Ein Kommentar von Harun Ercan zu den Apellen der regionalen Staaten im Mittleren Osten gegenüber den Kurden in Syrien, 28.06.2017
Der Mittlere Osten ist eine Region in der sich die ungeahntesten Dinge ereignen können. Bei einem Rückblick in den Oktober 2014 kommt einem die Zeit ins Gedächtnis, in der ein paar dutzend Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten von Rojava (YPG) in den letzten freien Straßen Kobanês kämpften um zu sterben. Heute im Juni 2017 sehen wir die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) unter der Vorreiterrolle der YPG die Hauptstadt des Islamischen Staates (IS) umzingeln und Stadtteil für Stadtteil von den IS-Kämpfern befreien. Eine Rachegeschichte wie es sie selten in der Geschichte gab… Denken wir uns die letzte Szene in der das böse Monster besiegt und die SDF der wahre Held ist. Dass so ein wichtiges Ereignis den Grundstein für einen neuen Mittleren Osten legen könnte, gilt als so sicher wie noch nie.
Die Staaten in der Region, die von diesem Kurs beunruhigt sind, hatten eigentlich immer ihre Unbehagen. Mit den Staaten Iran, Syrien, Türkei und Russlands ist von einem mächtigen Machtnetzwerk im Mittleren Osten die Rede. Doch mit dem Abschuss eines syrischen Flugzeuges durch die USA, welcher zuvor SDF-Stellungen angriff, hat sich die Dimension des Konflikts verändert. Wenn man die Kommentare durchkämmt, die die Medien dieser Länder in der letzten Woche gestreut haben, fällt einem ein gemeinsamer Satz auf. Und zwar folgender: „Wenn die Raqqa-Operation abgeschlossen ist wird die USA die Kurden verkaufen. Die Kurden werden die größten Verlierer dieses Krieges sein.“
Ohne Zweifel müssen die Kurden Gehör für jede Stimme im Mittleren Osten haben. Denn wir sprechen hier von einer Region in der jede Kraft, die ihre Ohren für andere verschließt, unweigerlich ins Straucheln gerät. Würde denn der Iran, der diese Warnung ausspricht, keine Erwiderung bei den Kurden finden, wenn es zuallererst damit aufhören würde die Kurden, denen er kein einziges kollektives Recht anerkennt, zu erhängen? Würde das Baath-Regime, das selbst blutüberströmt Rojava nicht anerkennt und immer noch versucht die Kurden zu bezwingen, von diesem Starrsinn abkehren, keine Erwiderung auf seine Warnung finden? Gäbe es nicht wenn die Türkei, die sich mit den Kurden im eigenen Land in einem aktivem Krieg befindet, einen neuen Lösungsprozess beginnen und anstatt von Drohungen gegen den Kanton Afrîn freundschaftliche Warnungen aussprechen würde, eine ganz andere Situation?
Wir wissen nicht ob die USA ihre Unterstützung für die Kurden nach Raqqa wirklich abbrechen werden. In dieser Phase weiß das noch niemand, selbst die USA nicht. Was versprechen die Staaten, die fortwährend im Chor erklären, dass die Kurden verlieren werden und mit den USA kein Bündnis geschlossen dürfe? Beschreiben wir die Gründe und Folgen richtig: Da die regionalen Kräfte die kollektiven Rechte der Kurden nicht anerkennen und auf die Kurden nicht mit einem klaren und transparentem Gemeinschaftsprojekt zugegangen sind, haben die Kurden in Syrien heute ein Bündnis mit den USA. Es gibt also keine Achsenverschiebung der SDF, sondern die regionalen Staaten kommen der Geschwindigkeit der Entwicklungen nicht hinterher. Die Ereignisse von heute sind zum Teil eine Folge der Entscheidungen, die die regionalen Kräfte hätten rechtzeitig treffen müssen, aber beharrlich nicht getan haben. Eine Folge, dass man mittelfristig immer noch darauf investiert hat die Errungenschaften der Kurden zu beseitigen. Also eine prinzipienlose Mittelost-Politik.
Heute stehen die regionalen Kräfte, die von Russland angeführt werden, vor zwei Optionen:
- Den Kurden mit einem klaren und realistischen Plan gegenüber zu treten und den Einfluss der USA in Syrien über einen Gleichgewicht zu verringern.
- Den Krieg vor allem über Afrîn zu vertiefen und über einen Angriff auf die USA und die Kurden Krieg zu führen.
Erstere Option ist für Russland, das seit Anfang an von einer politischen Lösung spricht und im Mittleren Osten eine langfristige Hegemonie gründen will, eigentlich von Vorteil; Russland geht es eigentlich nicht um das Unbehagen Irans, Syriens und der Türkei gegenüber den SDF. Russlands grundlegende Besorgnis ist, die vollständige militärische Niederlassung der USA in Rojava. Um dies einzudämmen muss Russland noch mutigere Schritte gehen.
Die Präferenz der regionalen Kräfte für die zweite Option bedeutet für sie eine neue Front, gegenseitige Zerstörung und eine weitere Verschärfung des Konfliktes mit den USA.
Der Angriff auf Afrîn um die Raqqa-Operation zu stören kann die Diskussion um die Verkündung einer (faktischen oder inoffiziellen) Flugverbotszone für die Kurden in Gang bringen. Für den Aufbau einer Flugverbotszone im Sinne des internationalen Rechts müssen von den 15 Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates neun zustimmen. Selbst wenn in der UNO der Vorschlag für eine Flugverbotszone in Rojava von den USA vorgetragen wird, reicht das Veto Chinas, Russlands, Englands oder Frankreichs für eine Blockade.
Wenn die USA überall – Afrîn eingeschlossen- entschlossen die fehlende Luftwaffe der SDF ausgleicht, bedeutet dies faktisch den Aufbau einer Flugverbotszone. So wäre es eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass die möglichen Angriffe auf die Kurden das Gleichgewicht verändern würden. Aufgrund des Verteilungskampfes im Osten Syriens ist eine direkte kriegerische Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland sehr unwahrscheinlich. Deshalb ist es die richtige Zeit Russland, Syrien und die Türkei nach einem Kurswechsel in ihrer Mittelost-Politik zu fragen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Im Original ist die Kolumne am 24.06.2017 unter dem Titel “Kürtler Suriye’de büyük kaybedecek” in der Tageszeitung Yeni Özgür politika erschienen.