Der Monat März in Kurdistan ‒ Zwischen Zerstörung und Aufbruch

Wer an den Monat März in Kurdistan denkt, dem kommt als erstes Newroz in den Sinn. Newroz, das Neujahrsfest der Völker des Mittleren Ostens, steht für das Erwachen der Natur, für einen Neuanfang. In Kurdistan symbolisiert Newroz darüber hinaus Widerstand und Aufbruch.

Noch vor dem Newroz-Fest am 21. des Monats erobern sich jedes Jahr die Frauen Kurdistans am 8. März, dem Weltfrauenkampftag, die Straßen zurück. Diese Welle des Widerstandes gegen die patriarchale und nationalistische koloniale Ordnung in Kurdistan erreicht schließlich mit dem Newroz-Fest ihren Höhepunkt. In diesem Jahr wird sich der Höhepunkt in Nordkurdistan voraussichtlich etwas nach hinten verschieben, da am 31. März in der Türkei Kommunalwahlen stattfinden. Kommunalwahlen haben in den kurdischen Siedlungsgebieten immer auch ein wenig den Charakter einer Volksabstimmung zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Selbstverwaltung.

Doch der März hat in Kurdistan noch ein anderes Gesicht. In diesen Monat fallen einige der grausamsten Massaker gegen die Kurd:innen in ihrer jüngeren Geschichte …

Helebce: Jeder Jahrestag ein Tag des Schmerzes, der Wut und des Gedenkens

Am 16. März 1988 ereignete sich der Giftgasangriff von Helebce (Halabdscha) in Südkurdistan (Nordirak). Inzwischen sind 36 Jahre vergangen, seit mindestens 5.000 Frauen, Männer und Kinder von Saddam Hussein mit Giftgas getötet wurden. Weitere rund 10.000 Menschen wurden verletzt und trugen zum Teil bleibende Gesundheitsschäden davon. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der Herzfehler und Fehlgeburten in der Region um mehr als das Zehnfache. Auch die Zahl anderer Erkrankungen stieg rapide an.

Der Giftgasangriff in Helebce war der vorläufige Höhepunkt einer genozidalen Kampagne des Regimes von Saddam Hussein gegen die Kurd:innen. Im Rahmen der so genannten „Anfal-Operation“ strebte das Baath-Regime die „Endlösung“ der Kurdenfrage an. Insgesamt wurden seit Mitte der 1980er Jahre 180.000 Kurd:innen systematisch ermordet.

Dieser Massenmord fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt, ohne dass ein Staat eingriff. Die UNO, die USA, Europa und andere haben zu diesem Massaker geschwiegen. Sie stellten sich erst gegen Saddams Regime, als ihre Interessen in Frage gestellt wurden. Aber sie sahen keine Notwendigkeit, etwas gegen das Massaker an Hunderttausenden von Kurd:innen bei den Anfal-Angriffen zu unternehmen.

Deutsche Firmen waren sogar an den Massakern beteiligt. Firmen wie Karl Kolb / Pilot Plant und WET lieferten dem Baath-Regime die Grundstoffe für die Giftgasproduktion und behaupteten, es handele sich um Unkrautvernichtungsmittel. Doch 70% aller Giftgasanlagen im Irak stammten von deutschen Firmen. Später wurde bekannt, dass in diesen Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten. Deutsche arbeiteten auch an der Weiterentwicklung der SCUD-Raketen und am irakischen Atomprogramm.

Ein Massaker in Qamişlo legt den Grundstein für die spätere Revolution in Rojava

Eine weitere schmerzhafte Episode in der jüngeren Geschichte der Kurd:innen ereignete sich am 12. März 2004 in der westkurdischen (nordsyrischen) Stadt Qamişlo. Auslöser des Massakers und eines Massenaufstandes in ganz Rojava war eine vom syrischen Baath-Regime organisierte Auseinandersetzung nach einem Fußballspiel zwischen einer kurdischen und einer arabischen Fußballmannschaft. Die arabischen Gästefans waren nicht nur bewaffnet ins Fußballstadion eingedrungen, sondern hatten auch Plakate des damals gestürzten irakischen Diktators Saddam Hussein gezeigt, der für das erwähnte Massaker in Helebce verantwortlich war. Die Auseinandersetzungen begannen im Stadion und griffen schnell auf die ganze Stadt über. Die syrischen Regimekräfte erließen daraufhin den Schießbefehl gegen kurdische Demonstrant:innen und töteten allein am ersten Tag sechs Personen. Der Aufstand breitete sich in den folgenden Tagen aus und auch in Aleppo und Damaskus gingen Tausende auf die Straße. Bis zum 25. März starben 43 Menschen, davon mindestens fünf durch Folter in den Baath-Gefängnissen. Das Regime ließ in dieser Zeit bis zu 2.500 Menschen verhaften.

Als sich die Kurd:innen nach 13 Tagen von den Straßen zurückzogen, hatten sie einen Beschluss gefasst: Sie würden sich klandestin in der gesamten Gesellschaft organisieren. Die 2003 gegründete Partei der Demokratischen Einheit (PYD) verstärkte ihre Organisationsbemühungen. Die Frauendachorganisation Yekîtiya Star, Vorgängerin der heutigen Kongra Star, gab am 15. Januar 2005 ihre Gründung bekannt. Gerade die Bemühungen dieser beiden Strukturen legten den Grundstein für die spätere Rojava-Revolution, die ab 2012 ausbrach.

Die richtigen Lehren ziehen

Der genozidale Angriff auf die Kurd:innen in Helebce und das Massaker infolge des Qamişlo-Aufstandes sind nur zwei von zahlreichen schmerzhaften Episoden aus der jüngeren kurdischen Geschichte. Und sie sind zugleich Teil der kurdischen Gegenwart …

Heute werden in Südkurdistan erneut chemische Kampfstoffe gegen Kurd:innen eingesetzt. Der Täter ist heute der türkische Staat, ein ebenso wichtiger Partner des Westens wie damals Saddam Hussein. Und deshalb wird heute wie damals international zu diesen Angriffen geschwiegen …

Und auch in Nordsyrien geschehen aufgrund der türkischen Besatzungspolitik und der gemeinsamen Verbrechen mit ihren dschihadistischen Partnern Grausamkeiten gegen die Kurd:innen, in Efrîn, in Girê Spî oder in Serêkaniyê. Fast täglich werden Menschen verschleppt, vertrieben, ermordet. Auch wenn sich immer wieder einzelne Stimmen gegen dieses anhaltende Unrecht erheben, schweigt die Weltöffentlichkeit weitgehend zu diesen Verbrechen.

Die Massaker, die Genozide in Kurdistan sind das Ergebnis einer Ordnung im Mittleren Osten, die nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten geschaffen wurde und auf der Zerstückelung Kurdistans und der ungelösten kurdischen Frage beruht. Diese Ordnung beruht damals wie heute auf den Interessen derjenigen Akteur:innen, die sie geschaffen haben, nämlich der westlichen Mächte. Von denen, die dieses Unrecht geschaffen haben und bis heute davon profitieren, Gerechtigkeit zu erwarten, wäre deshalb reine Selbsttäuschung.

Diese Ordnung grundlegend in Frage zu stellen, sie herauszufordern, kann hingegen eine der zentralen Lehren aus dieser blutigen Geschichte der Kurd:innen sein. Und dafür sind zwei Schritte unausweichlich: erstens die Schaffung einer demokratischen Einheit unter den kurdischen Akteur:innen und zweitens der Aufbau von gleichberechtigten Beziehungen zu den anderen entrechteten Völkern und Gemeinschaften des Nahen und Mittleren Ostens. Eine demokratische und selbstbewusste gesellschaftliche Kraft, die die Gesellschaften der Region einschließt und vom Freiheitskampf der Frauen angeführt wird, hat das Potenzial, ein neues Kapitel für die Region aufzuschlagen.

Das diesjährige Newroz-Fest bietet dafür einen geeigneten Ausgangspunkt. Denn Newroz bedeutet schließlich auch Neubeginn!


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