Liebling, es ist nicht so, wie’s aussieht…

15308396026_d2eabf9a14_z-620x360Über die zwiespältige Rolle der Türkei im Kampf gegen die IS
Hayfa Kahraman*, 30.09.2014, Gastkommentar

Die Türkei, unsere geliebte NATO-Partnerin, geht uns fremd. Ihre neue Muse heißt ISIS, und um diese wird seit Monaten mit allem gebuhlt, was das barbarische Islamisten-Herz begehrt: Rekrutierung von Kämpfern auf den Straßen Istanbuls, offene Grenzen für den Waffen-Schmuggel nach Syrien, angebliche Trainingslager auf türkischem Boden und natürlich die überaus humanitäre Behandlung von verletzten Kämpfern in den Krankenhäusern der Türkei, bevor sie in den heiligen Krieg zurückgeschickt werden.

Ja, ich weiß. Das alles klingt nach völlig absurder Verschwörungstheorie, nach Diffamierung und haltlosen Unterstellungen. Wäre da nicht der ehemalige amerikanische Ankara-Botschafter, der von seinen vergeblichen Bemühungen, die Türkei von diesem Kurs abzubringen, berichtet. Wäre da nicht die verstörte Krankenschwester in Mersin, die nicht versteht, wieso sie Leute behandelt, die anderen die Köpfe abschlagen. Und wären da vor allem nicht all die Augenzeugen, die das Treiben an der türkisch-syrischen Grenze schon seit Monaten beobachten. Auf den ersten Blick sieht das alles erst einmal aus wie Unterstützung für die ISIS. Nun gut, auf den zweiten auch… Aber das liegt nur an unserem fehlenden Verständnis für Taktik. Zumindest, wenn man den türkischen Behörden glauben schenken mag, die dem ehemaligen Türkei-Botschafter Francis Ricciardone nach eigenen Angaben sagten, sie würden all das nur tun, um die Extremisten zu „moderatisieren“, sie dadurch also gewissermaßen zur Vernunft zu bringen. Die offensichtlich Unmoderatisierbaren wissen das zu schätzen.

Vieles kann man ihnen vorwerfen: ethnische Säuberungen zum Beispiel, Vergewaltigungen verschleppter Frauen, Sklavenhandel, öffentliche Hinrichtungen … aber Undankbarkeit nicht. Yusaf, ein ISIS-Kommandeur, dankte der Türkei in einem Interview mit der Washington Post für den Erfolg seiner Armee, dieser sei zum Teil auf die Unterstützung der Türkei zurückzuführen. Auch die türkischen Geiseln wurden freigelassen, die als Grund für die Zurückhaltung im Kampf gegen die Islamisten angeführt wurden. Geld soll keins geflossen sein, ein Gefangenenaustausch habe auch nicht stattgefunden. Eventuell fanden die Terroristen es schlichtweg langweilig, nur gegen 40 Staaten der Welt zu kämpfen, vielleicht wollten sie es sich einfach nicht nehmen lassen, eine weitere angreifbare Front zu haben, weshalb sie die Geiseln freiließen und der Türkei somit alle Gründe nahmen, die Hände weiterhin im Schoß zu lassen.

Tatsächlich scheint sich die Türkei allmählich von ihrer Apathie zu lösen. Nachdem Mörsergranaten die letzten Tage auch über die syrisch-türkische Grenze flogen, wurden vermehrt Soldaten an der Grenze stationiert. Die momentanen Angriffe der ISIS gelten der eingekesselten kurdischen Stadt Kobanî (arab. Ain al-Arab) in Nordsyrien, die eine der drei für autonom erklärten Enklaven von „Rojava“ ist. Diese wird laut der dort kämpfenden YPG (Volksverteidigungseinheiten) seit Tagen von drei Seiten angegriffen, weswegen nach Angaben der Türkei etwa 140.000 über die Grenze geflohen seien, die Bürgermeisterin der Auffangstadt Suruç spricht aber von 15- 20.000 Neuankömmlingen. Bereits 1,5 Millionen Flüchtlinge hat das Land seit Kriegsbeginn aufgenommen – und sieht sich mit ihnen mittlerweile völlig überfordert von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen.

Auf der anderen Seite können die Flüchtlinge teilweise sehen, wie sich die Islamisten in ihren Dörfern bewegen. Auch die türkischen Soldaten sehen das. Sie – die zweitgrößte Armee der NATO – steht da und sieht zu. Viele Kurden haben ihre Familien in Sicherheit gebracht und sind wieder zurück nach Kobanî, um gegen die ISIS zu kämpfen- ohne Kampferfahrung oder akkurate Bewaffnung indes. Einzig die USA unterstützen die Einwohner von Rojava – wenn auch zaghaft – , indem sie derzeit Luftagriffe auf einzelne Öl-Raffinerien der ISIS in Nordsyrien fliegen, womit sich dieser Pseudo-Staat wohl größtenteils finanziert. Käufer des Öls sind übrigens wir. Denn auch dem Westen ist politische und moralische Schizophrenie vorwerfbar. Vor allem aber ist er feige. Er glaubt wie ein betrogener Ehepartner, die neue Affäre der Geliebten sei lediglich eine Phase, die schon vorüberginge, würde sie nur lange genug ignoriert werden.

Links dazu:
deutsch-türkisches Journal: ISIS in Istanbul?

*Hayfa Kahraman ist jesidische Kurdin und kommt aus Baden Württemberg. Seit 2011 wohnt sie in Wien und studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. 

Quelle: www.mokant.at