Die Anatomie der Morde von Paris

TEIL 1

Sie trug ein braunes Tuch um den Hals. Ihre Haare waren wie immer zusammengebunden. Nach drei intensiven und anstrengenden Tagen suchte sie vergeblich ihren Schlüssel in ihrer Handtasche. Trotz ihrer offensichtlichen Müdigkeit lächelte sie.

Das war drei Monate und 24 Tage vor dem Mord an den drei kurdischen Revolutionärinnen. Auf dem Humanité-Festival der gleichnamigen Zeitung in Paris im September 2012 hatten auch die Kurd*innen ein eigenes Zelt. Über dem Zelt wehte eine PKK-Fahne. Das politische Festival findet seit 1930 als Solidaritätsveranstaltung statt.

Rojbîn (Fidan Doğan) konnte den Magnetschlüssel in ihrer Tasche nicht finden. Es war der Schlüssel des Informationszentrums Kurdistan. War er gestohlen worden, hatte sie ihn fallengelassen oder irgendwo vergessen? An jenem Tag trug sie ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für die politischen Gefangenen“. Innerhalb vor drei Tagen waren 35.000 Unterschriften gesammelt worden, Tausende Menschen wurden über den kurdischen Kampf aufgeklärt.

Es war nicht nur der Schlüssel, den sie in ihrer Tasche suchte und nicht fand. Auch ihr zweites Mobiltelefon war weg.

Die Versuche vor den Morden

Die Kurden waren auf dem Festival nicht allein, ihre Aktivitäten wurden beobachtet und jemand stand im Hinterhalt bereit. Mehrere kurdische Aktivist*innen wiesen auf zwei verdächtige Personen im gegenüberliegenden Zelt. Sie gingen davon aus, dass es sich um Angehörige des französischen Geheimdienstes handelte. Ihre Anwesenheit war keine Überraschung.

Bei der Person im Hinterhalt handelte es sich um „die Quelle“. In offiziellen türkischen Papieren wurde er „Quelle“ oder „Legionär“ genannt: Ömer Güney. Er traf seit Monaten Vorbereitungen. Dafür war er plötzlich aus Deutschland nach Paris gezogen und hatte sich Zugang zu kurdischen politischen Aktivitäten verschafft.

Auf dem Humanité-Festival wollte er zwei kurdische Aktivist*innen töten. Während des Festivals in La Courveuve übernachtete immer jemand im Zelt. Während ein kurdischer Aktivist im Zelt schlief, wollte „die Quelle“ ihren Plan umsetzen, gab jedoch aus unbekannten Gründen auf. Am nächsten Tag, als es gerade dunkel wurde, wurde er erneut aktiv. Er begleitete ein Mitglied der Jugendbewegung nach Hause, das Auto fuhr er selbst. Das Mitglied der Jugendbewegung schlief im Auto ein und Güney änderte plötzlich die Fahrtrichtung. Als er vor einer Absperrung an einem Wald anhielt, wachte das Mitglied der Jugendbewegung auf und reagierte wütend. Güney drehte daraufhin um.

Der erwartete Befehl

Nach diesen Versuchen traf der Befehl ein, auf den „die Quelle“ gewartet hatte. Zwei Wochen nach dem Festival reiste er Anfang Oktober in die Türkei. Mit zwei Personen diskutierte er an einem Tisch über seine Mordpläne. Seine Gesprächspartner waren Angehörige des türkischen Geheimdienstes MIT. Die Quelle zieht manchmal die Nase hoch, gelegentlich sind klingelnde Telefone, Fußschritte und Stühlerücken zu hören. Die Quelle zählt Namen auf und sagt: „Diese drei Personen müssen verschwinden.“ Er fügt hinzu: „Ich beobachte sie, seit ich in Paris bin.“ Er spricht von drei in Paris aktiven Kurd*innen.

Die Quelle beharrt darauf, dass die Umgebung des kurdischen Kulturzentrums in Paris ein idealer Ort für einen Mord ist. Der Geheimdienstmitarbeiter fragt, ob er Fluchtwege ausgemacht hat. Die Quelle spricht selbstsicher über den Plan. Er will eine der Zielpersonen auf dem Nachhauseweg verschwinden lassen, einer weiteren Zielperson soll auf dem Parkplatz beim kurdischen Verein ein Hinterhalt gelegt werden.

Bei der detaillierten Anschlagsplanung am 1. bis 3. Oktober in der Türkei fordert er auch Geld für eine „saubere“ Waffe. Vorher war er bereits im August zu einem heimlichen Besuch in der Türkei.

Verdächtige E-Mail

Während „die Quelle“ in der Türkei war, wurde am 1. Oktober eine skandalöse Mail aus Paris nach Ankara geschickt. Der für seine sensationellen Operationen gegen Kurden bekannte Staatsanwalt Thierry Fragnoli gab in seinem um 9.12 Uhr an die französische Botschaft in Ankara verschickten wütenden Schreiben dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Recep T. Erdogan eine Antwort. Erdogan hatte einige Tage vorher, Ende September, Frankreich und Deutschland verbal angegriffen und gesagt, dass insbesondere diese Länder eine Lösung des Problems nicht wollten und der Türkei nicht helfen würden. Laut Erdogan unterstützte der Westen die PKK finanziell und ließ PKK-Vertreter frei herumlaufen. Und Fragnoli war wütend darüber. Der Staatsanwalt lobte sich mit den Worten: „Seit 2006 bis heute ist Frankreich das einzige Land, dass PKK-Militante festnimmt, vor Gericht stellt, verurteilt und verhaftet.“ Neben ihm selbst seien drei Richter, ein Hilfsrichter und 28 Kommissare ausschließlich mit PKK-Aktivitäten beschäftigt. Dieselbe Mail wurde um 11.32 Uhr mit einem freundlichen Anschreiben an den türkischen Nationalisten M.G. versendet, der sich selbst als Forscher ausgibt und Armeniern und Kurden gegenüber feindselig eingestellt ist.

Nicht einmal eine Woche nach dieser Mail wurde am 6. Oktober der KNK-Vertreter Adem Uzun während eines Gesprächs in Montparnasse verhaftet. Die Staatsanwaltschaft beschuldigte Uzun eines versuchten Waffenkaufs. Der Hinweis war vom türkischen Nachrichtendienst gekommen. Die französischen Dienste agierten außerhalb der Gesetze, setzten ihre Agenten in Bewegung und ließen eine Falle aufstellen. Die Telefonüberwachung von Uzun hatte nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Letztendlich räumte die französische Justiz ein, dass die Staatsanwaltschaft einen Komplott geschmiedet hatte. Am 9. August 2013 wurde Uzuns Freilassung angeordnet. Die damaligen antikurdischen Operationen der französischen Behörden und die Regierungspolitik bereiteten jedoch den Boden für die furchtbaren Verbrechen, die der türkische Staat begehen sollte.

Anschlagsbefehl

Im November 2012 traf der Befehl ein, auf den „die Quelle“ gewartet hatte. Es war eine offene Antwort auf die geheimdienstlichen Informationen, die einen Monat zuvor unter dem Namen „Legionär“ verschickt worden waren. Der Plan war jedoch geändert worden, denn die PKK-Mitbegründerin Sakine Cansiz war aus Deutschland nach Paris zurückgekehrt, um ihren Pass zu erneuern.

Der mit einem Geheimvermerk versehene MIT-Befehl vom 18. November 2012 trug die Unterschriften von O. Yüret, U.K. Ayık, S. Asal und H. Özcan. Die Botschaft war eindeutig und betraf Sakine Cansiz, Codename Sara:

In einer im Oktober an uns verschickten E-Mail von LEJYONER, zu dem entsprechend der Ziele, die Aktivitäten von KONGRA-GEL (PKK) KCK in FRANKREICH/Paris zu dechiffrieren und außerdem hochrangige Organisationsmitglieder unschädlich zu machen, Kontakt besteht, ist mitgeteilt worden, dass einer der wichtigsten in EUROPA aktiven Kader von KONGRA-GEL (PKK) KCK, Sara Code Sakine CANSIZ nach Paris / Villiers Le Bel gekommen ist.

Die einige Tage nach der Ergreifung von Adem UZUN durch französische Sicherheitskräfte in FRANKREICH eingetroffene Sara Code Sakine CANSIZ hat über die von der Organisation beauftragte Vermittlung der Quelle offizielle Angelegenheiten wie die Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis und des Passes erledigt.

Als die Quelle zum letzten Mal zu Gesprächen mit unserer Seite in unser Land gekommen ist, ist die Anordnung erteilt worden, im Rahmen der für operative Möglichkeiten in Form von Angriff/Sabotage/Anschlag gegen die Organisationsziele in EUROPA Vorbereitungen gegen die festgelegten Personen zu treffen, die für die Arbeit notwendige Ausrüstung bereitzustellen und bei jeder Form der Kommunikation mit unserer Seite maximale Sorgfalt zu zeigen. Für mögliche Ausgaben ist eine Zahlung von 6000 Euro geleistet worden.

Die Quelle hat die Möglichkeit erreicht, in der kommenden Zeit über die allgemeinen Aktivitäten in EUROPA, die Kommunikationskanäle, die Schriftverkehr- und Aufenthaltsadressen von Sara Code Sakine CANSIZ informiert zu sein, und kann auch im Rahmen eines operationellen Vorhabens zur Unschädlichmachung des genannten Organisationsmitglieds eingesetzt werden.

In diesem Zusammenhang wird geplant, unter Berücksichtigung der Sicherheit der Quelle und Tätigkeit, LEJYONER mit den zuvor festgelegten codierten Ausdrücken im Rahmen einer Initiative gegen Sara Code Sakine CANSIZ zu beauftragen.“

Originallink: https://anfdeutsch.com/hintergrund/die-anatomie-der-morde-von-paris-teil-1-23774

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TEIL 2

Die zwischen Ankara und Paris geschmiedeten Mordpläne fielen in eine harte Zeit. Der türkische Staat versuchte die Vorbereitungen der Guerilla für den Winter 2011/2012 zu unterminieren. Die Guerillagebiete wurden heftig bombardiert. Auch der gesamte Sommer war von Kämpfen geprägt. Es war eine der gewalttätigsten Phasen der letzten dreißig Jahre. Die PKK teilte im Sommer 2012 mit, innerhalb von einer Woche die Kontrolle über weite Bergregionen gewonnen zu haben. Die türkische Armee konnte diese Gebiete nicht betreten.

Diese Phase dauerte bis Januar 2013 an. Sara und Rojbîn kehrten am 6. Januar aus Brüssel nach Paris zurück. Beide waren in unterschiedlichen Angelegenheiten in Belgien gewesen. Parallel dazu hatten geheime Gespräche zwischen dem türkischen Staat und Abdullah Öcalan begonnen. Als Ergebnis konnte am 3. Januar erstmalig eine Delegation der BDP auf Imrali mit Öcalan sprechen. Dieses Treffen stellte den Beginn einer neuen Zeit dar. Abdullah Öcalan bereitete sich auf zerbrechlichen Wegen auf die Ausrufung dieser neuen Zeit am 21. März vor.

Der türkische Staat plante unterdessen den Anschlag in Paris. Seine „Quelle“ observierte die Zielpersonen. In der Nacht vom 7. auf den 8. Januar drang Ömer Güney in den kurdischen Verein in Villiers-le-Bel ein und fotografierte die Mitgliederlisten, die er dem Computer entnahm. Es war ungefähr vier Uhr. Er fertigte Fotos von insgesamt 329 Mitgliedsdokumenten an.

Sara und Ronahî (Leyla Şaylemez) planten, am 9. Januar nach Köln zu fahren. Rojbîn reservierte am 8. Januar gegen 18 Uhr online Platzkarten. Sara und Ronahî sollten am 9. Januar in Porte de la Chapelle in den Zug nach Köln steigen. Ronahî war seit zwei Monaten in Frankreich.

Dreißig Sekunden am 9. Januar

Ronahî hatte die Nacht in Les Mureaux verbracht und kam am 9. Januar kurz nach elf Uhr im Kurdistan-Informationszentrum in der Nähe des Gare du Nord an. Sara war zu dieser Zeit auf dem Rückweg von der Post in Bobigny zum Informationszentrum. Die „Quelle“ folgte ihr. Sie waren zusammen ins Postamt gegangen, Ömer Güney war ihr bei der französischen Sprache behilflich. Beide kamen um ungefähr 11.30 Uhr im Informationszentrum an. Sara und Ronahî hatten nur noch wenig Zeit, sie mussten sich schnell fertig machen und losgehen. Güney verließ das Gebäude nach zwanzig Minuten um 11.49 Uhr. Rojbîn rief um 12.32 Uhr im KNK in Brüssel an, weil sie etwas für eine Übersetzung brauchte. Das war das letzte Telefonat, dass vom Informationszentrum aus geführt wurde.

„Quelle“ kehrte zu seinem Auto in einem unterirdischen Parkhaus zurück und öffnete den Kofferraum. Fünf Minuten später, um 12.05 Uhr, verließ er das Parkhaus und ging mit schnellen Schritten zum Informationszentrum. Dort kam er um 12.10 Uhr an. Wie er in das Gebäude gekommen ist, ist unklar. Es wird angenommen, dass er die Tür die geöffnet hat, ohne den Code zu benutzen. Möglicherweise hat er die Tür vorher offen gelassen. Nach dem Betreten des Gebäudes ging er nicht sofort nach oben. Das Büro befand sich im ersten Stock. Die Zwischentür musste mit einem Magnetschlüssel geöffnet werden.

Rojbîn verschickte um 12.20 Uhr eine SMS an den Besitzer des Autos, mit dem Sara und Ronahî zum Bahnhof gebracht werden sollten. Zwanzig Minuten später öffnete sie die Internetseite „Free Ocalan“.

„Quelle“ wartete unterdessen immer noch im Gebäudeeingang. Eine Frau aus dem dritten Stock ging an ihm vorbei und verließ das Haus. Während Sara und Ronahî sich auf ihre Abreise vorbereiteten, erschien er an der Tür. Zeit für Gegenwehr blieb ihnen nicht. Die Quelle stand hinter Sara und begann zu schießen. Er schoss erst Rojbîn und dann Ronahî in den Kopf. Die dritte Kugel traf Saras Kopf. Die Quelle hatte mit einem 7,65-Kaliber-Revolver drei kurdische Frauen ermordet. Zuletzt näherte er sich Rojbîn und schoss ihr in den Mund. Als er mit verhülltem Kopf das Gebäude verließ, war es 12.56 Uhr. Der Dreifachmord hat nur dreißig Sekunden gedauert. Die Quelle hielt sich 45 Minuten in dem Gebäude auf.

Ein unendlicher Tag

Die Telefone von Sara, Rojbîn und Ronahî klingelten den ganzen Tag. Der Festnetzanschluss im Informationsbüro wurde angerufen. Es wurden Nachrichten geschickt. Um 13.31 klingelte eine bekannte Person an der Tür, niemand antwortete. Die Person ging nach 45 Sekunden ohne irgendeinen Verdacht weiter. Um 20.30 Uhr herrschte bereits große Besorgnis. Um Mitternacht gingen eine Kurdin und ein Kurde in die Rue La Fayette Nr. 147 und betraten das Gebäude. Sie kannten den Türcode, aber für die Zwischentür war ein Magnetschlüssel erforderlich. Da im Informationsbüro niemand öffnete, klingelten sie bei den Nachbarn. Nur einer reagierte und drohte mit der Polizei. Eine Weile später kam eine dritte Person an. Es stellte sich heraus, dass sich die Tür durch etwas Druck öffnen ließ. Die drei Kurd*innen liefen sofort in die erste Etage und öffneten die Bürotür mit einem Schlüssel. Ihnen bot sich ein schreckliches Bild. Rojbîn lag neben Sara auf dem Rücken, ihre Knie waren angewinkelt. Sara lehnte mit dem Rücken am Fernseher. Neben ihnen lag ein kleiner Koffer. Ronahî war auf den Bauch gefallen, ihre Haare bedeckten ihr Gesicht. In den Räumlichkeiten sah es ordentlich aus, aber alles war voller Blut. Frauen aus drei Generationen waren an einer Stelle ermordet worden.

Als ANF die erste Meldung brachte, war es ungefähr 2.30 Uhr. Die Schockwelle breitete sich schnell aus. Vor dem Informationszentrum und dem kurdischen Verein trafen immer mehr Menschen ein.

„Quelle“ war inzwischen die Waffe und Saras Handtasche, die er mitgenommen hatte, losgeworden und hatte seine Kleidung gesäubert. Seinen Pass mit den türkischen Einreisestempeln versteckte er hinter dem Autoradio. Er war unter den ersten Personen, die am Tatort eintrafen.

Im Morgengrauen wusste die Mehrheit der Kurdinnen und Kurden von den Morden. Bei der Guerilla in den Bergen Kurdistans, in Europa, Afrika, Australien und Amerika, überall herrschte ein kollektiver Schockzustand. Die tiefe Trauer wurde innerhalb kurzer Zeit von Wut abgelöst. Die Menschenmenge in der Rue La Fayette wurde immer größer. Allen war klar, dass es sich um eine groß angelegte Provokation handelt. Unabhängig von den Stellungnahmen der betreffenden Behörden gab es bei den Kurden keinen Zweifel an der Täterschaft. Verantwortlich waren die Feinde der kurdischen Befreiungsbewegung, die sich gegen eine friedliche Lösung stellten und sich von Blut und Hass ernährten. Der Mörder war der türkische Staat. Das war für die Kurden von Anfang an Fakt.

Der damalige französische Innenminister Manuel Valls traf am 10. Januar um neun Uhr am Tatort ein und sagte, dass es sich „ohne jeden Zweifel“ um eine Hinrichtung handele. Er sprach von einem „nicht hinnehmbaren schweren Vorfall“. Staatspräsident François Hollande bezeichnete den Dreifachmord als „schrecklich“ und wies darauf hin, dass er Rojbîn persönlich kannte. Türkische und auch einige französische Quellen versuchten von dem offensichtlich politischen Mord abzulenken und ihn als „interne Abrechnung“ zu verkaufen. Diese Darstellung ging nicht auf.

Originallink: https://anfdeutsch.com/hintergrund/die-anatomie-der-morde-von-paris-teil-2-23791

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TEIL 3

Ein Jahr nach den Morden in Paris tauchten eine Tonaufnahme und ein Dokument auf. Damit wurde aufgezeigt, dass der Anschlag mit Zustimmung des türkischen Staates vom MIT organisiert war. Der Mitschnitt eines Gesprächs zwischen MIT-Angehörigen und dem als „Quelle“ bezeichneten Ömer Güney wurde am 12. Januar 2014 im Internet veröffentlicht. Zwei Tage später wurde der im November 2012 unterzeichnete Schießbefehl öffentlich gemacht.

Fluchtplan

Wenige Tage zuvor, am 4. Januar 2014, erwartete Ömer Güney Besuch im Gefängnis. Das Gespräch mit seinen beiden Komplizen in Deutschland, Ruhi S. und Ümit S., wurde von der Staatsanwaltschaft aufgezeichnet. Güney forderte Ruhi S. mit codierten Begriffen auf, den MIT zu kontaktieren. Bei einem Telefongespräch am 6. Januar wiederholte er die Aufforderung, Ruhi S. sollte zur „Mutter“, also zum MIT gehen. Er teilte mit, dass er in Kürze zur stationären Behandlung ins Krankenhaus kommt, und verwies auf den Fluchtplan, den er Ruhi S. bei einem vorherigen Gespräch übermittelt hatte.

Bei einer Hausdurchsuchung bei Ruhi S. und dem anschließenden Verhör kam das Gericht zu der Erkenntnis, dass „Anne“, das türkische Wort für Mutter, den MIT bezeichnet. Mit „Bey“ war ein MIT-Mitarbeiter gemeint. Ruhi S. hatte gestanden. Auf einem ihm übergebenen Papier war die MIT-Zentrale in Ankara-Ulus markiert. Das Telefon von Ruhi S. wurde von Fachleuten untersucht, dabei wurden auch zuvor gelöschte Fotos wiederhergestellt. Auf drei Fotos vom 9. Januar 2014 befand sich der Plan zur Flucht aus dem Pariser Universitätsklinikum Pitié Salpêtrière. Eine Liste mit Forderungen war besorgniserregend: 150 Kilogramm C4-Sprengstoff, zehn Handgranaten, zwei Uzi, zwei Baretta, ein RPG7… Es gab noch eine weitere Liste mit ähnlichen Forderungen. Eine dieser beiden Nachrichten an Ruhi S. war mit „Verwundeter Wolf“ unterzeichnet.

Verdächtiger Tod

Vier Jahre nach den Morden warteten die Angehörigen der drei Frauen, das kurdische Volk und seine Freundinnen und Freunde immer noch auf Gerechtigkeit. Am 17. Januar 2013 war Ömer Güney festgenommen worden und befand sich seitdem in Untersuchungshaft. Er starb am 17. Dezember 2016 im Alter von 34 Jahren unter verdächtigen Umständen. Der Prozess gegen ihn sollte kurze Zeit später beginnen. Der Auftakt des Gerichtsverfahren war eigentlich für Dezember geplant, wurde jedoch aus nicht öffentlich bekannt gegebenen Gründen verschoben. Der erste Prozesstermin war für den 23. Januar 2017 angesetzt. Bis zum 24. Februar sollte vor einem Pariser Strafgericht verhandelt werden. Mit dem Tod des Angeklagten wurde der Prozess eingestellt.

Die Geständnisse der MIT-Funktionäre

Mit der Zeit tauchten immer mehr Belege dafür auf, dass der türkische Nachrichtendienst den Anschlag organisiert hat. In der Anklageschrift wurde die Rolle des MIT klar benannt, es habe sich jedoch nicht feststellen lassen, ob der Befehl von ganz oben gekommen ist. Die türkische Seite trug in keiner Weise zu den Ermittlungen bei, alle Anfragen blieben unbeantwortet.

Anfang 2017 wollten die Angehörigen eine Fortsetzung der Ermittlungen und stellten Strafanzeige bei der Pariser Staatsanwaltschaft. Am 12. März 2018 wurde eine zweite Anzeige gestellt. Die Angehörigen forderten die Fortführung des Verfahrens durch einen neuen Ermittlungsrichter. Dem Strafantrag wurden neue Belege über die Planung des Anschlags durch den türkischen Geheimdienst beigefügt.

Am 10. Januar 2018 veröffentlichte ANF die Geständnisse von zwei MIT-Verantwortlichen. Erhan Pekçetin, Verantwortlicher für Auslandsoperationen, und Aydin Günel, Verantwortlicher für „menschliche Ressourcen“, waren am 4. August 2017 bei der Planung von Anschlägen gegen die PKK-Führung in Südkurdistan gefasst worden. Beide haben die Echtheit des mit „Top Secret“-Vermerk versehenen Anschlagsbefehls und des Tonmitschnitts von dem Gespräch, bei dem über den Mordplan gesprochen wurde, bestätigt. Die Geständnisse erbrachten auch Klarheit über die vollen Namen und Aufgaben der MIT-Angehörigen, die das am 14. Januar 2014 bekannt gewordene Geheimpapier unterzeichnet hatten:

Uğur Kaan Ayık: War zum Zeitpunkt der Geständnisse Vorsitzender der Abteilung für Sonderaufgaben. Nach Angaben seines Kollegen Aydin Günel war er zur Zeit der Pariser Morde Vorsitzender der Abteilung für ethnisch-separatistische Aktivitäten im Ausland.

Oğuz Yüret: War 2018 Vorsitzender der MIT-Abteilung in Wan. 2013 war er Direktor der für Operationen verantwortlichen Abteilung.

Sabahattin Asal: War 2018 stellvertretender Inspektor für strategische Nachrichten. 2013 war er Vizevorsitzender der Abteilung für ethnisch-separatistische Aktivitäten.

Ayhan Orhan: War Mitarbeiter der Operationsabteilung.

Mit der staatlichen Delegation auf Imrali

Nach Angaben der ehemaligen MIT-Funktionäre, die von der PKK gefangen genommen wurden, hat Sabahattin Asal den Pariser Anschlag geplant. Diese Person war gleichzeitig Teil der staatlichen Delegation, die Gespräche mit Abdullah Öcalan und der PKK geführt hat. Er gilt als rechte Hand von MIT-Chef Hakan Fidan.

Erhan Pekçetin hat ausgesagt, dass er die Personen kennt, die auf dem am 12. Januar 2014 bekannt gewordenen Tonmitschnitt zu hören sind. Seinen Angaben zufolge hat das Gespräch in einem Hotel in Ankara stattgefunden, das Flugticket für Ömer Güney wurde von einer MIT-nahen Agentur in Yeni Mahalle gestellt. Er geht davon aus, dass ein derart sensibler Mord nicht ohne Erdogans Zustimmung hätte stattfinden können. Zur Hierarchie des Schießbefehls sagt er, dass dieser dem Inspektor vorgelegt werden muss: „Der Inspektor fragt sogar den Staatspräsidenten, ich denke nicht, dass er eine solche Entscheidung alleine trifft. Es geht schließlich um ein Thema, das zu internationalen Schwierigkeiten führen kann. Diese drei Personen sind nach kurzer Zeit befördert worden. Sie wurden sehr schnell befördert.“

Bei den genannten drei Personen handelt es sich um Oğuz Yüret, Uğur Kaan Ayık und Ayhan Orhan.

In Belgien gefasste Attentäter

Die Pariser Staatsanwaltschaft entschied im Mai 2019, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Zu diesem Zweck wurde zunächst ein Ermittlungsrichter damit beauftragt, die Komplizen von Ömer Güney zu ermitteln. Damit gaben die französischen Autoritäten zu, dass noch nicht alles unternommen worden ist, um die Täter zu finden. Zu dem Ermittlungsverfahren trugen auch neue Informationen von deutschen und belgischen Behörden bei. Die Angehörigen und ihre Anwält*innen verwiesen im Zusammenhang mit den Pariser Morden auf ein breites Netzwerk in Europa.

Im Juni 2017 hielt die belgische Polizei drei Verdächtige auf, nachdem sie entsprechende Informationen von kurdischen Organisationen bekommen hatte. Dieser Vorfall trug maßgeblich zur Wiederaufnahme der Ermittlungen in Paris bei. Die drei Personen in dem gestoppten Fahrzeug planten einen Mordanschlag auf den kurdischen Politiker Remzi Kartal, Ko-Vorsitzender von Kongra-Gel. Einer der Verdächtigen war ehemaliger Soldat der türkischen Armee. Ein anderer zeigte seinen türkischen Polizeiausweis vor. Nach Angaben aus Ermittlungskreisen waren diese beide Personen zusammen mit vier weiteren türkischstämmigen Personen seit dem 16. Juni in Paris. Bei einem von ihnen soll es sich um einen Scharfschützen handeln. Laut einer kurdischen Quelle verdächtigt die belgische Polizei einen hochrangigen türkischen Diplomaten in Paris, der diese Aktivitäten koordinieren soll. Die belgischen Behörden untersuchen den Fall, die Akte steht jedoch unter Geheimhaltung.

Die Kurdinnen und Kurden fordern auch Anfang 2021 weiter Gerechtigkeit ein. Noch sind nicht alle Puzzleteile dieser politischen Morde zusammengefügt. Der türkische Staat unterhält in vielen europäischen Ländern Netzwerke, die im Zusammenhang mit den Morden von Paris stehen. Darum geht es in den neu aufgerollten Ermittlungen. Ob etwas dabei herauskommt, ist nicht bekannt. Bisher gibt es keine Erklärung der Behörden zu eventuellen Fortschritten bei den Ermittlungen.

Originallink: https://anfdeutsch.com/hintergrund/die-anatomie-der-morde-von-paris-teil-3-23812

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