Ein Beitrag von Abdullah Öcalan zur demokratischen Lösung der kurdischen Frage und dem Spannungsfeld zwischen Konföderalismus und Nationalstaat, Civaka Azad, 27.06.2017
Die Probleme, welche die kapitalistische Moderne verursacht, wurden stets mit den nationalstaatlichen und nationalistischen Paradigmen angegangen. Der Nationalstaat wurde immer als der wichtigste Akteur für die Lösung dieser Probleme präsentiert. Um die Nationalstaaten richtig zu verstehen, müssen wir ihre Stellung im hegemonialen System, sowie ihre Verbindungen zum Kapitalismus und Industrialismus begreifen. Auch die sozialistische Ideologie konnte keine grundsätzliche Lösung für das Problem des Staates entwickeln und verschleierte es auf diese Weise noch mehr. Doch die ausschlaggebende Ursache für die Vertiefung dieses Problems war, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker als gleichbeutend mit der Losung „für jede Nation einen Staat“ aufgefasst wurde.
Meine Verteidigungsschriften setzen sich im Kern mit der kurdischen Realität und der Existenz der Kurden im Widerspruch mit der Zivilisation und der Moderne auseinander. Sie machen klar, dass für die Entstehung der kurdischen Frage der Kapitalismus verantwortlich ist, und sie trennen den demokratischen Kern ihrer Lösung erstmals vom Verständnis der Nationalstaatlichkeit. Das macht den Kern der Transformation der PKK aus. Und das stellt auch die Klärung der Frage zwischen einer staatsfixierten und einer demokratischen Lösung dar, welche die PKK seit ihrer Phase als junge Bewegung begleitete. An diesem Punkt wird auch der Unterschied zum Realsozialismus und der klassisch marxistisch-leninistischen Doktrin deutlich. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde dem bourgeoisen Rechtsverständnis entrissen und in das Modell gesellschaftlicher Demokratie integriert. Das bedeutet, dass die kurdische Frage ohne in Berührung mit der Staatlichkeit zu kommen und zu national-staatlichen Bestrebungen sowie Lösungen in deren Sinne gezwungen zu werden im Rahmen von demokratischen Verwaltungsmodellen gelöst werden kann. Das stellt den Kern der Transformation der PKK dar.
Das demokratische Lösungsmodell ist nicht nur eine Option, es ist die primäre Methode um Probleme zu lösen. Die demokratische Lösung beschreibt das Streben nach Demokratisierung der Gesellschaft außerhalb des Nationalstaates. Als Konzept begreift es den Nationalstaat gemeinsam mit dem Kapitalismus nicht als Lösung der gesellschaftlichen Probleme, sondern als Ursache der wachsenden Probleme. Das demokratische Lösungsmodell darf nicht als die Umstrukturierung des unitären Nationalstaates in eine föderale oder konföderale Form begriffen werden. Denn die föderale oder konföderale Form des Nationalstaates stellt keine demokratische Lösung dar. Bei diesen Formen handelt es sich lediglich um unterschiedliche Formen des Staates, weswegen sie zu nichts anderem als der Vertiefung der Probleme führen können. Vielleicht mag aus Sicht des kapitalistischen Systems eine Umformung des steif zentralistischen Nationalstaates in föderale oder konföderale Formen zu einer teilweisen Abschwächung der Probleme führen, aber zu tiefgreifenden Lösungen führen sie nicht. Man kann die föderalen und konföderalen Formen als mögliche Kompromisslösungen zwischen den Kräften der demokratischen Lösung und der nationalstaatlichen Lösungen bezeichnen. Aber von einer Anwendung dieser Kompromisse zu erwarten, dass sie die Probleme an der Wurzel packen, wäre nichts als Selbsttäuschung. In der Tat wissen wir, dass Staaten, die aus nationalen Befreiungsbewegungen resultieren oder realsozialistische Staaten, nichts anderes sind, als Nationalstaaten mit einer linken Maske.
Wir müssen dringend festhalten, dass die Methode der demokratischen Lösung nicht in Gänze losgelöst vom Nationalstaat ist. Die Demokratie und der Nationalstaat können als zwei Autoritäten unter einem Dach ihre Rolle spielen. Ein positiver Wandel des Nationalstaates hängt mit der Demokratisierung, den demokratisch-autonomen Verwaltungen, dem Aufbau der Demokratischen Nation, sowie der Entwicklung der lokalen Demokratie und der demokratischen Kultur in allen gesellschaftlichen Bereichen zusammen.
Die KCK, die als demokratische und nicht-staatliche Interpretation des Selbstbestimmungsrechtes der Völker bezeichnet werden kann, muss als tiefgreifenden Wandel der nationalen Frage bewertet werden. Die KCK ist der konkrete Ausdruck der demokratischen Lösung und hebt sich deshalb von den traditionellen Verständnissen ab. Sie sieht die Lösung nicht in der Übernahme eines Teils des Staates. Sie izielt nicht auf einen Staat ab, nicht einmal im Sinne einer Autonomie für die Kurden. Ihr Ziel ist auch kein föderaler oder konföderaler Staat. Das ist nicht ihre Lösung. Ihre Hauptforderung an den Staat ist, dass dieser das Recht der Kurden, sich mit dem eigenen freien Willen selbst zu verwalten, anerkennt und kein Hindernis dafür darstellt, dass die Kurden zu einer demokratischen nationalen Gesellschaft werden. Die demokratische Lösung können weder Staaten noch Regierungen entwickeln. Für die Lösung sind die gesellschaftlichen Kräfte selbst verantwortlich. Die gesellschaftlichen Kräfte streben nach Vereinbarungen mit Staaten oder Regierungen im Sinne einer demokratischen Verfassung. Die Teilung der Verwaltung zwischen den demokratisch-gesellschaftlichen Kräften und dem Staat bzw. der Regierung wird nämlich in den Verfassungen geregelt.
Im Grundsatz ist die demokratische Lösung der Zustand eine demokratische Nation zu sein und der Aufbau einer Gesellschaft in Form einer demokratischen nationalen Gesellschaft. Es heißt nicht, durch den Staat eine Nation zu werden oder durch den Staat den Zustand einer Nation zu verlassen; es ist schlichtweg die Fähigkeit der Gesellschaft sich selbst als eine demokratische Nation zu gestalten. In diesem Zusammenhang müssen wir die Definition der Nation noch einmal vornehmen. Zunächst sollten wir festhalten, dass es nicht nur eine Form der Nation gibt. Das haben wir oben ausführlich diskutiert. Die Demokratische Nation ist die gemeinsame Gesellschaft, die freie Individuen und Gesellschaften mit ihrem eigenen Willen bilden. Die vereinende Kraft der Demokratischen Nation ist der freie Wille der Individuen und Gruppen, die beschließen, eine gemeinsame Nation zu werden. Das Verständnis der Nation, die auf der Sprache, Kultur, dem Markt und der Geschichte beruht, beschreibt die Staatsnation und kann deshalb nicht verallgemeinert werden. Es kann also nicht nur ein Verständnis von der Nation geben. Denn dieses Nationenverständnis, auf das sich auch der Realsozialismus berufen hat, ist das Gegenteil der Demokratischen Nation. Dass dieses Verständnis der Nation insbesondere von Stalin für die Sowjetunion entwickelt wurde, ist letztlich zu einem der Hauptgründe für ihren Niedergang geworden. Solange dieses Nationenverständnis, das durch die Kapitalistische Moderne zum alleinigen Verständnis von Nationen verklärt wird, nicht überwunden wird, werden die nationalen Probleme auch nicht aus der Sackgasse herauskommen. Dass seit mehr als 300 Jahren nationale Fragen in all ihrer Schwere weiterbestehen, hängt mit dieser unzureichenden und absoluten Definition zusammen.
Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.
* Der Text ist eine Übersetzung aus der Verteidigungsschrift von Abdullah Öcalan „Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü – Kültürel Soykirim Kiskacinda Kürtleri Savunmak“ (Die kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation – Unter der Bedrohung durch den Genozid die Kurden verteidigen), welches in türkischer Sprache im März 2012 im Mezopotamya Verlag erschien.
Weitere Bücher von Abdullah Öcalan, in 11 Sprachen, werden vorgestellt bei: http://www.ocalan-books.com/