„AKP setzt Flüchtlinge nach außen gegen EU und nach innen gegen Kurden und Aleviten als Druckmittel ein“

bese-hozat-mujganhalis2Besê Hozat im Interview mit Med Nuçe TV, ANF, 12. April 2016

Die Ko-Vorsitzende des KCK Exekutivrates Besê Hozat bewertete gegenüber dem Fernsehsender Med Nuçe TV den aktuellen Aufruf des türkischen Ministerpräsidenten Davutoğlu  zum Rückzug der PKK, die Drohung des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan, Kurdinnen und Kurden ausbürgern zu lassen und die Pläne der AKP, in kurdisch-alevitischen Siedlungsgebieten Flüchtlinge ansiedeln zu wollen.

Seit mehr als einem Jahr erreicht kein Lebenszeichen des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan mehr die Öffentlichkeit. Und mitten in dieser angespannten Phase hat der türkische Ministerpräsident Davutoğlu bestimmte Aussagen getroffen, die für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Davutoğlu  erklärte, dass bei einem Rückzug der PKK aus der Türkei wie im Jahr 2013 die Lösungsgespräche wieder beginnen könnten. Daraufhin hat der Staatspräsident Erdoğan in einer Erklärung deutlich gemacht, dass es keine Verhandlungen mehr geben werde und man bis zur Vernichtung der Guerilla die Angriffe fortsetzen werde. Wie bewerten sie als Kurdische Freiheitsbewegung diese Aussagen?

In jüngster Zeit werden Diskussionen wie diese geführt. Dadurch soll der Anschein erweckt werden, als herrschten Meinungsverschiedenheiten zwischen Davutoğlu und Erdoğan in dieser Frage. Ganz so, als sei Davutoğlu aufgeschlossener in der kurdischen Frage, während der Staatspräsident den radikalen Kurs fahre. Sie versuchen einen solchen Anschein zu erwecken. Aber wir wissen, dass das nicht viel mehr als ein Schauspiel ist. Beide vertreten in der kurdischen Frage denselben Standpunkt, beide stehen hinter dem Verleugnungs- und  Vernichtungskurs der AKP in dieser Frage. Allein die Aufforderung von Davutoğlu macht das deutlich. Was ist denn 2013 geschehen? Auch damals wurde erklärt, dass im Falle eines Rückzugs der Guerilla die Regierung Schritte in Richtung einer Lösung der kurdischen Frage tätigen würde. Die Guerilla hat sich zurückgezogen, die Schritte der Regierung sind allerdings ausgeblieben. Somit war 2013 auch das Vernichtungskonzept der AKP am Werk. Sobald die Guerilla den Rückzug begonnen hat, hat die AKP Schritte zur Vorbereitung des Krieges in Gang gesetzt. Sie hat neue Militärstationen errichtet, sogenannte Sicherheitsstaudämme gebaut und zum Zwecke der „Sicherheit“ neue Straßen gebaut. Sie hat das Dorfschützersystem ausgebaut. Sie hat gegen die Errungenschaften von Rojava einen Krieg geführt. Die AKP hat also zu keinem Zeitpunkt aufgehört Krieg zu führen.

Und trotz der Gespräche auf Imrali haben sich auch die Bedingungen unseres Vorsitzenden Öcalan, dem Hauptverhandlungspartner bei der Lösung der kurdischen Frage, nicht grundlegend verändert. Es wurden keine Bedingungen geschaffen, die seine Gesundheit und Sicherheit grundlegend sichern könnten. Die einzige Delegation, die mit Herrn Öcalan während des gesamten Lösungsprozesses Gespräche führen konnte, war die Delegation der HDP. Eigentlich hätte in jener Phase ein direkter Dialogkanal mit uns, also mit Kandil eröffnet werden müssen. Das ist nicht geschehen. Auch die Forderung, dass die Presse oder Vertreter der Zivilgesellschaft mit ihm Gespräche führen sollten, um den Prozess der Öffentlichkeit besser verständlich machen zu können, wurde nicht erfüllt. Eine dritte, unabhängige Kraft sollte den Verlauf des Lösungsprozesses mitverfolgen. Auch das wurde von Seiten der Regierung nicht umgesetzt. Die gesamten Gespräche hatten keinen offiziellen Charakter. Sie wurden nicht aufgezeichnet. Es gibt keine Dokumente, die von Herrn Öcalan und den Vertreter des Staates gemeinsam unterzeichnet worden sind.

Hatte Herr Öcalan dies im Lösungsprozess gefordert?

Ja, natürlich. Sowohl Herr Öcalan als auch wir hatten entsprechende Forderungen, damit die Gespräche über den Charakter einer gewissen Verbindlichkeit verfügen. Allerdings hat die Regierung auf keine dieser Forderung reagiert. Weshalb? Weil kein wirklicher Lösungsprozess im Gange war. Das war kein Lösungsprozess, das war eine Hinhaltepolitik, eine Vernichtungspolitik. Das beweisen die zeitgleichen Kriegsvorbereitungen der Regierung. Der gegenwärtige Krieg wurde also von der AKP seit Jahren vorbereitet. Die AKP hatte zum keinen Zeitpunkt ein tatsächliches Lösungsprojekt für die kurdische Frage. Sie hat auch heute kein solches Konzept. Ihre Politik ist es, mittels der Kriegs ihre Vernichtungspolitik auszuweiten.

Nun sagen manche, die PKK solle sich ergeben und die Waffen niederlegen. Erdoğan sagt, „entweder senken sie ihre Köpfe, oder sie geben ihre Köpfe her.“ Davutoğlu sagt eigentlich dasselbe. „Wenn ihr euch ergebt, dann können wir wieder Gespräche führen“.  Was soll es denn noch für einen Dialog geben, wenn wir uns ergeben haben. Aus unserer Sicht sind diese Äußerungen nicht ernst zu nehmen. In zwei Jahren des Dialogs hat die Regierung keinerlei Schritte getan. Dann kam es im Oktober 2014 zu einer Versammlung des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei. Dort wurde entschieden, dass gegen die Kurdische Freiheitsbewegung wieder Angriffe aus der Luft geflogen werden sollen. Auch die Festnahmeoperationen wurden mit dieser Versammlung wieder aufgenommen. Dann kam es noch zuden Anschlägen in Suruç und Ankara, die in Koproduktion mit dem sogenannten Islamischen Staat durchgeführt wurden. Das Vernichtungskonzept wurde also wieder voll in Gang gesetzt. Die aktuelle Zerstörung der kurdischen Städte ist die Fortsetzung dieses Konzepts. Die genozidalen Massaker, die in den Gründungsjahren der türkischen Republik gegen die kurdische Bevölkerung durchgeführt worden, wiederholen sich unter der AKP-Regierung in neuer Form.

Was sagen sie zu den Äußerungen Erdoğans, wonach Kurden ausgebürgert werden sollen?

Das ist eigentlich eine äußerst ironische Aussage. Denn die Kurdinnen und Kurden waren nie tatsächliche Staatsbürger der Republik Türkei. Sie wurden nie als wirkliche Bürger dieses Landes akzeptiert. Werden denn Türken und Kurden in der Türkei gleich behandelt? Gibt es eine gleichberechtigte Bürgerschaft im Land?

In Kurdistan waren die Menschen stets mit Massakern konfrontiert. Sie wurden Gefängnisse gesteckt. Sie wurden einem kulturellen, politischen und ökonomischen Genozid ausgesetzt. Die Armut in Kurdistan spricht auch heute für sich. Die Kurden finden keine Arbeit, können ihren Lebensunterhalt kaum verdienen. Wenn sie Arbeit finden, arbeiten sie unter unwürdigen Bedingungen, die der Sklaverei gleichen. Wo kann man hier von einer gleichberechtigten Staatsbürgerschaft sprechen. In Nordkurdistan ist die Rede von 20 Millionen Kurdinnen und Kurden. Aber ihre Existenz, ihre Sprache, ihre Kultur wird verleugnet. Unter diesen Bedingungen von Staatsbürgerschaft zu sprechen, ist absurd.

Was wollen Sie zu den Versuchen der Regierung sagen, die demographischen Gegebenheiten in den kurdischen Siedlungsgebieten zu verändern? Besonders in der Stadt Maraş sind ja entsprechende Pläne über die Medien öffentlich geworden?

Das hängt eng mit der Flüchtlingspolitik der AKP zusammen. Die AKP hat aktiv zur Intensivierung des Krieges in Syrien beigetragen und so die Flüchtlingsströme befördert. Sie hat die Grenzen für die flüchtenden Menschen aufgemacht. Nun setzt sie die Flüchtlinge nach außen hin als Druckmittel gegen die EU ein. Nach innen hin versucht sie die Flüchtlinge gegen die Kurden einzusetzen. Die Pläne, die kurdische Bevölkerung aus Kurdistan zu vertreiben, sind nicht neu. Seit hundert Jahren sind diese Pläne Teil einer Staatspolitik. Doch die Pläne konnten nie erfolgreich umgesetzt werden, weil immer Widerstand dagegen geherrscht hat. Nun setzt die Regierung auf einen großen Krieg gegen die kurdischen Siedlungsgebiete und versucht so, die Menschen zur Flucht zu treiben. An die Stelle der Vertriebenen sollen dann die Flüchtlinge aus Syrien angesiedelt werden. Viele der Flüchtlinge, die in Kurdistan angesiedelt werden sollen, sind IS-Anhänger. Der türkische Staat will in Kurdistan Camps für diese IS-Sympathisanten errichten und von dort aus auf ein Reservoir an Kämpfern und Agenten zurückgreifen.

Es ist nicht so, dass die Kurden Probleme mit arabischen oder afghanischen Menschen hätten. Im Gegenteil, sie sind bereit mit Menschen jeder Volkszugehörigkeit friedlich zusammenzuleben. Denn die Kurden sind keine nationalistische Volksgruppe. Das Problem sind die Pläne der AKP-Regierung. Sie siedelt bewusst IS-Sympathisanten in den Regionen an, in denen kurdische Aleviten leben. Sie will den IS in Kurdistan gegen die Aleviten kämpfen lassen. Der Plan in Maraş ist, ein Kampf zwischen Sunniten und Aleviten zu erzeugen. Wir haben es hier also nicht nur mit einem Problem der Lokalbevölkerung von Maraş zu tun. Das ist ein Problem aller Aleviten. Die Regierung plant eine Genozid-Politik gegenüber den Aleviten. Hiergegen müssen die Aleviten Widerstand leisten, sie müssen aufstehen. Alle Kurden müssen aufstehen. Die Flüchtlingsbewegung wird von der AKP für gefährliche Zwecke missbraucht.