Eine Bewertung von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 30.09.2014
Der Krieg um den kurdischen Kanton Kobanê (Ain Al Arab) dauert an, die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ versuchen die Stadt mit leichtez Waffen gegen den mit Panzern und Artillerie angreifenden IS zu verteidigen. Die Kämpfe finden mittlerweile direkt an der türkischen Staatsgrenze in der Nähe von Suruç in der Provinz Riha (Urfa) statt. Der IS belagert von mehreren Seiten Kobanê und beschießt die Stadt mit schweren Waffen. Es scheint bisher weder wirksame Luftschläge der USA gegen den IS bei Kobanê gegeben zu haben, noch haben die Angriffe des IS an Intensität verloren. Die türkische Polizei und das Militär gehen mit Wasserwerfern, Tränengas und scharfer Munition gegen die kurdische Bevölkerung vor, die an der Grenze protestiert und ihren Verwandten in Kobanê zur Hilfe kommen möchte. Gleichzeitig hat auch der IS begonnen, kurdische Dörfer und Protestierende jenseits der Grenze mit Granaten zu beschießen.
Dies sollte unter anderem als Begründung für Erdoğans Ankündigung nach seiner Rückkehr aus Katar am 15. September dienen, wonach das türkische Militär eine „Pufferzone“ und Flugverbotszone auf syrischem Territorium vorbereiten solle. Eine solche Pufferzone solle angeblich zum Schutz vor dem Regime dienen und den Aufbau von Basen im Kampf gegen den IS ermöglichen.[1] Erdoğan erklärte vor wenigen Tagen auf dem WEF in Istanbul: „Wir müssen den Kampf gegen alle Terrororganisationen der Region aufnehmen” und weiter „Warum steht ihr gegenüber einer Terrororganisation wie ISIS auf aber nicht gegen die PKK, warum sagt ihr dazu nichts, warum kämpft ihr nicht gemeinsam dagegen?“[2] Wenn wir dazu die massive Unterstützung der Türkei für den IS im Kampf gegen die selbstverwaltete kurdische Region Rojava in Betracht ziehen, dann werden die Hintergründe dieser Politik deutlicher.
Erdogan erklärte, dass er bezüglich der Einrichtung dieser Zone, d.h. der Besetzung von Rojava, positive Absprechen mit der USA getroffen habe.[3] Die Angriffe des IS auf türkisches Staatsgebiet erinnern dabei frappierend an vorherige Versuche der Türkei in der Vergangenheit, einen Einmarsch nach Syrien zu legitimieren: erinnert sei hier an die veröffentlichten Aufzeichnungen einer eigentlich geheimen Sitzung im Außenministerium, auf der bereits im März darüber beraten wurde, wie man eine inszenierte Operation in Syrien durchführen könnte, um eine Rechtfertigung für einen Krieg zu haben. Erwogen wurden dem IS anzulastende Anschläge auf ein völkerrechtlich als türkisches Staatsgebiet geltendes Osmanengrab in Nordsyrien oder der Beschuss türkischen Territoriums mit Raketen durch türkische Agenten.
Geheimdienstchef Hakan Fidan erklärte wörtlich in dem am 27.03.14 veröffentlichten mitgeschnittenen Gespräch: „Wenn es nötig ist, kann ich vier Männer nach Syrien schicken und acht Raketen auf die Türkei abfeuern lassen, um einen Kriegsgrund zu schaffen.“ Der damalige Außenminister und heutige Ministerpräsident Davutoğlu begrüßte damals diesen Vorschlag auch im Namen des damaligen Regierungschefs Erdoğan.[4]
Die letzten zwei Wochen haben erneut unter Beweis gestellt, dass Vorwürfe, wonach die Türkei durch Waffenlieferungen und logistische Unterstützung an den IS dessen Angriffe mitbefördert, nicht aus der Luft gegriffen sind. Diese Vorwürfe werden mittlerweile nicht nur von der Kurden in Rojava, die den Krieg an eigenem Leib erfahren, zu Wort gebracht, sondern auch von verschiedenen internationalen Medien und Mitarbeitern politischen Stiftungen geäußert.
So erklärte der Nahostexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Kristian Brakel:
„Die Islamisten waren willkommene Feinde der Feinde Ankaras. Und daher schon fast wieder Ankaras Freund… Die Türkei hat sich nie klar genug von den islamistischen Gruppen abgegrenzt und sie dadurch erst stark gemacht.“[5]
Der Journalist Frank Nordhausen schreibt am 29.09. in der Berliner Zeitung: „Wollte die Türkei sich bislang gar nicht am militärischen Kampf gegen die IS-Terrormiliz beteiligen, so gebärdet sich der türkische Präsident Erdogan plötzlich als Speerspitze einer internationalen Intervention am Boden. (…) Mit einer Pufferzone in Kobani und den anderen Kurdenenklaven kann Ankara verhindern, dass die PKK-nahen Kurden in Syrien womöglich ein säkulares, auf Gleichberechtigung der Geschlechter, Ethnien und Religionen fußendes Gesellschaftmodell errichten, das zwangsläufig auf die türkischen Kurden ausstrahlen würde.“
Dies macht deutlich: der Widerstand von Kobanê ist derzeit nicht nur ein Widerstand gegen den IS. Er ist auch ein Widerstand gegen die Kräfte, die verdeckt oder offen hinter dem IS stehen. Und da ist es nicht verwunderlich, wenn die Türkei die autonomen Regionen in Rojava (Nordsyrien), die sich als Teil eines zukünftig demokratischen Syriens betrachten, immer wieder als Gefahr darstellt. Die zuletzt bei der UN Generalvollversammlung in New York vom türkischen Staatspräsidenten Erdoğan zu Sprache gebrachte Einrichtung einer “Pufferzone” (auch “Sicherheitszone” genannt) ist nicht gegen das Assad-Regime oder die IS gerichtet, sondern dient lediglich den türkischen Plänen für ein Vordringen in die kurdischen Regionen Syriens. Über ein mögliches militärisches Eingreifen (Einsatz von Bodentruppen nicht ausgeschlossen) in Nordsyrien will das türkische Parlament am Donnerstag den 2. Oktober abstimmen.
Die sogenannte Sicherheitszone solle Medienberichten[6] zufolge mit einer Flugverbotszone gekoppelt werden. Der IS verfügt über keinerlei Hubschrauber, Kampfjets oder sonstige Flugkörper. Auch hier sehen kurdische Politiker einen fingierten Vorwand der Türkei, um Rojava zu besetzen um somit kurdische Autonomiebestrebungen im Keim zu ersticken.
Schon jetzt scheint der Einmarsch in Rojava beschlossene Sache zu sein. So wurden in den letzten Tagen sowohl Artillerie, als auch mindestens 40 Panzer an der Grenze bei Kobanê stationiert.[7]
Gerade nach der internationalen Anerkennung, die die Arbeiterpartei Kurdistans PKK durch die Rettung zehntausender Eziden (Jesiden) aus Şengal (Sindschar) durch ihre Guerilla erfahren hat, scheint die türkische Regierung darauf aus zu sein, durch die Zerstörung des basisdemokratischen Projekts Rojava, welches die Türkei immer wieder mit der PKK assoziiert, ihre eigene Position im Mittleren Osten zu stärken. Dabei greift sie auch zur Hilfe von Terrororganisationen wie dem IS.[8] Dies ist eine hochgefährliche Politik, die den Waffenstillstand mit den kurdischen Kräften in Nordkurdistan/Türkei grundsätzlich in Frage stellt und einer Terrororganisation wie dem IS bisher ungeahnte Mittel in die Hände gibt. Hier hat auch insbesondere Deutschland, als einer der Hauptrüstungsexporteure in die Türkei eine besondere Verantwortung.
Sowohl die EU als auch die Bundesregierung können Maßnahmen ergreifen, um in Kobanê einen möglichen Massenmord durch den IS rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Sie könnten dafür sorgen, dass der NATO-Partnerstaat Türkei von der Idee einer „Pufferzone“, die lediglich zu einer weiteren Destabilisierung der Region führen würde, Abstand nimmt. Denn angesichts der bisherigen Unterstützung der Türkei für den IS, angesichts des brutalen Vorgehens der türkischen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten an der Grenze und angesichts der bisherigen feindlichen Politik Ankaras gegenüber Rojava, die in einer Hungerblockade gegen die Selbstverwaltungsregion gipfelt, würde eine solche „Schutzzone“ von denjenigen, zu deren Schutz sie angeblich dient, zurecht als Kriegserklärung und Besatzungsversuch aufgefasst.
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[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/tuerkei-gegen-is-terror-erdogan-erwaegt-einsatz-von-bodentruppen-in-syrien-13178936.html – 29.09.14
[2] http://t24.com.tr/haber/erdogan-istanbulda-dunya-ekonomik-forumunda-konusuyor,272142 – 29.09.14
[3] http://www.yeniozgurpolitika.org/index.php?rupel=nuce&id=34558 – 29.09.14
[4] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/im-wortlaut-einen-vorwand-koennen-wir-liefern-12868947.html – 29.04.14
[5] http://www.stern.de/politik/ausland/kampf-gegen-den-is-die-undurchsichtige-rolle-der-tuerkei-2141854.html – 29.09.14
[6] http://www.spiegel.de/politik/ausland/is-islamischer-staat-erdogan-kuendigt-einsatz-der-tuerkei-an-a-994394.html
[7] http://firatnews.eu/news/guncel/kobane-sinirina-40-tank-konuslandirildi.htm – 29.08.14
[8] Vgl. Civaka Azad „Der drohende Völkermord in Kobane – ein abgekartetes Spiel mit der Türkei?“