Teil 6 des Kobanê-Specials, Sedat Sur (ANF), Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 30.10.2016
Der Krieg in Kobanê spielte sich nun in der Stadtmitte ab. YPG- und YPJ-Kämpfer leisteten Widerstand in jeder Straße und jedem Haus von Kobanê. Inmitten des Widerstandes wurde Kommandant Diyar zu einer Führungsfigur.
Im Stadtzentrum muss der IS schwere Verluste hinnehmen
Der IS kontrollierte mittlerweile Miştenur, Kaniya Kurda, Izae und den Şehit Dicle Friedhof. Er war also weit in das Stadtzentrum vorgerückt. Die YPG- und YPJ-Einheiten verteidigten die Stadt am Til Şeir-Hügel. Die YPG, die außer den Kampf um Serekaniyê in 2013 keine Erfahrung in der Verteidigung einer Stadt hatte, kämpfte entschlossen in Kobanê gegen den IS, der bis dahin berühmt für seine schnellen Erfolge war.
Der Widerstand von Kommandant Diyar
Als der IS in das Zentrum betritt, trifft er auf den Widerstand von Kommandant Diyar Bagok. Kommandant Diyar sagte, “wir werden uns keinen Schritt zurückziehen, sondern die Stadt verteidigen”. Seinen Worten ließ der YPG-Kommandant Taten folgen, die den IS in Diyars Worten “zur Verzweiflung” brachten. Kommandant Diyar erklärte, dass es für ihn unerträglich ist, dass die IS-Terroristen trotz des großen Widerstands seiner Freunde Fuß auf den Boden Kobanês setzten. Er leitete eine Gruppe, die an der Ostfront kämpfte. Dort war der IS bis in die Nähe des Asayish-Gebäudes, also der Zentrale der Sicherheitskräfte Kobanês, vorgedrungen.
Das Gebäude der Asayish wird zum Zentrum des Widerstands
Kommandant Diyar war entschlossen darin, seine Stellung nicht aufzugeben. Am 06. Oktober verschärfte der Krieg sich im Stadtzentrum noch einmal, in Kobanê war die Hölle los. Der IS schaffte es ganz nah an das Asayish-Gebäude heran, woraufhin Kommandant Diyar beschloss, Eigeninitiative zu ergreifen.
Er hält fortan alleine die Stellung auf der Straße zu dem Gebäude. Nach schweren Auseinandersetzungen verletzt sich der YPG-Kommandant am Bauch. Seine Freunde rufen ihn über Funk dazu auf, sich zurückzuziehen. Doch er weigert sich, bindet sein Halstuch um die Wunde und setzt den Kampf gegen den IS fort.
Die Freunde Diyars fordern ihn noch einmal zum Rückzug auf, da er alleine und verletzt ist. Diyar akzeptiert dies nicht und antwortet, dass nicht seine Wunden, sondern der Widerstand wichtig sei. Dies sollte gleichzeitig die letzte Funkverbindung zwischen Kommandant Diyar und seinen Freunden sein. Diyar setzte seinen Widerstand in und um das Asayish-Gebäude fort. Am zweiten Tag des Widerstands rückt der IS mit schweren Waffen und zwei Autobomben auf das Gebäude vor. Die Angreifer gehen wohl davon aus, dass sich in dem Gebäude eine ganze Gruppe von Kämpfern befindet. Der Kommandant lässt in dem Gebäude, in dem er bis zum letzten Atemzug seinen Widerstand fortgesetzt hat, sein Leben.
Die kritische Nacht in Kobanê
Dem IS gelang es in hartumkämpften Auseinandersetzungen, große Teile der Stadt unter seine Kontrolle zu bringen. Schwere Waffen, Panzer und eine Unmenge an islamistischen Kämpfern machten dies möglich. Die YPG- und YPJ-Kämpfer ließen sich davon aber nicht abschrecken und waren entschlossen die weiter Stadt zu verteidigen.
Der IS rückte weiter vor in Richtung dem Grenzübergang zur Türkei. Ziel war es, den Übergang einzunehmen um die letzte Verbindung zur Außenwelt zu kappen. Am Abend des 06. Oktober hat der IS eine große Operation gestartet, um den Grenzübergang einzunehmen. Dieses Vorhaben wurde von der türkischen Seite unterstützt.
Türkei öffnet den Grenzübergang
Während dieser kritischen Stunden passierte am Grenzübergang zur Türkei ein interessantes Ereignis. Der türkische Staat öffnete die Grenze, was er bis dahin “aus Sicherheitsgründen” strikt ablehnte. Ziel war es, den Widerstand zu brechen und die YPG- und YPJ’ler über die Grenze zu lassen, die die Stadt aufgeben wollten. Diese wiederum gaben ihre Stellungen an dem Grenzübergang aber nicht auf und leisteten weiter Widerstand. Der Kampf konzentrierte sich auf den Grenzübergang. Der IS diesen unbedingt einzunehmen und griff mit seinen schweren Waffen die Verteidiger an. Diese zeigten allerdings der Welt, dass der Kampf um Kobanê immer noch nicht entschieden ist.
Die Internationale Koalition kann den Widerstand nicht mehr ignorieren
Die Internationale Koalition zur Bekämpfung des IS war bis zu diesem Zeitpunkt in der Rolle des Zuschauers verblieben. Der große Widerstand der Kämpfer und die Entschlossenheit, die Stadt unter allen Umständen zu verteidigen, zwang die Koalition zur Handlung. Die ersten Luftangriffe auf die Stellungen des IS in Kobanê wurden in jenen Tagen geflogen.
Zeit des Aufbruchs in Kobanê
Die Angriffe auf den Grenzübergang zur Türkei am 06. und 07. Oktober wurden erfolgreich abgewehrt. Die Angriffe des IS gingen aber pausenlos weiter. Während der östliche Teil der Stadt mittlerweile unter Kontrolle des IS war, stand der westliche Teil unter Kontrolle der YPG und YPJ. Die Front verlief nun mitten durch die Stadt.
YPG und YPJ wenden Guerilla-Taktiken an
Im Stadtzentrum wendeten nun die YPG und YPJ-Einheiten Guerillataktiken im Kampf gegen den IS an. An jeder Front wurden immer wieder Hit-and-Run-Aktionen erfolgreich durchgeführt. Der IS antwortete hierauf mit Autobomben.
Während des gesamten Oktobers war die Verteidigung der Stadt das oberste Ziel der YPG und YPJ. Im November wurde von diesem Ziel zwar nicht abgewichen, aber punktuell wurden Vorstöße zur Rückeroberung gemacht. Selbst wenn einige Stellungen nicht gehalten und nochmals erobert werden mussten, war der November der Monat, an dem alle Angriffe des IS ins Leere liefen. Der Widerstand dauerte mittlerweile zweieinhalb Monate an. Aber nun schien das Blatt gewendet.
Der zweite große Wendepunkt in Kobanê
Doch neben dem IS schien insbesondere die Türkei sich mit der drohenden Befreiung Kobanês nicht abfinden zu wollen. Und so unterstützte der türkische Staat am 29. November einen erneute Offensive des IS auf Kobanê. Der IS startete ihren neuerlichen Angriff auf Kobanê mit Autobomben und Panzern aus allen vier Himmelsrichtungen. Die wichtigste Front dieses Angriffs war die Nordfront an der Grenze zur Türkei. Die IS-Terroristen verübten einen Anschlag auf den Grenzübergang in Suruç. Während die Bombe an dem Kontrollposten hochging, griffen weitere IS-Terroristen unter Aufsicht der Türkei das Getreidelager auf türkischer Seite an. An dem Grenzübergang erlebte Kobanê einen zweiten Wendepunkt im Kampf um die Stadt und die YPG und YPJ werten diesen neuerlichen Angriff mit einem großen Widerstand ab.
Kommandant Ebû Leyla leistet Widerstand an dem Grenzübergang
Der Grenzübergang galt vor dieser Attacke nicht als vorderste Front, sodass die Überwachung den Asayish-Einheiten, die sich zumeist aus der Zivilbevölkerung zusammensetzen, und verletzten YPG’lern überlassen wurde. Während des Angriffs auf den Übergang erfährt Kommandant Mahmud Berxwedan davon. Berxwedan gibt Anweisungen über Funk zur Verteidigung. Die Asayish-Einheiten und verletzten Kämpfer sind allerdings in Unterzahl und die Gefahr auf die Kontrollübernahme durch den IS ist groß. Kommandant Ebû Leyla vom Burkan-Al-Firat schaltet sich rechtzeitig zur Verteidigung ein und hilft den Einheiten bei der Verteidigung des Grenzübergangs. Bei dieser Schlacht machte sich der Kommandant Ebû Leyla erstmals einen Namen. Er sollte auch in der Folgezeit eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS spielen, bevor er am 05. Juni 2016 bei der Operation zur Befreiung seiner Heimatstadt Minbic sein Leben lassen sollte.
Der Anfang von Ende für den IS in Kobanê
Der Widerstand an dem Grenzübergang gilt endgültig als Anfang vom Ende des IS in Kobanê. An der Ost- und Südfront konnte der IS ebenfalls gestoppt bzw. zurückgedrängt werden. Die Antwort darauf waren vermehrte Selbstmordattentate.
Währenddessen plante die YPG und YPJ einen Aufbruch zur Rückeroberung der gesamten Stadt. Ziel war es, die komplette Stadt zu befreien. Der IS hatte mit Niederlage von Kobanê nun seinen Zenit überschritten. Der Höhenflug des „Kalifats“ hatte in Kobanê sein Ende gefunden.
Dieser Teil unseres Kobanê-Specials ist eine Zusammenstellung der beiden Artikel, die in der Originalfassung in türkischer Sprache unter den Titeln “Komutan Diyar fedaileşiyor” am 21. September 2016″ und “Kobanê’de hamle zamanı” am 22. September 2016 erschienen sind.
Weiterlesen:
Zum Teil 1 des Kobanê-Specials
Zum Teil 2 des Kobanê-Specials
Zum Teil 3 des Kobanê-Specials
Zum Teil 4 des Kobanê-Specials
Zum Teil 5 des Kobanê-Specials