KON-MED fordert von Bundesregierung Anpassung der Türkei-Politik

Der kurdische Dachverband KON-MED hat die Bundesregierung mit Blick auf ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes (WD) über mögliche Kriegsverbrechen des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien zu einer Anpassung ihrer Türkei-Politik aufgefordert. „Aus unserer Sicht darf die Politik, insbesondere das Außenministerium, die Feststellungen des Wissenschaftlichen Dienstes nicht ignorieren“, erklärten die Ko-Vorsitzenden Emine Ruken Akça und Kerem Gök in einer Mitteilung. Das Gutachten weise auf wesentliche Problempunkte hin.

Die Türkei hatte im Dezember und Januar mehrtägige Luftoffensiven gegen Nord- und Ostsyrien geflogen und faktisch die komplette Infrastruktur der Region lahmgelegt. Es gab Tote und Verletzte, Millionen Menschen waren von der Versorgung mit Strom, Gas und Trinkwasser abgeschnitten, auch Krankenhäuser wurden angegriffen. Darüber hinaus führten die Angriffe zu einer Steigerung der Aktivitäten der Terrorgruppe IS, insbesondere in Auffanglagern wie Hol und Roj – eine Konsequenz, die sich aus der Schwächung des Antiterrorkampfes der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) durch die Bedrohung aus dem Nachbarland ergab.

Angriffe auf Zivilpersonen und Einrichtungen wie Krankenhäuser sind – bei Vorliegen von Vorsatz – völkerrechtswidrig, da sie gegen Art. 8 Abs. 2 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) verstoßen. Das besagt die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, die von Gökay Akbulut, Abgeordnete der Linken, angefordert wurde. Trotzdem hatte der NATO-Staat Türkei die zivile Infrastruktur im Dezember nicht zum ersten Mal öffentlich zu legitimen Zielen in Nordostsyrien erklärt und dies mit dem Recht auf Selbstverteidigung begründet. International herrschte trotz angekündigter Kriegsverbrechen weitgehend Schweigen. Auf die Zurückhaltung von Staaten bzw. staatlichen Akteuren im Kontext des NATO-Mitglieds Türkei weist auch der WD hin.

Selbst als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nach einer Kabinettssitzung Mitte Januar mit den Worten „Wir haben unsere Sicherheitskräfte angewiesen, alle terroristischen Elemente, die sie entdecken, zu vernichten, unabhängig davon, wer sich neben, in der Nähe oder hinter ihnen befindet“ ankündigte, den Krieg gegen Nord- und Ostsyrien erweitern zu wollen, regte sich im Westen kein Protest. KON-MED erinnert die Ankündigung Erdoğans, die auch im Gutachten des WD zitiert wird, an seine Aussage im Frühjahr 2006. Damals hatte er im Zusammenhang mit der Tötung von Zivilpersonen durch türkische Sicherheitskräfte im kurdischen Amed (tr. Diyarbakır) gesagt: „Egal, ob es sich um Frauen oder Kinder handelt; das Notwendige wird getan“.

„Wir stellen somit erneut Kontinuitäten der kriegerischen, antikurdischen Politik des türkischen Staates unter Erdoğan und seiner AKP fest“, betonte KON-MED. Bei den damaligen Todesopfern handelte es sich um Menschen, die am „Serhildana Amedê“ teilgenommen hatten. So werden mehrtägige Proteste in der kurdischen Widerstandshochburg bezeichnet, die sich im März 2006 auf der Beerdigung von vier HPG-Kämpfern entzündeten, die gemeinsam mit zehn weiteren Mitgliedern der PKK-Guerilla durch den Einsatz von geächteten Chemiewaffen in Mûş ermordet worden waren. Aus Hubschraubern hatte die türkische Armee mit scharfer Munition und Tränengas auf protestierende Menschen geschossen und 14 Personen ermordet, darunter mehrere Frauen und sechs Kinder. Auch der Zeitungskorrespondent Ilyas Aktaş (Devrimci Demokrasi) wurde getötet. Das türkische Verfassungsgericht hatte dazu im Jahr 2020 eine Rechtsverletzung festgestellt

Allgemein sei das Gutachten des WD allerdings kritikwürdig, findet KON-MED, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Da sei zum einen die Auswahl der Quellen zum Beschuss des Kobanê Medical Center auf dem Miştenûr genannt, bei dem auch eine medizinische Ambulanz des vom deutschen Sozialmediziner Gerhard Trabert geleiteten Mainzer Vereins Armut und Gesundheit zerstört wurde. Auch die Bezeichnung „Kurdenmiliz“ für die YPG, durch den WD kritisiert KON-MED. Das Wort erinnere an Begrifflichkeiten wie „Kurdendemo“ und „Kurdenführer“, die in Deutschland gerne im medialen Kontext verwendet würden, deren Sinnhaftigkeit bei Übertragung auf andere, vor allem westliche Volksgruppen allerdings fraglich erscheine. „Dennoch ist es unerlässlich, dass das Gutachten in der Politik Berücksichtigung finden muss“, so die Spitze des kurdischen Dachverbands.