Nilüfer Koç, Kovorsitzende Nationalkongress Kurdistan, Kurdistan Report Nº184 Januar/Februar
Die politische Ordnung und die wirtschaftliche Aufteilung des 20. Jahrhunderts begannen mit seinem Ausgang zu zerfallen. Jetzt wird der Kampf um die Ordnung und Aufteilung des 21. Jahrhunderts im Nahen/Mittleren Osten beschleunigt. Hier konzentriert sich die Weltpolitik gegenwärtig insbesondere auf Syrien. Der Kampf in und um Syrien wird den Nahen/Mittleren Osten prägen. Daher hat Syrien heute für alle Beteiligten strategische Bedeutung.
Die Türkei, der Iran und Syrien stehen für den Status quo in der Folge des Lausanner Vertrags von 1923. Auch der neue föderale Irak hat sich seiner neuen Identität nicht ganz angenommen. Noch immer ist das Verhältnis zwischen Kurden und Arabern kritisch, also zwischen Hewlêr (Arbil) und Bagdad. Auf der anderen Seite funktionieren die zentralistischen Staatsstrukturen nicht mehr, die nur auf eine ethnische, konfessionelle Identität aufgebaut worden sind. Daher stecken die Türkei, der Iran, Syrien, aber auch der Irak in einem permanenten Krisenzustand. Im Falle der Türkei ist diese Krise noch ausgeprägter. Zum einen aufgrund des kurdischen Kampfes für Selbstbestimmung. Zum anderen, da die Türkei NATO-Mitglied und EU-Kandidatin ist, was zusätzliche Verpflichtungen mit sich bringt im Hinblick auf eine Dezentralisierung als Voraussetzung für die neoliberale Marktwirtschaft.
Die USA sehen die Lösung für die Region darin, die Staaten des Lausanner Vertrags in noch kleinere Einheiten aufzuspalten. Nach religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten. Wie das Beispiel des Irak, was immer noch nicht funktioniert.
Die Kurden stehen für die Dezentralisierung der Türkei, des Iran, Syriens und für demokratische Autonomie. Das heißt im Klartext, dass zum Beispiel die Türkei, der Iran und auch Syrien in föderalen demokratischen Strukturen erneuert werden, was weitgehend lokale Selbstverwaltung ermöglicht. Die Kurden haben ihrerseits klare Konzepte hinsichtlich der lokalen Selbstverwaltung in den kurdisch besiedelten Gebieten. Allerdings begrenzen sie ihre Alternative nicht nur auf Kurdistan, sondern bieten sie für die gesamte Türkei an. Da die Türkei eine immense ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt aufweist und diese autonomer lokaler Selbstverwaltungsstrukturen zur freien Pflege und Entfaltung bedarf. Dasselbe gilt für den Iran, Syrien und auch den Irak. Außerdem ist die Ausgangsidee des kurdischen Konzepts, Veränderungen innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen zu realisieren, was international weder politisch noch rechtlich große Probleme mit sich bringt.
Das zukünftige Modell eines demokratischen Syriens ist bereits in Rojava (kurd. für »Westen«) verankert. Das heißt, wir sprechen von einer institutionalisierten Lösung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Nun wird der kurdische Kampf in Syrien um die Anerkennung Rojavas als Teil eines künftigen demokratischen Syriens gehen. In diesem Rojava ist ein Selbstverwaltungsmodell aufgebaut worden, das heute sehr sichtbar ist und international Gehör findet.
Der Kampf um Lösungen und Modelle wird vor allem in Syrien entschieden werden. Im Klartext, es geht hier um bislang drei Strategien:
– die Beibehaltung der zentralistischen Staatsstrukturen, wie sie im Lausanner Vertrag manifestiert wurden (Türkei, Iran, Syrien);
– die Aufteilung bestehender Staaten in noch kleinere Einheiten (USA und Verbündete);
– die demokratische Autonomie der Kurden als Teil dezentralisierter Strukturen.
In der Frage, wie es weitergehen wird, sollte weiterhin der Fokus auf Syrien gelegt werden. Syrien ist anhand der Präsenz der globalen wie regionalen Mächte gegenwärtig zum Zentrum der Weltpolitik avanciert. Mit seinen politischen, gesellschaftlichen, religiösen Differenzen und Konflikten stellt es den Prototyp für den gesamten Nahen/Mittleren Osten dar. Eine Lösung hier wird sich auf die anderen Länder der Region auswirken. Aus der Nähe betrachtet zeigt sich, dass Al-Qaida, Da‘isch, Al-Nusra, Ahrar al-Scham, das heißt sunnitische Gruppen, sich hier konzentrieren und für ihren Kampf weltweit noch weitere Kämpfer rekrutieren. Diese erhalten Gelder in ungeahnter Höhe. Der selbst ernannte Islamische Staat (IS) erstreckt sich über den Irak und Irakisch-Kurdistan (kurd. »başûr« für »Süden«, Südkurdistan) bis über Syrien und Rojava. Zu seiner Hauptstadt wurde die syrische Stadt Raqqa erklärt. Diese Gruppen werden alles tun, um ihre Macht einerseits beizubehalten, andererseits zu expandieren.
Neben dem sunnitischen Islam (Saudi-Arabien, Qatar) konzentriert sich auch der schiitische Islam (Iran, Irak, Syrien, Libanon etc.) auf Syrien. Genauso wie der sunnitische weiß der schiitische Islam, dass Macht in Syrien für ihren Werdegang in der Region bestimmend sein wird. Denn der fast 1400 Jahre alte sunnitisch-schiitische Konflikt ist hier einer der Nährböden für Konflikte und Kriege. Unter diesem Deckmantel haben schon Hunderttausende ihr Leben verloren. Dieser Konflikt ist heute noch ein wichtiges Instrument, um den Glauben der Menschen für Machtkriege zu instrumentalisieren.
Syrien hat auch für die Türkei und die Kurden eine zentrale Bedeutung. Für die Kurden geht es nicht nur darum, für eigene Interessen zu kämpfen, sondern über die Lösung der kurdischen Frage in Syrien ein Modell für ein ganzes Land und somit auch für die Region zu entwickeln. Die kurdische Strategie trägt die Bezeichnung »demokratisches Syrien – autonomes Rojava/Nordsyrien«. Rojava bedeutet hier daher nicht nur, dass die Kurden allein zu ihren Rechten kommen.
Für die USA hat Syrien ebenfalls eine große Bedeutung. Nach Afghanistan, Irak, Tunesien etc. brauchen sie einen Erfolg in der Region. Nicht zuletzt wegen der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. In Syrien wollen die USA ihr Greater Middle East Project zum Erfolg bringen. Syrien ist die letzte arabische Bastion, die sich in den letzten fünf Jahren trotz eines blutigen Krieges, Hunderttausender Opfer, Millionen Flüchtlingen, zerstörter Städte und Infrastruktur noch auf den Beinen halten konnte. Das hat nicht nur mit der Unterstützung Russlands und des Iran zu tun, sondern auch mit der Rolle Syriens vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war stets als Avantgarde der arabischen Welt bekannt gewesen.
Ende des Stellvertreterkrieges – neue Etappe im Syrienkrieg
Die USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Russland, der Iran, die Türkei, Saudi-Arabien, Qatar, um nur einige zu nennen, konzentrieren sich auf Syrien. Mit den brutalen und unmenschlichen Angriffen in Paris am 14. November 2015 haben einzelne europäische Staaten eine direkte Beteiligung am Krieg erklärt. Seit 2011 haben etliche dieser Mächte ihre Kriege über Stellvertreter geführt. Jetzt steigen alle direkt ein. Das ist eine neue Entwicklung und deutet auf eine kritische und weit schwierigere und komplexere Zeit in Syrien hin. Daher ist Syrien ein strategisch wichtiges Zentrum für alle geworden. Wer hier gewinnt, wird im Nahen/Mittleren Osten bestimmend sein.
Türkei verliert in Rojava
Nachdem die Volks- und die Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) große Erfolge im Kampf gegen den IS erzielten, hat vor allem die Türkei schwere politische Verluste hinnehmen müssen. Von der 900 km langen Grenze zwischen der Türkei und Syrien, das heißt, zwischen Rojava und Bakûr (kurd. für »Norden«) sind 800 km unter Kontrolle der YPG/YPJ. In der gegenwärtigen Krise zwischen der Türkei, den Kurden, den USA und Russland geht es um die restlichen 100 km, sprich Cerablus (Dscharabulus). Cerablus heißt, es dreht sich um die Region, die die Kantone Kobanê und Afrîn voneinander trennt, aber auch um die noch offene Grenzlinie, über die Da‘isch Unterstützung aus der Türkei erhält. Beim Abschuss des russischen Jets ging es der Türkei unter anderem darum, einen Konflikt zwischen Russland und der NATO zu erzeugen, um einerseits Zeit zu gewinnen, andererseits der russischen Offensive zu begegnen, die auch in strategischen Gebieten gegen die Interessen der Türkei geführt wird, namentlich dem Gebiet der Turkmenen, die von der Türkei unterstützt werden.
Außerdem war die Rückeroberung der Al-Hol-Gebiete in Rojava, die an Irakisch-Kurdistan, vor allem an Şengal (Sindschar) grenzen, ein wichtiger kurdischer Erfolg, um Da‘isch noch weiter zu isolieren. Der Offensive von Al-Hol folgend konnte die Befreiung der Stadt Şengal einfacher vonstattengehen.
Das gemeinsame politische Vorgehen der Türkei mit Saudi-Arabien und Qatar, um den Verlusten in Rojava entgegenzuwirken, war es, eine Konferenz der angeblichen syrischen Opposition in Riad zu organisieren. Dazu wurden Vertreter von Dschabhat al-Nusra und Ahrar Al-Scham eingeladen, was die Legitimität dieser Zusammenkunft infrage stellt, da beide auf der UN-Liste terroristischer Organisationen stehen. Ferner führten beide Gruppen in den letzten Jahren einen brutalen Krieg in Rojava. Mit diesem Treffen wollte die Türkei gemeinsam mit Saudi-Arabien und Qatar der Konferenz des Demokratischen Syriens begegnen, die zur selben Zeit im Kanton Cizîrê mit einer großen Beteiligung arabischer, kurdischer, turkmenischer, armenischer, assyrischer und tschetschenischer Vertreter, aber auch von Frauenorganisationen erfolgreich stattfand. Das gelang ihnen nicht, da die wichtigsten arabischen Oppositionsgruppen sowie arabische Stämme als auch andere Vertreter gesellschaftlicher Gruppen Syriens gemeinsam mit den Kurden über das zukünftige Syrien diskutierten. Außerdem fand diese Konferenz auf syrischem Staatsterritorium im Kanton Cizîrê statt, während die andere im Ausland durchgeführt wurde.
Die Rache dieser Front war brutal: Zwei Tage nach der Bekanntmachung des Demokratischen Rates Syriens in Dêrik (Al-Malikiya in Rojava) führten drei Explosionen Da‘ischs zum Tode von 28 Menschen in der Stadt Til Temir in Rojava.
Türkei verliert auch in Bakûr
Für die Kurden wird die »Schlacht um Syrien« ebenso vital sein. Entweder gelingt es ihnen hier, ihre Alternative Rojava durchzusetzen, oder sie verlieren wieder ein Jahrhundert.
Da aber die Türkei die größte Gefahr für kurdische Interessen darstellt, ist es wichtig, die AKP-Regierung, vor allem Erdoğan, noch intensiver zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage zu bewegen.
Der Kampf Öcalans und der PKK in den letzten drei Jahren, die Lösung der kurdischen Frage im türkischen Parlament zu thematisieren und dann einer Verfassungsänderung den Weg zu ebnen, hat auf kurdischer Seite einen politischen Höhepunkt erreicht. Am 28. Februar verkündete die Imralı-Delegation der Demokratischen Partei der Völker (HDP) gemeinsam mit der türkischen Regierung das Zehn-Punkte-Dolmabahçe-Abkommen. Zuvor war zwischen Öcalan, PKK, AKP, Regierung monatelang darüber verhandelt worden. In den zehn Punkten war auch die Gewährung der demokratischen Autonomie für die Türkei als ein Schritt der Dezentralisierung vorgesehen. Die HDP hatte ihr Wahlprogramm daher ausdrücklich auf mehrere Punkte des Dolmabahçe-Abkommens konzentriert. Dezentralisierung war eine der Grundforderungen für die Demokratisierung des Landes.
Kurz nach der Deklaration des Dolmabahçe-Abkommens erklärte es der türkische Staatspräsident Erdoğan für null und nichtig. Dafür erhielt er seine Antwort mit dem historischen Sieg der HDP bei der Parlamentswahl am 7. Juni, sie gewann Stimmen aufgrund ihres Wahlprogramms. Die Parole »Wir lassen dich nicht zum Präsidenten werden!« war nicht nur eine Kritik an Erdoğan, sondern an der Vorstellung vom Präsidenten als machthabender Autokrat. Erdoğans Idee war die absolute Zentralisierung der Macht in einer Institution, nämlich der des Präsidenten.
Nach der Juniwahl wurde die staatliche Planung der Bombenanschläge von Pirsûs (Suruç) und Ankara eingeleitet, die Verhaftung kurdischer Politiker, die Angriffe auf etwa 200 Parteibüros der HDP: die Aggression des Staates, die zugleich auch aus der Angst resultierte, dass die Kurden es ernst meinen mit ihrer demokratischen Autonomie.
Kurz nach der Novemberwahl begannen die Kreisstädte, später die größeren Städte unter der Devise »wir wollen uns selbst verwalten« mit der Ausrufung der demokratischen Autonomie in Bakûr.
Als dann mehrere an der Ausrufung beteiligte Bürgermeister, Aktivisten verhaftet und zu lebenslänglicher Haft verurteilt, Zivilisten getötet, Panzer und Hubschrauber gegen Zivilisten eingesetzt wurden, engagierten sich die kurdischen Jugendlichen der YDG-H für die notwendige Verteidigung der Zivilbevölkerung. Zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik hat der Staat keinen politischen Zugang zu den kurdischen Gebieten. Anstatt Politiker schicken sie Panzer, Soldaten, Spezialeinheiten, Polizisten, Hubschrauber etc. nach Kurdistan. Und zwar in einer Dimension, die es nicht mal in den 1990ern gab. Dies ist eine neue Situation in Bakûr.
Weder drei Jahre Verhandlungen zwischen Öcalan, PKK und AKP noch die Waffenruhen der PKK haben den türkischen Staat zu einer politischen Veränderung veranlasst. Dabei ist sowohl Öcalan als auch die PKK weitgehende Kompromisse zur Lösung der kurdischen Frage eingegangen. Es kann daher von den Kurden nicht mehr erwartet werden, sich von der AKP hinhalten zu lassen in dem Moment, in dem ihnen im Nahen/Mittleren Osten viele Chancen offenstehen. Die AKP versucht sie daran zu hindern, in der Politik des Nahen/Mittleren Ostens mitzuwirken, um ihren ungeklärten politischen und rechtlichen Status zu bestimmen. Das kann doch nicht angehen, dass ein Politiker oder gewählter Bürgermeister zu lebenslanger Haft verurteilt wird, nur weil er die Erklärung zur demokratischen Autonomie verlesen hat. Es kann auch nicht sein, dass Zivilisten umgebracht werden, weil sie hinter der Forderung der demokratischen Autonomie für Bakûr stehen. Es kann auch von den Kurden nicht erwartet werden hinzunehmen, dass ein Jurist und Pazifist wie Tahir Elçi, der nur öffentlich sagte »die PKK ist keine terroristische Organisation«, vor laufender Kamera ermordet wird.
Türkische Niederlage in Rojava und Bakûr führt zur Expansion nach Başûr
Sowohl der Erfolg der Kantone von Rojava als auch der neue Widerstand in Bakûr haben die Regierungskrise der AKP verschärft, was sich immer brutaler in der Ausweitung der staatlichen Gewalt auswirkt. Die Kurden in Rojava und auch in Bakûr haben der AKP und all ihren Träumen und expansionistischen Plänen in Syrien und Rojava einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zudem hat das zunehmende internationale Misstrauen gegenüber der AKP ihre Politik noch weiter eingeengt.
Mit der Verlegung türkischer Soldaten nach Bashiqa, einer Stadt nahe Mûsil (Mosul) in Irakisch-Kurdistan, sucht die Türkei einen neuen Ausweg aus dieser Krise und Niederlage. Sie kann niemanden davon überzeugen, Da‘isch in Irak bekämpfen zu wollen, da ihre Taten in Syrien und Rojava vom Gegenteil zeugen. Über Mûsil sollen zunächst die in Rojava geschwächten Da‘isch, Al-Nusra, Ahrar Al-Scham in der neuen Formation Hashdi al-Watani (Nationale Volksarmee) gestärkt werden. Eine Übernahme von Mûsil wird ihnen nicht schwerfallen, da die Türkei gemeinsam mit dem sunnitisch-arabischen Da‘isch bereits letztes Jahr im Juni am Fall der Stadt mitgewirkt hatte. Dabei spricht sie auch für Saudi-Arabien und Qatar, deren Interesse darin besteht, mit Hashdi al-Watani gegen die Präsenz der [schiitischen] Al-Hashd al-Shaabi (Armee des Volkes) zu wirken, um sunnitische Interessen zu wahren. Für die Türkei hat neben Mûsil auch Kêrkuk historische Bedeutung, im Rahmen des Lausanner Vertrags waren beide Regionen den Arabern zugesprochen worden, was die Türkei niemals hingenommen hat. Im Rahmen des türkischen Misak-ı Millî von 1920 (Nationaler Pakt) werden Mûsil und Kêrkuk immer noch als legitime Territorien der Türkei gesehen. Es geht ihr daher einerseits auch darum, diese Gebiete wieder unter türkisch-sunnitische Kontrolle zu bekommen. Zum anderen wird sie von hier aus ihre Angriffe gegen Rojava aufnehmen, da die Region Mûsil an Rojava grenzt. Weiterhin wird sie sich mit der Stärkung ihrer militärischen Präsenz in Irakisch-Kurdistan in Richtung PKK-Stützpunkte bewegen und dort angreifen. Denn die Luftangriffe auf PKK-Stellungen in den nördlichen Teilen Başûrs seit dem 24. Juli haben keinen Erfolg erbracht.
Natürlich muss hier auch auf die Rolle der kurdischen Kräfte von Başûr eingegangen werden. Seitdem weder das Parlament noch die Regierung in Arbil funktionieren, wird die Politik des Landes wieder von PDK und YNK (Demokratische Partei Kurdistans und Patriotische Union Kurdistans) ausgetragen. Seit dem Da’isch-Überfall in Şengal 2014 hat die PDK ihr ramponiertes Image in der Bevölkerung nicht mehr aufpolieren können. Bekanntlich hatten die Peşmerge nicht gegen Da‘isch gekämpft und das Leben Hunderttausender êzîdischer Kurden riskiert, hätte die PKK-Guerilla nicht interveniert. Diese Erfahrung sitzt immer noch wie ein Trauma im Gedächtnis der Bevölkerung. Auch die Befreiung der Stadt Şengal im November war dabei keine Hilfe, da sie außer durch die PDK-Peşmerge durch die PKK-Guerilla und mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe erfolgte.
Die Reiseroute des Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan KRG, Herrn Mesud Barzanîs, erst Riad, dann Ankara, und Erdoğans zeitgleicher Besuch in Qatar haben in der kurdischen Politik und der Bevölkerung zu neuen Fragezeichen und Besorgnissen geführt. In diesem Zeitraum kamen auch die türkischen Soldaten in Mûsil zur Sprache. Ob direkt oder indirekt, die Gesprächspartner Herrn Barzanîs auf seiner Reiseroute sind keine Freunde des kurdischen Volkes.
Im Gegenzug hat die Zentralregierung in Bagdad Ankara für die Verletzung der irakischen Souveränität vor den UN-Sicherheitsrat gebracht. Während die PDK die türkischen Soldaten in Mûsil zur Bekämfpung von Da‘isch legitimiert, haben sich YNK und Gorran gegen sie gewandt, fordern ihren Rückzug und halten dabei zu Bagdad. Ferner haben YNK- und Gorran-Abgeordnete nun einen Antrag im irakischen Parlament eingebracht, in dem die PKK als Kraft Anerkennung findet, die gegen Da‘isch kämpft. Die PKK beschuldigt die Türkei der Besetzung Irakisch-Kurdistans und fordert den sofortigen Rückzug.
Die kurdische Politik steht jetzt vor einer neuen und großen Herausforderung. Eine Polarisierung zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Lager wird gewiss kurdischen Interessen schaden. Daher ist die erfolgreiche Strategie des Dritten Weges, die Öcalan auf die Agenda von Rojava gesetzt hatte und hier erfolgreich praktiziert wurde, auch für Başûr gerade jetzt lebenswichtig. Da sowohl die PDK als auch die YNK aufgrund ihrer jeweiligen Bündnispolitik mit der Türkei und dem Iran wenig Spielraum haben, fällt der PKK hier eine große Verantwortung zu. Und wieder bewahrheitet sich Öcalans Vorhersage: »Die Kurden brauchen im schiitisch-sunnitischen Machtkampf eine einheitliche Politik, die auf einem kurdischen Nationalkongress als nationale Strategie verabschiedet werden sollte.« Sowohl den Schiiten als auch den Sunniten geht es in Rojava wie in Başûr um die Belagerung und Besetzung Kurdistans. Ob sich Russland hinter die schiitische Front setzt und die USA hinter die sunnitische Front, die Kurden und alle anderen Volksgruppen gruppieren sich um die Freiheit und die Sicherheit. Im Machtkampf der Großen dürfen die Kurden nicht erneut den Fehler machen und für eine Seite Partei ergreifen. Vielmehr sollten sie sich genauso wie in Rojava in ihren Beziehungen mit den regionalen wie globalen Mächten auf den dauerhaften Frieden in Form ihrer Lösungsvorschläge konzentrieren. Denn beteiligen wir Kurden uns durch Parteinahme an diesen Machtkämpfen, werden wir die Kriegsdauer verlängern und wie im 20. Jahrhundert erneut zum Instrument der Weltpolitik werden. Daher sollte die PKK ihre Strategie des Dritten Weges auch in Başûr durchsetzen, was im Interesse aller läge. In diesem Sinne kann die kurdische Karte im Gegensatz zu ihrer destabilisierenden Rolle im 20. Jahrhundert nun als stabilisierender Trumpf gespielt werden. Denn keine der Kräfte außer den Kurden hat die besten Chancen, jetzt ein neues Kapitel für den Frieden im Nahen/Mittleren Osten aufzuschlagen. Auf uns lastet eine große Verantwortung. Daher kommt der Unterstützung für die Kurden nicht nur eine regionale, sondern globale Bedeutung zu. Wir dürfen keinen Teil Kurdistans gegen einen anderen ausnutzen, um so Kriegstreibern Gelegenheiten zu bieten. Nationale Einheit ist heute ebenso wichtig für internationale Interessen wie Frieden und Stabilität. In Rojava haben wir gezeigt, dass wir uns unserer Verantwortung bewusst sind und dass wir aus unseren Fehlern im 20. Jahrhundert gelernt haben. Nun geht es darum, diesen Kampf auch in Başûr noch offensiver zu führen, um Kriegsbefürwortern die Tore Kurdistans zu versperren.