Teil 4 des Kobanê-Specials, Sedat Sur (ANF), Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 27.10.2016
Die letzten Stunden des 14. September 2014 waren die ersten des großen Widerstands von Kobanê. Die Stadt war von allen Seiten umzingelt und belagert. Der historische Kampf um die Stadt zwischen der YPG/YPJ und dem “Islamischen Staat” entwickelte sich zu einem historischen Ereignis der Neuzeit. Während den Angriffen im Juni hat der IS gemerkt, dass der Widerstand der YPG und YPJ trotz der Belagerung aus drei Seiten nicht zu brechen ist.
Ruhe vor dem Sturm
Der August 2014 war aus Sicht der Kämpfe in und um Kobanê eher ruhig, sodass die Stadt sich dem Wiederaufbau widmete. Die Soldaten des Baath-Regimes überließen praktisch die Städte Tabqa und Deyr-ez Zor ohne große Gegenwehr dem IS. Es stellte sich später heraus, dass diese Zeit die Ruhe vor dem erneuten Sturm auf Kobanê sein sollte.
Die Waffen des Regimes dienen zur Belagerung von Kobanê
Der IS konzentrierte sich in dieser Zeit darauf, dem syrischen Regime Gebiete zu entreißen. Und das gelang den Islamisten relativ gut. Über den gesamten August hinweg verzeichnete der IS Erfolge gegen die Regimekräfte. In Ain Issa flüchteten tausende syrische Soldaten, als der IS Mitte August zum Großangriff auf die Stellungen des Regimes ansetzte. Zahlreiche Waffen und Munition wurde den Angreifern überlassen. In Tabqa war daraufhin der Militärflughafen Ziel des IS. Innerhalb weniger Tage konnten die Islamisten auch hier einen Erfolg verbuchen. Im Flughafen waren verschiedenste schwere Waffen des Regimes gebunkert. Diese gehörten nun zum Waffenarsenal des IS. So sollen allein 40 Panzer hier in die Hände der IS-Banden gefallen sein.
Viele der erbeuteten Waffen der Regimekräfte wurden nach und nach an die Stadtgrenzen von Kobanê gebracht. Auch aus Mossul ließ der IS schwere Waffen nach Kobanê bringen. Somit konzentrierten die Islamisten die Waffen zweier regulären Armeen vor den Toren Kobanês, wo auf sie die spärlich ausgestatteten Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG warteten. Die Vorbereitungen des IS liefen auf Hochtouren. Eine erneute Niederlage sollte ausgeschlossen werden
Waffenlieferungen und logistische Unterstützung aus der Türkei
Auch die Unterstützung aus der Türkei sollte bei dem anstehenden Ansturm auf Kobanê professioneller ablaufen. Der nördliche Grenzübergang zur Türkei sollte fortan systematisch als vierte Front gegen die Verteidiger der Stadt genutzt werden. Die Bahnstrecke der Bagdad-Bahn, deren Gleise direkt im Grenzgebiet verlaufen, soll als Nachschubweg für die Waffenlieferungen an den IS missbraucht worden sein. Anwohner Kobanês berichten davon, dass die Züge auf der Strecke direkt gegenüber ihrer Stadt stoppten und Waffen abgeladen wurden. Die Kommandanten der YPG und YPJ beobachteten die Vorbereitungen des IS und ihrer Komplizen sehr genau. Sie merkten früh, dass der bevorstehende Angriff alles bisherige in den Schatten stellen würde.
Waffenstillstand zwischen dem Regime und dem IS
Um die Gefechte zwischen dem Baath-Regime und dem IS wurde es Anfang September auffällig ruhig. Während das Regime keinerlei Operationen startete, griff der IS auch keine eingekesselten Stellungen des Regimes an. Die Vermutung einer Waffenruhe lag nahe.
Dieser Umstand machten einen Angriff auf Kobanê, bei dem der IS seine gesamte Kraft bündeln konnte, überhaupt erst möglich. Im Süden von der Stadt Sirîn aus, im Westen von Cerablus aus, im Osten von Girê Spî aus und im Norden von Seiten des türkischen Staates waren die vier Angriffsfronten des IS auf Kobanê hergerichtet.
Die Lage in Kobanê
Bis zu diesem Zeitpunkt war Kobanê ungefähr zwei Jahre lang unter Belagerung. Eine Verbindung zur Außenwelt gab es nicht oder nur zeitweise und die Stadtbevölkerung musste mit ihren eigenen Mitteln versuchen ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse zu stillen. Da durch die Belagerung der Handel zu einem Stillstand gekommen war, hat die Kantonsverwaltung mit einem Programm begonnen, die landwirtschaftliche Produktion zu fördern, um dadurch die Not zu lindern. Trotzdem war die Bevölkerung weiterhin mit großen Schwierigkeiten konfrontiert.
Trotz militärischer Unterlegenheit
Gleichzeitig hatten die Probleme auf militärischer Ebene weiter Bestand. Es gab in der Stadt nicht genügend YPG und YPJ Kämpfer/innen. Diejenigen, die sich neu dazu entschlossen, bei der Verteidigung der Stadt mitzuwirken, konnten nur unzureichend ausgebildet werden. Und so wurden zwar Verteidigungslinien gegen die Angriffe des IS gebildet. Aber diese langten nicht aus, um die Stadt endgültig zu befreien und die Belagerung zu durchbrechen.
Rückenwind für die Verteidigung kam hingegen vonseiten verschiedener fortschrittlicher arabischer Gruppen, wie Sûwar Al-Raqqa und Shemsi Shimal, die zum Militärbündnis “Burkan Al-Firat” gehörten. Sie unterstützten den Kampf gegen die Angriffe des IS und legten auf diesem Wege den Grundstein für das erste militärische Bündnis zwischen Kurden und Arabern im syrischen Bürgerkrieg.
Die Ruhe ist vorbei, der Sturm beginnt
Der IS hatte seine Kraftkonzentration vollendet und war bereit zum Angriff. In Kobanê stand ein heftiger Sturm an: Auf der einen Seite eine enorme Anzahl an Waffen und islamistischer Angreifer, gepaart mit unendlicher logistischen und militärischen Unterstützung des türkischen Staates. Auf der anderen Seite die Verteidiger einer Stadt, die zwar mit jeglicher militärischen Not zu kämpfen hatten, aber für ihre und die Freiheit ihres Volkes bereit waren, alles zu geben.
Diesen Krieg gewinnen wir!
Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, welchen Umfang dieser Krieg annehmen wird. Die YPG und YPJ haben von Anfang an gemerkt, dass dies keine herkömmliche Offensive oder Aktion darstellen würde. Die Ungleichheit in militärischer und technischer Hinsicht sowie die Unterschiede in der Anzahl der Kämpfer machten sich klar deutlich.
Der IS machte deutlich, dass er vorhatte die Stadt dieses Mal im Handumdrehen zu erobern. Er kündigte gar an, dass seine Kämpfe ihr Gebet beim Islamischen Fest zum Abschluss des Ramadanfastens in Kobanê abhalten würden. Der Angriff des IS sollte groß, der Widerstand der YPG und YPJ allerdings historisch sein. YPJ Kommandantin Meryem fasste dies wie folgt zusammen: “Das wird kein gewöhnlicher Krieg. Das wird ein Kampf zwischen der etatistischen patriarchalen Gewaltherrschaft gegen die Kraft der demokratischen Moderne. Diesen Krieg gewinnen wir!”.
Der erste Angriff aus der Westfront
Am 14. September gegen 19.00 Uhr startete der Angriff des IS in den Dörfern Tahlik und Zerik. Die ersten Ziele waren die Dörfer Huriye, Serzori, Qizeli, Korik und Leqleqo. Gegen 21.00 Uhr startete zudem der Angriff auf alle Dörfer an der Südfront. Diese Front teilte der IS in eine Südost- und eine Südwestseite ein. Der Krieg zwischen der YPG/YPJ und dem IS ereignete sich nun an fünf Fronten.
Widerstand von Anfang an
Im Dorf Serzori setzte die YPG und YPJ zu einem Widerstand an, von dem sie bis zum Ende kein Stück abweichen sollte. In einer zweistöckigen Grundschule traf der IS auf 13 YPG und YPJ Kämpfer, die in einer historischen Schlacht dem IS zeigten, dass dieser Krieg für sie nicht so einfach zu gewinnen ist. Der IS plante, die Stadt innerhalb weniger Tage, wenn nicht sogar Stunden einzunehmen, um den bis dahin anhaltenden Mythos der Unbesiegbarkeit nochmals aufpoliert der ganzen Welt präsentieren zu können.
An der Südfront trafen die Islamisten auf die YPG, YPJ und das Burkan Al-Firat Bündnis. Und auch hier leisteten die Verteidigungskräfte der Stadt großen Widerstand, welcher gleichzeitig der Beweis dafür war, wie willensstark die Kämpfer waren und der Widerstand kein Zufall war.
Die Tage danach waren Schauplatz eines heftigen Kriegs, bei dem die Ungleichheit zwischen beiden Seiten in aller Hinsicht präsent war. Je mehr Verluste der IS hinnehmen musste, desto aggressiver wurde er. Getötete Terroristen wurden sofort ersetzt und es wurde sofort wieder zum Angriff übergegangen. Trotz des großen Widerstands schaffte es der IS an drei Fronten vorzurücken. In jeder Straße, auf jedem Hügel und an jeder Ecke wurde es nun für die Verteidiger Kobanês Zeit, die Legenden des Widerstands zu schreiben.
Die Originalfassung erschien in türkischer Sprache unter dem Titel “Kobanê tarihin akışını değiştirdi” am 17. September 2016.
Weiterlesen:
Zum Teil 1 des Kobanê-Specials
Zum Teil 2 des Kobanê-Specials
Zum Teil 3 des Kobanê-Specials