen Angriff auf Grabstätten nahe der syrischen Stadt Aleppo, die aus historischen Gründen als türkisches Territorium gelten und von türkischen Elitesoldaten bewacht werden, als zu begrüßendes Szenario sehen würde, um einen Angriff zu rechtfertigen.

 Selbstverwaltung von Kobanê und die Türkei

Lassen Sie uns noch einen Schritt weitergehen: Am 18. Juli desselben Jahres übernahm die kurdische Bevölkerung gemeinsam mit den Volksverteidigungseinheiten der YPG die Kontrolle über die Stadt Kobanê. Ohne den Einsatz von Waffen konnten die Mitglieder des Assad-Regimes aus der Stadt vertrieben und somit der Beginn der demokratischen Selbstverwaltung ausgerufen werden. ((http://www.civaka-azad.org/wp-content/uploads/2012/11/Info2.pdf))

Ahmet Davutoğlus Antwort auf die Geschehnisse nahe der Grenze der Türkei ließ nicht lange auf sich warten. Am 31.08.2012 erklärte Davutoğlu im Gespräch mit der regierungsnahen Tageszeitung Yeni Safak, dass die Türkei eine kurdische Autonomie mit offiziellen Status nicht dulden würde. Vor allem Gebilde, die unter der Kontrolle der PKK, „ähnlich wie die im Kandilgebirge sind nicht zu akzeptieren“, so die Worte von Davutoğlu, welcher auf die Frage, ob eine Pufferzone im syrischen Norden in Betracht gezogen könnte, entgegnete, dass entsprechende Vorbereitungen bereits getroffen seien. ((http://www.yenisafak.com.tr/politika/suriyede-tampon-bolge-dusunulebilir-398710))

Vieles scheint derzeit mit dem kleinen kurdischen Autonomiegebiet im Norden Syriens verwoben zu sein. Neben dem Schicksal zehntausender Menschen geht es auch um Fragen wie, ob dem Vormarsch des IS Einhalt geboten werden kann, und wie es mit dem Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der Arbeiterpartei Kurdistans PKK weitergehen wird.

PKK mahnt die Türkei: Kobanê entscheidet über Fortführung der Friedensgespräche

Sabri Ok, ein führender Vertreter der PKK, erklärte, dass die Fortsetzung der Friedensgespräche abhängig von den Entwicklungen in Rojava sei. In einem Interview vom 03. Oktober mit der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem erklärte Ok, dass die Angriffe auf Kobanê durch den IS auf Wusch der Türkei erfolgen. „Ziel ist dabei der Fall von Kobanê und damit die Negierung des Status von Rojava. Allen voran die Türkei möchte, dass der Kanton fällt. Falls dem nicht so sein sollte, dann soll die Türkei entsprechende Erklärungen abgeben und eine dementsprechende Praxis an den Tag legen, die diese Behauptung wiederlegt. Die Türkei kann niemanden davon überzeugen, dass sie es mit dem Friedensprozess ernst meint, wenn sie gleichzeitig feindlich gegenüber den Errungenschaften der Kurden in Rojava agiert“, so weiter die Bewertung von Ok. ((Interview mit der Tageszeitung Özgür Gündem vom 03.10.2014))

In den letzten Tagen wurden seitens der PKK und der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) mehrere mahnende Statements in Richtung Ankara veröffentlicht. Zuletzt erklärte auch der inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan, dass der Lösungsprozess mit dem Schicksal von Kobanê verbunden ist.

Angriffe der Koalition nicht effektiv

Tatsächlich scheint es so, dass regionale und internationale Akteure aus der Region an einem Fall von Kobanê interessiert sind. Während Damaskus mit Wohlwollen das Vorrücken der IS-Kämpfern gen Norden betrachtet, scheinen die Grenzen zur Türkei sowohl für IS-Kämpfern als auch für ihre Waffen und andere Logistik frei passierbar. Im benachbarten kurdischen Nordirak geht die Anti-IS-Allianz zwar regelmäßig aus der Luft gegen IS- Stellungen vor. In Kobanê allerdings kommt es nur zu gelegentlichen Angriffen auf die unmittelbar vor der Stadt liegenden IS-Stellungen. So erklärte am 02. Oktober Meryem Kobanê, eine der befehlshabenden Kommandantinnen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ, dass keine bedeutenden Stellungen des IS seitens der USA angegriffen werden. „Nur einige Punkte, die keine besondere Auswirkung auf den Krieg haben, wurden angegriffen“, so die YPJ- Kommandantin weiter ((Katliam kapıda AYAĞA KALK, Özgür Gündem vom 03.10.2014)).

Die Aussagen werden von Asia Abdullah im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa bestätigt. Die Kovorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) erklärte, dass die bisherigen Angriffe der Koalition nicht effektiv gewesen seien. So habe das von den USA geführte Bündnis in der Nacht auf Freitag den IS weit entfernt von Kobanê bombardiert. Zwar erklärte Abdullah weiter, dass die syrischen Kurden von den USA schärfere Luftangriffe gegen die Extremisten fordern, jedoch ist angesichts der derzeitigen Handschrift der westlichen Politik ein anderes Szenario zu erwarten.

Strategie des Westens

Wenn man nun nach den Gründen sucht, wie eine grausame Organisation wie der Islamische Staat binnen so kurzer Zeit so erstarken konnte, wird man sicherlich neben der nicht unwesentlichen Verantwortung der Staaten der Region auch auf eine Mitverantwortung der westlichen Staaten stoßen. Die Frage ist nun, ob der Westen mit den Luftschlägen seine Fehler in der Region wiedergutmachen will? Doch das scheint nicht der Fall zu sein, denn die begrenzten Angriffe deuten eher darauf hin, dass Aktionsradius des IS begrenzt werden soll. So werden in erster Linie die syrischen Stellungen des IS in den südlichen Teilen ihres Kontrollgebiets, vor allem in ar-Raqqa und Deir ez-Zor, von der Luft aus angegriffen. Diese führen dazu, dass sich die Kampfeinheiten des IS zusehends in Richtung Norden bewegen. Derzeit ist sowieso der Großteil ihrer Militärkraft um Kobanê gebündelt. Die Einnahme der kurdischen Region Kobanê würde die Kontrolle über einen strategisch wichtigen Grenzstreifen für den IS bedeuten. Zuden hätte man dadurch die drei bestehenden kurdischen Kantone in Rojava geographisch voneinander abgekappt.

Nicht zu vergessen gilt, dass der IS auch das Ziel verfolgt, die Etablierung des Gesellschaftssystem in Rojava zu verhindern. Konträr zu der klerikalfaschistischen Diktatur des IS leben in Rojava ethnische und religiöse Bevölkerungsteile friedlich in demokratischen Strukturen, die auf Gleichheit und Freiheit basieren. Die Angriffe auf Kobanê sind nur als erste Stufe eines breitangelegten Angriffsplans zu sehen. Schon jetzt ereignen sich die ersten Gefechte um den westlich liegenden Kanton Cizîrê, welches neben seiner geostrategischen Bedeutung als Teil des Länderdreiecks Türkei, Irak und Syrien, vor allem für seine Erdölvorkommen bekannt ist.

Pufferzone nicht gegen IS, sondern gegen Rojava gerichtet

Während die Bevölkerung von Rojava vom Süden aus Angriffen des IS ausgesetzt ist, droht die Türkei mit einer militärischen Bodenoffensive. Zudem dürfen die Grenzgräben, welche die südkurdische Regierung unter der Initiative der KDP im Osten Rojavas ausgehoben hat, nicht vergessen werden. ((http://civaka-azad.org/die-grabenpolitik-des-mesud-barzani/))

All dies zusammengenommen lässt auf einen breitgefächerten Plan verschiedenster internationaler und regionaler Kräfte vermuten.

Wir möchten auch nochmal daran erinnern, dass die Bestrebungen der Türkei bezüglich einer Pufferzone an der Grenze zu Rojava nicht erst seit der scheinbaren IS-Gefahr existent sind. „Dieses Vorhaben richtet sich in erster Linie gegen Assad und die Kurden, nicht aber gegen die IS- Terroristen“, erklärt Günter Seufert von Stiftung für Politik und Wissenschaft (SWP) zutreffend. ((http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-10/tuerkei-syrien-is-pkk-erdogan))

Bundesregierung in der Kritik

Das Verhalten der deutschen Bundesregierung in Bezug auf Kobanê und Rojava steht derzeit im Fokus der öffentlichen Kritik. Während die Bundesregierung im Irak angesichts einer scheinbaren humanitären Notlage einen Tabubruch in Kauf nimmt und Waffen in ein Krisengebiet liefert, wird über das drohende Massaker in Kobanê hinweggeschaut. Trotz Kritik der Öffentlichkeit, trotz der Aussagen von Bundestagsabgeordneten, die in die Grenzregion von Kobanê reisen und trotz Debatten im Bundestag, lässt eine offizielle Erklärung seitens der Bundesregierung weiter auf sich warten. Die Bundesregierung bedient sich dabei des altbekannten Schemas „gute Kurden, schlechte Kurden“, wie Muriel Reichl in einem Kommentar in „Die Zeit“ titelt. ((http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-10/waffenlieferung-irak-syrien-bundeswehr))

Lösung nur unter Einbeziehung der Kurden

Fakt ist jedoch, dass im heutigen Syrien die kurdischen Kräfte die einzigen Garanten für säkulare und demokratische Werte darstellen. Auch stellen die Volksverteidigungseinheiten der YPG die einzige Militärkraft dar, die über erfolgreiche Bodenkampferfahrung gegen die IS-Terroristen verfügt. Seit zwei Jahren verteidigen sie ihr Kontrollgebiet erfolgreich gegen die Angriffe des IS und anderer dschihadistischer Gruppierungen wie der Al-Nusra Front. „Kobane ist dem IS schon lange ein Dorn im Auge gewesen – einer der letzten Orte des Widerstands nördlich der islamistischen De-facto-Hauptstadt Rakka“, erklären Michael Werz und Max Hoffmann vom Thintank “Center for American Progress” zutreffend in einem Gastbeitrag für Spiegel Online und kritisieren in diesem Zusammenhang die „inakzeptable“ Untätigkeit Europas und der USA. ((http://www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-is-vor-kobane-warum-die-stadt-nicht-fallen-darf-a-995272.html))

Die Suche nach einer Lösung aus dem bestehenden Chaos in Syrien und einer Stabilisierung der Region führt zwangsweise über Rojava. Der Widerstand von Kobanê gegen den IS ist deshalb nicht nur ein Kampf ums Überleben, er ist auch ein Kampf darum, welche Perspektive für die gesamte Region die Überhand gewinnt: Das demokratische und pluralistische Gesellschaftsmodell von Rojava oder die faschistische Ideologie des IS. Eins ist sicher, hält die Türkei an ihrer Unterstützung für den IS und den Plänen für eine Pufferzone fest, positioniert sie sich auf der Seite der IS-Ideologie.