Die Kette der Vernichtung durchbrechen – KurdInnen und Suryoye im Kampf um die Freiheit vereint

suryani kilisesiMako Qoçgirî, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 19.05.14

Am 24. April gedenken die Armenier und ihre Freundinnen und Freunde aus aller Welt den Opfern des „Medz Yeghern“ (armenisch für „große Katastrophe“). So bezeichnen die ArmenierInnen den Genozid an ihrer Vorfahren, für das die politische Elite des Osmanischen Reiches, die „Ittihat ve Terakki Cemiyeti“ (zu deutsch „Partei für Einheit und Fortschritt“) verantwortlich ist. Es war der 24. April im Jahre 1915, als die ersten armenischen Intellektuellen in Istanbul deportiert worden waren. Diese Ereignisse stellen den Beginn des Genozids dar. Im kommenden Jahr jährt sich die „große Katastrophe“ zum einhundertsten Mal. Und noch immer verweigern die heutigen politischen Entscheidungsträger der Türkei die Verantwortung ihrer Vorfahren für diesen Genozid.

Doch die Ereignisse, die an jenem Tag ihren Anlauf nahmen, stellen nicht nur für die ArmenierInnen eine traumatische historische Epoche dar. Denn auch die Suryoye (AssyrerInnen, AramäerInnen und ChaldäerInnen) waren Opfer dieses Genozids. Sie bezeichnen die Epoche des Genozids als „Schato d‘Seyfo“, was übersetzt so viel wie „das Jahr des Schwerts“ bedeutet. Ishow Gowriye, Vorsitzender der Suryoye Einheitspartei in Syrien (SUP), erklärt im Gespräch mit der türkischen Nachrichtenseite t24, dass von 1915 bis 1917 zwischen 500.000 und 750.000 Suryoye systematisch ermordet worden sind. „Unser Trauma beschränkt sich aber nicht allein auf das Jahr 1915. Auch in den 1970er und 80er Jahren wurden unzählige Suryoye aus ihrer Heimat in der Türkei vertrieben. Allein in Brüssel sind 5000 Familien zu finden, die aus ihrer Heimatstadt Midyad vertrieben worden sind“, so Gowriye. Heute leben rund 1,5 Millionen Suryoye im Exil.

Rojava ein Hoffnungsschimmer auch für die Suryoye

Der anhaltende Krieg in Syrien scheint sich als eine weitere Episode in den traumatischen Erlebnissen in der Geschichte der Suryoye einzureihen. In Syrien lebten vor dem Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen rund 2,5 Mio. Christinnen und Christen. „So gut wie alle von ihnen sind Suryoye. Es gibt auch einige ArmenierInnen, doch die meisten sind über die Jahre assimiliert worden“, fährt Gowriye in seinen Schilderungen fort. In den ersten drei Jahren des Bürgerkriegs seien zwischen 600.000 und 700.000 von ihnen geflohen. Doch inmitten des täglichen Terrors in Syrien sieht der Vorsitzende der SUP auch einen Hoffnungsschimmer für sich und seine Landsleute, die Rojava-Revolution.

Als am 21. Januar dieses Jahres in der Provinz Cizîre die Demokratisch-Autonome Selbstverwaltung ausgerufen wird, ändert sich für die dort lebenden Suryoye schlagartig einiges. Denn Cizîre ist ab dem Zeitpunkt einer von drei Kantonen (in Afrin und Kobanê wird kurze Zeit darauf auch die Demokratische Autonomie ausgerufen), mit einer eigenen Verwaltung, einem eigenen Parlament und Ministerien – und die Suryoye sind ein Bestandteil dessen. In Cizîre wird Aramäisch neben dem Kurdischen und dem Arabischen zur Amtssprache erklärt und die stellvertretende Vorsitzende der Demokratisch-Autonomen Verwaltung, Elizbet Gouriye, ist eine Assyrerin. „Wir sind nicht nur Teil der Selbstverwaltung. Wir verfügen auch über eigene bewaffnete Einheiten, die Teil der Sicherheitskräfte sind.“ Gouriye spricht von den Sutoro-Einheiten, den christlichen Selbstverteidigungskräften, die gemeinsam mit den kurdischen Einheiten der YPG (Volksverteidigungseinheiten) und den Sicherheitskräften der Asayish die Gebiete von Rojava gegen Angriffe von draußen verteidigen. Mit folgenden Worten fährt Gouriye fort und beschreibt die neuen Herausforderungen für die Suryoye in Syrien: „Wir sind hier von nun an alle gleichberechtigt. Wir leben hier gemeinsam als Völker Mesopotamiens seit 5000 Jahren. Uns ist klar, dass das alles nicht einfach sein wird. Wir sind Angriffen und Embargos ausgesetzt. Doch wir, als Völker der Region, haben die Verantwortung für uns übernommen.“ Die Kette der traumatischen Erlebnisse in der Geschichte der Suryoye soll durchbrechen und Rojava scheint der geeignete Ort dafür zu sein.

Die Freiheit führt über die Solidarität der Völker

„Auch die Kurden haben uns ermordet“, erzählt George Shamoun. Er ist Europaverantwortlicher der SUP. „Die Entscheidung zum Genozid hatten die Türken an der Spitze des Osmanischen Reiches gefällt und die Kurden haben diese Entscheidung mitausgeführt. Doch die Kurden haben sich verändert. Sie haben sich für ihre Taten aus der Vergangenheit entschuldigt“, fährt Schamoun fort.

Die sogenannten Hamidiye Regimenter, eine mehrheitlich kurdische Kavallerietruppe, gehörte zu den ausführenden Kräften des Befehls zum Genozid an den Armeniern und an den Suryoye. Heute gehen die KurdInnen im Gegensatz zum türkischen Staat selbstkritisch mit ihrer Vergangenheit um. Ahmet Türk, ein geachteter kurdischer Politiker entschuldigte sich im Februar 2013 mit folgenden Worten für die Taten seiner Vorfahren: „Es ist an der Zeit, dass wir alle die Geschichte neu lesen und die Realitäten der Vergangenheit akzeptieren. Das Osmanische Reich hat unsere Vorfahren benutzt, um Armenier, Aramäer und Yeziden zu massakrieren. Wir, die Kinder und Enkelkinder, bitten sie nun um Vergebung.“ Ahmet Türk ist aktuell gemeinsam mit Februniye Akyol, einer Suryoye, Ko-Bürgermeister von Mêrdîn, einer nordkurdischen Stadt, in der KurdInnen, Suryoye und AraberInnen zu Hause sind. In derselben Stadt wurde bei den Parlamentswahlen 2011 in den Reihen der BDP erstmals in der Geschichte der Türkei mit Erol Dora ein Suryoye in das türkische Parlament als Abgeordneter gewählt.

Sowohl in Nordkurdistan als auch in Rojava sind die KurdInnen und die Suryoye im Kampf um die Freiheit vereint. In Rojava wehren sie derzeit nicht nur gemeinsam die Angriffe islamistischer Gruppierungen ab, sie errichten ein alternatives Gesellschaftskonzept. Nach dem 1. Weltkrieg wurden von den Siegermächten nach eigenem Gutdünken Grenzen zwischen den Volksgruppen in Mesopotamien gezogen, die zu Nationalismus, Unterdrückung und weiteren Kriegen geführt haben. Heute sind gerade die Volksgruppe, die in den letzten fast hundert Jahren am meisten unter den Folgen der Grenzziehungen gelitten haben, die VorreiterInnen eines Gesellschaftssystems, das die Grenzen zwischen den Staaten und in den Köpfen der Menschen überwinden will.