Ein Hintergrundbericht des Journalisten Fehim Taştekin über die Lage im Irak im Kontext außen- und machtpolitischer Interessen, 06.09.2018
Die Regierungsbildung im Irak! Ein Bericht darüber, wie sie aussehen könnte, ist zugleich ein Bericht über die unregierbare Lage, in die das Land durch äußere Interventionen gebracht wurde. Ein bezeichnendes regionales Beispiel für diese Situation ist der Libanon, der in einem konfessionell-religiösen System gefesselt ist. Ein System, das maximal von äußeren Mächten abhängig ist und auf einem höchst problematischen Gleichgewicht fußt: Auf der einen Seite die USA, die mit ihrer finanziellen Unterstützung Interventionsmöglichkeiten offen hält und auf der andere Seite die langen Armen der alten Kolonialmacht Frankreich. Darüber hinaus westliche Sunniten, allen voran Saudi Arabien, die mithilfe von ihnen finanzierter politischer Blöcke ihren Einfluss gelten machen und zuguterletzt der Iran, der sich mit der Hisbollah gegen alle dieser drei Blöcke richtet. In der Liga der „Unregierbaren“ steht neben dem Libanon seit dem Jahr 2003 nun auch der Irak. Die beiden Akteure im Hintergrund der irakischen Politik sind die USA und der Iran. Die Türkei, Saudi Arabien und Katar verfügen als sekundäre Akteure über die Fähigkeit, die irakische Politik zu beeinflussen.
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Der Irak ist seit der Zerschlagung all seiner Institutionen durch die amerikanische Intervention im Jahr 2003 nicht wieder zu einem richtigen Staat geworden. Mit jeder Wahlphase kommt entsteht ein neuer politischer Gordischer Knoten. Dasselbe Bild bietet sich nun nach den Wahlen am 12. Mai diesen Jahres. Die vom schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr zusammen mit der Irakischen Kommunistischen Partei und nationalistisch-liberalen und reformistischen Kreisen gegründete Liste “Sairun” hat 54, die Fetih-Koalition vom Gründer der Hashd-al Shabi-Milizen Hadi Amiri 48, die Koalition von Premierminister Haider al-Abadi 42, die Rechtsstaat-Koalition vom ehemaligen Premierminister Nuri al-Maliki 25, die Vataniye-Koalition von Iyad Allawi 21 und die Hikmet-Koalition von Ammar al-Hakim 19 Parlamentssitze gewonnen. Sieben kurdische Parteien sind mit insgesamt 60, verschiedene sunnitische Listen mit ca. 35 Abgeordneten im neuen Parlament vertreten. Nach der Bestätigung der Wahlergebnisse am 19. August in Folge der Neuauszählung eines Teils der Wahlzettel hat nun eine 90-tätige Frist für die Bildung der Regierung begonnen.
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Das wahrscheinlichste Szenario beginnt nicht mehr mit der Frage, ob sich die Schiiten mit den Sunniten einigen. Weder die Schiiten, noch die Sunniten sind einheitliche Blöcke. Der eigentliche Machtkampf findet nicht zwischen den Konfessionen, sondern innerhalb der Konfessionen statt. Ein einfaches Beispiel dafür: Die sunnitischen Gruppen sind nicht dazu in der Lage sich auf einen Kandidaten bei der Sitzverteilung, die sich auf Konfession und Ethnie stützt, zu einigen. Diese Zersplitterung gilt auch für die Kurden, wenn es um die Benennung des irakischen Präsidenten geht. Die Kurden sind nach den kläglichen Entwicklungen infolge des Unabhängigkeitsreferendums nicht mit einer einheitlichen Liste in Bagdad vertreten. Sie sind nicht mehr gemäß der Formel 2+1 aufgestellt, sondern sind nun in sieben Teile zerfallen. Die Distanz der kurdischen Parteien zu den Gruppen in Bagdad fällt auch unterschiedlich aus. Mit den geringsten Vorbehalten wird Sadr begegnet. Am entferntesten stehen die Kurden zur Rechtsstaat-Koalition. Die kurdischen Parteien suchen im Allgemeinen nach Partnern für die Anwendung des Verfassungsartikels 140. Dieser betrifft den Status der umstrittenen Gebiete, die Kontrolle Kirkuks durch die Kurden, die Rückkehr der Peschmerga nach Kirkuk und den Betrieb der Ölfelder.
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Auf Seiten einer möglichen Koalition von schiitischen Gruppen treten zwei Blöcke hervor: Auf der einen Seite stehen İbadi, Hekim und Sadr. Auf der anderen Maliki und Amiri. Auch wenn es nicht sehr leicht ist die Blöcke klar voneinander zu unterscheiden, wird der zweite mehr als „Iran-nah“ betrachtet. In der Vergangenheit wurden Koalitionen bevorzugt, die alle einschlossen. Diesmal könnten jedoch einige Gruppen in die Rolle der Opposition geraten.
Gruppen, die von Sairun, von der man die Initiative bei der Regierungsbildung erwartete, am weitesten entfernt stehen, sind die Fetih-Koalition und die Rechtsstaat-Koalition. Nun hat sich trotzdessen im Juni das erste Bündnis zwischen Sairun und Fetih gebildet. Es hieß, dass sich auch die anderen schiitischen Blöcke diesem Bündnis angeschlossen hätten. Später jedoch nahmen die Ereignisse einen anderen Verlauf. Nach langatmigen Gesprächen trafen sich die Vertreter von Sairun, Hikmet, Nasr und Vataniye am 19. August im Babylon-Hotel in Bagdad und erklärten, sie seien für eine Koalition bereit und für die Beteiligung anderer Parteien offen. Auf der gegnerischen Seite hieß es, dass die Rechtsstaat-Koalition mit Fetih und einigen kurdischen und sunnitischen Gruppen eine Koalition gründen könnte. Am 3. September, wenn sich das neue Parlament konstituiert, werden alle Karten auf den Tisch gelegt werden und es wird sich zeigen, wer wo steht.
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So wichtig wie die Beteiligung an der Koalition ist auch die Ernennung des irakischen Präsidenten. Die inneren und äußeren Gleichgewichte stehen immer noch zugunsten al-Abadis. Daneben kursieren auch die Namen von Falih Feyyad, ehemaliger Leiter und Berater des Nationalen Sicherheitsrats, al-Abadis Dawa-Partei Tarık Necm, Hadi el Amiri und Adil Abd al-Mahdi vom Obersten Islamischen Rat im Irak.
Sadr verkündete 40 Bedingungen für den zukünftigen Premierminister und Ministerkandidaten. Sie dürfen nicht über zwei Staatsbürgerschaften verfügen; müssen unabhängig von den Parteien, patriotisch und national anerkannt sein; dürfen sich dem äußeren Druck, der die nationale Souveränität unterminiert, nicht beugen; sollen nicht gemäß parteiischer, konfessioneller und ethnischer Prinzipien arbeiten; müssen mehr als eine Sprache kennen; und dürfen bei den nächsten Wahlen nicht wieder antreten. Al-Abadi wird aufgrund seines britischen Passes durch die erste Bedingung ausgeschlossen. Innerhalb der jüngeren politischen Akteure, die eine Vergangenheit im Exil haben, sind doppelte Staatsbürgerschaften weit verbreitet. So verfügt der irakische Außenminister Ibrahim al-Dschafari über eine englische Staatsbürgerschaft und auch Salim al-Dschaburi, Präsident des irakischen Parlaments, ist ein Staatsbürger Katars. Es ist unbekannt wie sehr Sadr, der selbst keinen Parlamentssitz beansprucht, auf seine Bedingungen beharren wird. Da er al-Abadi die Hand ausgestreckt hat, wird innerhalb von Sairun bereits mit der Stirn gerunzelt. Im 329-köpfigen irakischen Parlament ist eine Mehrheit von mindestens 165 Stimmen notwendig, wodurch keine Möglichkeit besteht, irgendeine Fraktion unbeachtet zu lassen.
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Kommen wir zum Spiel hinter den Kulissen. Sairun, das die Zustimmung der Wähler mit der Losung „weder Iran, noch USA“ gewann, ist keine Wahl Teherans und Washingtons. Die USA möchte al-Abadi wieder als Premierminister sehen, der bei den Wahlen drittstärkste Kraft wurde. Die Saudis möchten dasselbe wie die USA. Ziel beider ist es eine Koalition zu finden, die den Einfluss des Iran untergräbt und sich den Iran-Sanktionen der Trump-Regierung fügt.
Die Option im Sinne des Irans wäre es, wenn Fetih und die Rechtstaats-Koalition gestärkt würden. Die Iraner erklären öffentlich, dass sie für keine Person oder Partei stehen, sondern für eine breite Koalition die Stabilität gewährleistet. Die USA und der Iran drängen die Kurden zur Teilnahme an ihrer jeweils präferierten Wahlkoalition.
Qassem Soleimani, Kommandeur der al-Quds-Einheit und Brett H. Mc Gurk, Sonderbeauftragter für die Internationale Allianz gegen den Islamischen Staat, arbeiten gleichzeitig im Irak hinter den Kulissen. Zu was für einem Ergebnis es kommen wird, hängt von den Signalen aus drei Städten ab: Bagdat, Nadschaf und Erbil. Während Mc Gurk auf die Linie Erbil-Bagdad setzt, kann Qassem Soleimani zusätzlich zu diesen beiden Städten auch mithilfe von Nadschaf die endgültigen Entscheidungen der schiitischen Führer beeinflussen. Diejenigen, die danach streben, den Irak zu regieren, können den Iran nicht nur aufgrund von konfessioneller Nähe, sondern auch wegen der wirtschaftlichen Beziehungen nicht außen vorlassen. Sie befinden sich darüber hinaus nicht in der Position, die USA herauszufordern. An vielen Punkten haben sie sich auf die USA verlassen, wie z.B. bei der Neuorganisation der Sicherheitsinstitutionen im Inneren und dem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Auf der internationalen Arena ist ihr wichtigstes Standbein die USA. Trotzdem müssen die USA die Macht des Iran bis zu einem gewissen Grad hinnehmen, um eine Regierung im Irak aufzubauen zu können.
Der Iran, der den Irak als Verlängerung seiner inneren Sicherheit sieht, kann die Position der USA nicht ignorieren. Zudem sieht der Iran, dass sich die ‚persische Allergie‘ bei den Irakern, egal ob schiitisch oder sunnitisch, verstärken wird, wenn er noch mehr Druck ausübt, um die Achse USA-Saudi Arabien zu verdrängen. Der Einfluss beider äußeren Kräfte hat also klare Grenzen.
Seit 2005 fußt die Macht in Bagdad auf Basis der impliziten Abstimmung dieser beiden Mächte. Es ist nicht leicht die Folgen für Bagdad vorauszusehen, die sich aus der Entscheidung Trumps ergeben, die Zerschlagung des iranischen Einflusses im Mittleren Osten zur obersten Priorität zu erklären. Die Sanktionen gegen den Iran führten in der Vergangenheit zu Verhandlungen. Als al-Abadi verkündete, an den Sanktionen teilnehmen zu wollen, bekam er umgehend die rote Karte sogar von seinem möglichen Koalitionspartner Hikmet und der eigenen Dawa-Partei zu sehen. Vielleicht werden die verschiedenen Seiten die Wirkung der Karten in ihrer Hand austesten, bis sie die Sackgasse sehen. Mal sehen, in welche Richtung das Pendel zwischen den beiden Kräften ausschlagen wird.
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Großajatollah Ali al-Sistani, der bedeutendste schiitische Geistliche im Irak, unterstützte die Proteste und rief alle dazu auf, die Forderungen der Menschen zu berücksichtigen. Al-Sistani, der mit seinem überparteilichen Ansatz eine außergewöhnliche Position einnimmt, bringt damit auch eine Forderung bezüglich der künftigen Regierung zum Ausdruck. Wir wissen nicht, ob die eingekreiste irakische Politik dem entsprechen wird. Die Probleme sind sehr drängend und kritisch. Wenn sie nicht behoben werden, wird der Irak vielleicht keine nächste Wahl mehr erleben. Die künftige Regierung muss in mindestens drei Punkten den Forderungen gerecht werden: Erstens braucht es einen umfassenden und nationalen Ansatz, der das Wiederaufleben des IS in sunnitischen Kreisen eindämmt, auch wenn dieser seine Hegemonie verloren hat und nur noch in Form kleiner Zellen agiert. Zweitens bedarf es einer Administration, welche die wirtschaftliche und administrative Krise beendet, aufgrund derer die Menschen in Basra auf die Straßen gehen, die aber im ganzen Irak spürbar ist. In diesem Rahmen muss auch ein Kampf gegen Korruption geführt werden, müssen Investitionen in die nicht vorhandene Infrastruktur durchgeführt und Lösungen für die Energie- und Wasserprobleme gefunden werden. Drittens, bedarf es einer schnellen Lösung der Probleme mit den Kurden und in Kirkuk. Der neue Status-Quo mit seiner 15-jährigen Lebenszeit führt leider zu nicht viel mehr als weit verbreiteter Desillusionierung und Korruption. So wie die Partien noch immer keine Parteien geworden sind, ist auch der Staat institutionell noch immer nicht zu einem Staat geworden.
Im Original erschien der Artikel am 30.08.2018 unter dem Titel “Bağdat’ta şeytanla dans” auf der Homepage des Nachrichtenportals Gazete Duvar.