Überlegungen zur Verhandlungsfähigkeit der Türkei
Tuncel Fikret, Journalist
Die in Nordkurdistan stärkste politische Kraft ist unter dem Einfluss des Kalten Krieges mit Bezug auf das leninistische Modell bzw. vergleichbare Modelle gegründet worden. Ihre Visionen, ihr Manifest (theoretisch von besagten Modellen geprägt), ihre Bündnisse und ihre Kriegsstrategie standen stets unter der Maxime »Freiheit für das kurdische Volk«.
Die fehlende Struktur der Kurden und ihre Zerstreuung auf vier Staaten sind das Resultat einer internationalen Intervention in der Region, was bei der heute dominanten Kraft damals zur Sensibilisierung des Widerstands geführt hat. Zudem war der Widerstand aufgrund widriger Bedingungen gezwungen, innerhalb der Bevölkerung zu agieren, was sie befähigte, weltweite Veränderungen stets frühzeitig wahrzunehmen.
Dieser dynamische Ansatz und ein kontrollierter Pragmatismus führten dazu, dass diese Bewegung vom »Niedergang des Realsozialismus« quasi unberührt blieb. Sie konnte ihre Struktur als auch ihre Ziele revidieren, da sie imstande war, sich neu zu erfinden, die Sprache der Zeit zu sprechen und die richtigen Schachzüge zur richtigen Zeit zu machen.
In den 90er Jahren weiteten sich die militärischen Zusammenstöße erheblich aus, parallel dazu aber auch die Bemühungen für ein friedliches Zusammenleben in Form von Waffenstillständen, Dialoganstrengungen und Lösungserklärungen.
Mit Bezug auf das sowjetische und das chinesische Beispiel hat diese Bewegung um die 2000er Jahre herum begonnen, den Staat und die damit einhergehende Herrschaft für sich als Lösungsmodell abzulehnen, so dass sie von den Ideen und Erfahrungen aktionistischer Theoretiker, Globalisierungskritiker, Umweltschützer und Philosophen, die den konventionellen Staat infrage stellten, profitieren konnte. Sie hat die Verblendung unter dem Vorwand der Aufklärung abgelehnt und sich einen weiterhin marxistisch geprägten Rahmen gegeben.
Mit diesem Paradigma, das sich nicht der Erkenntnis verschließt, wurde ein komplexes, sich aufeinander beziehendes Organisationsmodell entworfen und proklamiert, das als Demokratischer Konföderalismus – Demokratische Republik – Demokratische Autonomie beschrieben werden kann.
Zweifelsohne sind langfristige Überlegungen und Ideen im Hinblick auf unsere Gesellschaft und die globalen Entwicklungen von enormer Bedeutung, aber notwendig war es, die Frage nach dem Status der Kurden im Nahen/Mittleren Osten zu beantworten, denn nur so konnte eine sich abzeichnende Katastrophe abgewendet werden.
Die kurdische Bewegung verfolgt hierbei parallel eine Strategie von Druck und Überzeugung: Für ein Zusammenleben gilt es die Türken von der Gleichberechtigung und die Kurden von einer Lösung ohne eigenen Staat zu überzeugen. Die Kurden würden ihre Mindestrechte bekommen und somit der Rest der Türkei in den Genuss einer maximalen Demokratie. Niemand verliert dabei …
Der Staat, unterschiedliche Institutionen als auch die kurdische Politik sind sich dessen bewusst, wie hoch der Preis sein wird, wenn man sich einer auf gegenseitiger Überzeugung und Billigung basierenden gemeinsamen Zukunft verschließt.
Zuletzt hat nun der türkische Staat aufgrund der Zielrevidierung der 20-Millionen-Minderheit, die er bis heute mit militärischen Mitteln zu unterdrücken versuchte, den Anlauf gewagt, den Staat zu entnationalisieren.
Was wird der Staat unternehmen?
Der türkische Staat besitzt nicht die Fähigkeit, Probleme gerecht und im Dialog zu lösen. Seine Geschichte belegt ganz klar, dass er sie sich bewusst nicht angeeignet hat. Stattdessen werden Probleme aufgeschoben, unterdrückt, liquidiert oder physisch derart marginalisiert, dass ihre Existenz für den Staat hinnehmbar ist. Es ist ein türkisch-staatlicher Reflex, den wir in seiner Geschichte fortlaufend wiedererkennen können, wenn auch hin und wieder in leicht veränderter Form. Dieser Staat hat in Bezug auf Probleme und Fragen außerhalb seiner eigenen Grenzen klare Lösungsansätze, die sich entweder in einer Vereinnahmung des gesellschaftlichen Gedächtnisses und der jeweiligen Kultur äußern oder in der Schaffung eines Gleichgewichts durch eine kontrollierte feindliche Position. Nach innen jedoch agiert dieser Staat beim Auftreten von Problemen deutlich aggressiver, brachial, vernichtend und gnadenlos.
Der seit 1699 militärisch erfolglose türkische Staat geriet um 1800 im Zuge der Hinterfragung seiner Herrschaft in den von ihm eroberten Gebieten in einen Abwärtsstrudel, da er statt einer Lösung die Lösungslosigkeit bevorzugte. Da wären zum Beispiel die Vorfälle von Kavala in Ägypten zu nennen (der Gouverneur von Ägypten Mehmet Ali Pascha stellte sich gegen die Zentralmacht und löste einen Aufstand aus) oder die Vorfälle auf dem Balkan in Serbien, Griechenland, Bulgarien, Mazedonien, Rumänien usw., die sich über Kreta bis in den arabischen Raum hin ausdehnten. Diese Problemgebiete konnten vom türkischen Staat nicht befriedet werden, da sein Verständnis von einer Lösung stets zu einem brutalen Bruch führte. Man hat auch versucht, die Armenierfrage durch einen Genozid zu lösen, und sieht sich heute, vor allem auf außenpolitischem Gebiet, diesem Problem gegenüber. Die Invasion auf Zypern, die sich gegen das Zusammenleben richtete und der das Problem der Herrschaftsteilung zugrunde liegt, bestimmt auch heute die Diplomatie. In der Kurdenfrage erlebt das kurdische Volk all die Grausamkeiten, die vor ihm bereits das armenische und das mazedonische Volk durchmachen mussten. Lassen wir die Probleme mit den Völkern einmal beiseite, dieser Staat hat es, trotz einer der größten Metropolen weltweit, immer noch nicht geschafft, eine Stadtplanung zu entwickeln …
Eben aufgrund dieser oben angeführten Aspekte, die im Hinblick auf die Lösungsabsichten dieses Staates berechtigte Fragen aufwerfen, ist weiterhin Vorsicht geboten …
Optimistisch sein
Aufgrund der Geschichte und vor allem der letzten traurigen 40 Jahre und der damit einhergehenden Erfahrungen besteht durchaus Anlass zu Optimismus bzgl. der Entwicklungen, da das kurdische Volk und seine politischen Strukturen intellektuelle Einheit und einen starken praktischen Reflex aufweisen.
Allerdings werde ich Schwierigkeiten anhand von drei Aspekten aufzeigen. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu hat keinerlei Alternative oder Ausgleich zu seiner feindseligen Politik gegenüber Iran, Syrien und Irak, obwohl diese Linie größere Schäden verursachen wird. Justizminister Sadullah Ergin hat anderthalb Jahre lang niemand zu Abdullah Öcalan gelassen. Wozu hat das geführt? Wir erinnern uns an unvorhersehbare Aktionen und einen rasanten Anstieg der Verluste von Menschenleben.
Wir müssen all das rational analysieren und uns fragen, ob dieser [Verhandlungs-/Friedens-]Prozess zum gewünschten Ziel führen wird. Gibt es dafür eine Garantie? Nein, es kann keine Garantie dafür geben, aber es gibt eine Garantie dafür, was passieren wird, wenn wir diesen Weg nicht weitergehen. Denn alles, was wir in den letzten 30 Jahren erleben mussten, wird sich dann auch im 31. Jahr wiederholen. Wir sollten uns ernsthaft fragen, ob es in diesem seit nun 30 Jahren andauernden Konflikt einen Sieger gibt.
Der stellvertretende AKP-Vorsitzende Mehmet Ali Sahin weist darauf hin: »Im Falle einer Fortsetzung des Konflikts sind die Einheit des türkischen Staates und die Zuneigung zu Gott gefährdet, so dass die Gefahr einer Spaltung des Staates steigt. Denn wir nehmen wahr, dass das Zugehörigkeitsgefühl unserer Bürger im Südosten abnimmt. Wenn ein Teil der Bevölkerung ein Zugehörigkeitsproblem dem Staat gegenüber hat, so ist es die dringlichste Aufgabe dieses Staates, dieses Problem zu lösen. Probleme dieser Art sind in ähnlichen Fällen durch Gespräche gelöst worden.«
Ich will hinzufügen, dass die »rote Linie« des türkischen Staates in Bezug auf Südkurdistan verwischt ist, da sie ursprünglich gegen einen Status für diese Region waren. Es blieb sogar nicht beim Protest gegen einen Status für Südkurdistan, sondern es wurden Kontraguerillas ausgebildet. Die USA haben diese Bestrebungen der Türkei unterbunden, als sie deren Soldaten mit Säcken über dem Kopf abführten [2003 in Südkurdistan]. Durch die neue irakische Verfassung hat die Regionalregierung von Südkurdistan ihre Legitimation erfahren, so dass auch die Türkei sie nach anfänglicher Ablehnung anerkannt hat. Und nicht nur das, sie ist dazu noch zur engsten wirtschaftlichen und politischen Partnerin der Autonomen Region Kurdistan aufgestiegen und empfängt deren Regierungschef Barzani mit allen staatlichen Ehren. Die roten Linien haben sich im Becken des realpolitischen Pragmatismus aufgelöst.
Auch die westkurdische Überraschung wird trotz anderslautender Aufregung dasselbe Schicksal erfahren. Im Zuge des syrischen Krieges hat die stärkste Gruppe der Kurden begonnen, die Herrschaft über die kurdischen Gebiete zu übernehmen, so dass wie am Beispiel Südkurdistans ähnliche Widerstände und Einsprüche zu vernehmen waren. Die militärischen Erfolge der Kurden und ihre Bemühungen um politische Einheit haben mittlerweile zu einer Auflockerung dieser Haltung geführt. Der türkische Ministerpräsident widersprach sich kürzlich selbst, indem er die westkurdische Partei der Demokratischen Einheit (PYD) nicht mehr unter dem Einfluss Assads stehend bezeichnete.
Wir sollten uns nicht wundern, wenn die Türkei in Kürze Westkurdistan genauso wie Südkurdistan anerkennt.
Der türkische Staat musste verlegen bekannt geben, dass mit Abdullah Öcalan, den man bis dato als »Kindesmörder« betitelt und dessen PKK als eine Handvoll Terroristen geschmäht hatte, Gespräche über eine Lösung der kurdischen Frage geführt werden. Die Kurden können in dieser Situation zufrieden sein, da sie es sind, die eine demokratisch-friedliche Lösung aufzwingen.
Die tödliche Schwelle ist genommen, es gilt jetzt, den Prozess möglichst ohne Fehltritte zu überstehen. Die Betreffenden erwartet eine anstrengende Phase …
(Quelle: http://tuncelfikret.blogspot.com)
Kurdistan Report Nr. 167 Mai/Juni 2013