Der Widerstand von Kobanê – eine Chronologie des Kampfes um die Stadt (5)

arin-mirkanTeil 5 des Kobanê-Specials, Sedat Sur (ANF), Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 29.10.2016

Der große Sturm des IS auf Kobanê war ausgebrochen. Doch immer wieder gerieten die Islamisten bei ihrem Vormarsch ins Stocken und mussten große Verluste hinnehmen. Jedes dieser Schläge raubte den Angreifern ein ihres Siegeswillens. Die Verteidiger der Stadt hingegen zeigten bei jedem dieser Schläge große Opferbereitschaft, was die Moral der YPG und YPJ insgesamt ungemein stärkte. Die erste dieser Heldengeschichten wurde im Dorf Serzorî geschrieben.

Der Widerstand von Serzorî

Serzorî  befindet sich rund 35 km östlich von Kobanê an der Grenze zu Girê Spî. Die Einnahme dieses Dorfes hatte strategische Bedeutung für den IS. Denn die Kontrolle des Hügels, der an das Sezorî grenzt, kommt der Kontrolle der Ostfront Kobanês gleich. Und aus diesem Grund wollten 13 Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG diesen Vorteil dem IS nicht widerstandslos überlassen. Sie retteten zunächst die meisten der Bewohner des Dorfes. Doch ein Teil der Dorfbewohner war bereits dem IS zum Opfer gefallen.

Mit drei Panzern und schwerem Aufgebot rückten die Islamisten bis ins Zentrum des Dorfes vor. Sie riefen die Verteidiger zur Kapitulation auf, denn ihre Übermacht war erdrückend. Sie erwarteten deshalb keine Gegenwehr von einer Handvoll YPG- und YPJ-Kämpfern. Doch diese machten unmissverständlich klar, dass sie zu keinem Zeitpunkt an eine Kapitulation dachten.

Das Dorf umzingelt – die Verteidiger eingekesselt

Doch die Situation wurde für die Verteidiger immer schwieriger. Denn der IS hatte das Dorf von drei Seiten umzingelt und zog die Schlinge immer weiter zu. Am Ende mussten die Verteidiger Kobanês sich im Schulgebäude des Dorfer verbarrikadieren, um nicht in die Hände des Feindes zu fallen. Zwi weitere Einheiten der YPG befanden sich bereits auf dem Weg nach Serzorî, um ihre umzingelten Freunde aus der Umzinglung zu befreien. Eine dritte sollte folgen. Doch das Unterfangen war schwierig und gefährlich.  Und deshalb teilten die eingekesselten YPG- und YPJ-Kämpfer über Funk ihren Freunden folgendes mit: „Bringt die Freunde nicht in Gefahr, wir werden versuchen selbst diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Wir werden dies versuchen und selbst wenn wir das nicht schaffen, schickt die Freunde nicht hierher. Die Terroristen haben schwere Waffen.“

Und so setzten die 13 Kämpferinnen und Kämpfer ihren Widerstand bis zur letzten Sekunde fort. Sie wussten, dass ihre Situation ausweglos ist. Sie wollten allerdings auch keine weiteren YPG- und YPJ-Mitglieder ihretwegen in eine Kampfhandlung verwickeln, die mit ziemlicher Sicherheit im Sinne des IS verlaufen würde.  Als der IS nochmals über Funk die 13 Kämpfer von Serzorî zur Aufgabe aufrief, antworteten diese, dass der IS niemals Kobanê einnehmen werde und setzten ihren Widerstad fort.

Am späten Nachmittag des 16. Septembers erkannte der IS, dass die Kämpfer sich nicht ergeben würden. Diejenigen YPG-Einheiten, die sich außerhalb des Dorfes befanden, konnten die Gefechte von ihren Stellungen heraus beobachten, waren aber nicht im Stande die Belagerung zu durchbrechen. Sie erklärten über Funk, dass sie alles tun werden, um in der Nacht an die Schule heranzukommen und den eingekesselten Kämpfern zur Hilfe zu eilen.

Doch dazu kam es nicht. Eineinhalb Tage hatten die Kämpfer von der Schule aus den Widerstand aufrecht gehalten. Nun griff der IS die Schule mit schweren Waffen an und setzte sie in Brand, noch bevor die YPG-Einheiten, die zur Unterstützung bis vor der Dorf gelangt waren, bis zur Schule vorrücken könnten. Die 13 Kämpfer von Serzorî ließen ihr Leben. Doch ihr Wille, bis zur letzten Sekunde und trotz der Ausweglosigkeit weiterzukämpfen, war aus moralischer Sicht wie ein Sieg für die Verteidiger Kobanês.

Während des Widerstandes von Serzorî sollen dutzende IS-Mitglieder getötet worden sein. Der IS wurde von dem Widerstand in einem so kleinen Dorf überrascht. Denn die Verteidiger hatten nur leichte Waffen und vergleichsweise wenig Munition. Und dennoch geriet der IS bereits früh bei seinem Sturm auf Kobanê hier ins Stocken und musste die ersten schweren Verluste hinnehmen.

Der Geist von Serzorî ist an allen Fronten zu spüren

Die letzten Worte an ihre Mitstreiter, eine Art Vermächtnis der 13 Kämpfer aus Serzorî, lauteten: “Lasst den Feind nicht nach Kobanê”. Ab diesem Moment an machten sich alle Kämpfer an allen Fronten diese Worte zu Eigen und leisteten ebenfalls Widerstand bis zur letzten Sekunde. Trotz großem Widerstand und schweren Schlägen gegen die Angreifer, konnte  der Vormarsch der Terroristen nicht gestoppt werden. Je mehr Verluste der IS einstecken musste, desto mehr Verstärkung rückte an. Dieser Umstand zwang die YPG und YPJ dazu, sich zunächst  aus den umliegenden Dörfern in das Stadtzentrum Kobanês zurückzuziehen. Diese Taktik bezweckte auch, die drei Angriffsfronten zu vereinen und eine starke Verteidigungsfront zu bilden. Der IS und seine Anhänger bejubelten bereits den scheinbaren Sieg über weite Teile Kobanês. Die Einnahme des Stadtzentrums stehe unmittelbar bevor, kündigten IS-Mitglieder und Sympathisanten an. Doch da freuten sie sich zu früh. Denn ab einem bestimmten Punkt begegneten sie von Neuem dem großen Widerstand der YPG-und YPJ und der schnelle Vormarsch wurde zunächst gestoppt.

Kobanê wird zur Hölle für den IS

Der Widerstand von Serzorî zeigte dem IS, dass die YPG und YPJ bereit sind, bis zum bitteren Ende Widerstand zu leisten. Nachdem die YPG und YPJ sich zunächst zurückzogen, festigten sie eine Verteidigungsfront rund um Kobanê herum. Der Grund für diesen taktischen Rückzug der Verteidiger war in ihrer geringen Zahl zu suchen, mit der sie auf einem breiten Terrain gegen einen zahlenmäßig und waffentechnisch überlegenen Fein, keine Chance hätten. Und so lockten sie den Gegner an die Stadtgrenzen, wo sie ihre Verteidigungslinien dichter aufstellen konnten. Dies führte zu heftigen Gefechten zwischen Angreifern und Verteidigern, mit Verlusten auf beiden Seiten. Dem IS gelang es, trotz schwerer Verluste, an einigen Punkten die Verteidigungslinien der Verteidiger zu durchbrechen und bis in die Mitte der Stadt einzudringen.

Die IS-Bandenmitglieder kündigten vor den Toren der Stadt über Funk ihrem türkischen Bündnispartner noch an, dass die Stadt binnen einer Woche unter ihrer Kontrolle sein würde. Doch mit jedem Tag, der verging, wurde aus den Funksprüchen der IS-Mitglieder ein aufkeimender Zweifel ersichtlich.  Die Verteidiger sprachen deshalb bereits vom “Kobanê-Syndrom”, das den IS heimzusuchen begonnen habe.

Eine Woche hat nicht gereicht

Sowohl der IS als auch sein strategischer Partner die Türkei prognostizierten ein schnelles Ende für Kobanê. Bereits nach einer Woche sollte die Stadt fallen, was jedoch nicht passierte. Der IS verlagerte immer mehr Terroristen und Waffen nach Kobanê. Mit dem Durchbrechen der Verteidigungslinien gelang es dem IS den Hügel Dolê unter ihre Kontrolle zu bringen. Von dort aus konnten sie das Stadtzentrum Kobanês mit bloßem Augen erkennen. Trotz des anhaltenden Vormarsches des IS hielt der unerbittliche Widerstand der YPG und YPJ an. So musste jeder Schritt, der dem IS in Richtung Kobanê gelang, mit hohen Verlusten in den Reihen der Islamisten erkauft werden.

Der Krieg konzentrierte sich an der Südfront und der IS schaffte es weiter in Richtung Stadtmitte vorzurücken. Gegen Ende September belagerte der IS weitere wichtige Punkte von Kobanê und war fast am Fuße des Miştenûr-Hügels. Die YPJ’lerinnen, die das erfuhren, reagierten mit großem Zorn und erklärten, dass sie sich nicht mehr zurückwichen werden.

Die zweite Woche: Kein Schlaf, kein Durst, kein Hunger, nur Widerstand

Die zweite Woche im Krieg um das Stadtzentrum brach an und der IS konnte bis zum Fuß des Miştenûr-Hügels vorrücken. Die Verteidiger verspürten großen Zorn auf den IS und leisteten erbitterten Widerstand. Der IS war es gewohnt leere Städte vorzufinden, egal wo er hinging. Nicht so in Kobanê: Die Kinder der Stadt leisteten Widerstand, für sie war Rückzug oder eine Kapitulation keine Option.

In den ersten Oktobertagen erreichte der IS das Dorf Hellince an der Ostfront. Die Kämpfe konzentrierten sich parallel zu dem Miştenûr-Hügel an diesem Punkt. Die Terroristen konnten flexibel reagieren, tauschten ermüdete Terroristen gegen neu eingetroffene ein und griffen mit allen Mitteln an. Auf Seiten der YPG war von Erholung nicht die Rede. Im Gegenteil, manche Kämpfer besuchten in nur einem Tag mehrere Kriegsfronten. Hunger und Durst waren für die Verteidiger keine Begriffe, sie setzen den Feind in Verwunderung und zogen die Sympathien der Welt auf sich.

Der IS traf  in Hellince auf eine kleine Einheit unter Kommandantur von Emin Erkendi. Erkendi wusste, dass die der Miştenûr-Hügel unter totaler Belagerung stehen würde, wenn das Dorf fällt. Erkendi und seine Einheit verteidigten das Dorf trotz Unterzahl und der Ungleichheit der Waffen. In den Funksprüchen mit der Kommandantin Meryem Kobanê fielen folgende Worte: “Seit zehn Tagen leisten wir unermüdlichen Widerstand. Ich habe so etwas noch nie gesehen, meine Waffe macht dies nicht mehr mit”. Erkendi ließ während der Verteidigung des Dorfes Helince sein Leben. Der IS nahm das Dorf unter seine Kontrolle und rückte weiter in Richtung der Stadtviertel Mektel und Kaniya Kurda vor.

Der Widerstand in Mektel und Kaniya Kurda

Die YPJ’lerinnen in Mektel hoben Graben am Eingang zum Viertel aus und stoppten den Vormarsch der Terroristen. Die YPJ-Kämpferinnen fügten dem IS schwere Verluste zu und machten einige Panzer unbrauchbar. An vorderster Front kämpften Rûken und Eylem bis sie ihre Munitionen vollständig aufbrauchten. Sie wichen von den Gräben keinen Schritt zurück und mussten schließlich ihr Leben lassen.

Ein ähnlicher Widerstand wurde in dem Viertel Kaniya Kurda geleistet. Ein Tag nach dem Widerstand von Rûken und Eylem verteidigten Jiyan und Gûlan das Viertel Kaniya Kurda mit gleicher Entschlossenheit. Der IS wollte über Kaniya Kurda in das Stadtzentrum vorrücken. Jiyan und Gûlan verteidigten ihre Stellungen einen ganzen Tag lang und ließen die Angreifer nicht vorrücken, bis auch sie fielen und der IS vorrücken konnte.

Der Zorn von Arîn Mirkan

Zur gleichen Zeit ereigneten sich heftige Gefechte am Miştenûr-Hügel. Der Hügel wurde mit schweren Waffen und Panzern angegriffen und bombardiert. Zwischen den vorrückenden Terroristen und den YPG- und YPJ-Kämpfer kam es zu schweren Gefechten. Nach mehrtätigem Widerstand fiel der Hügel am 05. Oktober in die Hand des IS. YPJ-Kommandantin Arîn Mirkan verspürte demgegenüber großen Zorn. Sie erklärte, dass dem IS der Hügel nicht überlassen werden solle und entschied sich für eine Aktion, in der sie sich in den Reihen des IS in die Luft sprengen wollte. Sie bereitete ihre Aktion vor, schaffte es in die Reihen der Terroristen, gelang bis zu einem Versammlungspunkt und sprengte sich dort  in die Luft. Der IS erlitt dadurch große Verluste am Miştenûr-Hügel. Die Terroristen schafften es zwar bis in die Stadtmitte von Kobanê, gerieten aber vor der Entschlossenheit und dem Zorn der YPG- und YPJ-Einheiten in Panik. Der IS erkannte, dass Kobanê sich langsam aber sicher für sie zur Hölle verwandelte.

Kapitulation ist keine Option

Nach der Eroberung Miştenûrs gelang der IS in das Viertel Kaniya Kurda. Im Westen nahm er den Hügel Izae ein und im Süden gelangte er bis zum Şehit Dicle-Friedhof, sodass die YPG und YPJ in mehreren Gräben hinter dem Hügel Til-Şeir die Stellungen beziehen musste. Meryem Kobanê erklärte zu diesem Tagen Folgendes: “Sie sind zwar über Kaniya Kurda nach Kobanê gelangt, aber diese Stadt wird ihr Grabmal sein. Wir werden sie über Kaniya Kurda wieder aus der Stadt treiben”.

Der Widerstand verlagerte sich somit vollständig in das Stadtzentrum. YPG Kommandant Diyar Bagok kommentierte dies wie folgt: “Der Kriegt beginnt jetzt erst richtig. So, wie wir sie aus anderen Orten schon vertrieben haben, werden wir sie auch aus Kobanê fegen. Wir werden großen Widerstand leisten.”

Erdogan: Kobanê ist kurz vor dem Fall

Nachdem Kobanê nicht “nach einer Woche” gefallen ist, änderte die türkische Medienlandschaft ihre Strategie. Ziel war es jetzt den Eindruck zu vermitteln, dass es “ohnehin keinen richtigen Widerstand” mehr gebe und die Stadt “von alleine fallen” werde, wenn der IS erst einmal das Stadtzentrum erreiche. “Dann wird keinerlei Widerstand mehr geben” war gemeinsame Parole der Medien. Zeitgleich verlautbarte der damalige türkische Ministerpräsident Erdogan, dass “Kobanê kurz vor dem Fall” stehe.

Dieser Teil unseres Kobanê-Specials ist eine Zusammenstellung der beiden Artikel, die in der  Originalfassung in türkischer Sprache unter den Titeln “Eylül destanının ilk sayfası: Serzorî Direnişi am 19. September 2016 und “Kobanê DAİŞ’in cehennemi oldu!” am 20. September 2016 erschienen sind.

Weiterlesen:

Zum Teil 1 des Kobanê-Specials

Zum Teil 2 des Kobanê-Specials

Zum Teil 3 des Kobanê-Specials

Zum Teil 4 des Kobanê-Specials