Frieden und Lösung

Haluk gergerHaluk Gerger, Politikwissenschaftler, Yeni Özgür Politika, 05.04.2013

Um die aktuelle Situation besser bewerten zu können, ist es notwendig, den Frieden und die Lösung der kurdischen Frage voneinander zu trennen.

Der »Frieden« muss nicht immer die »Lösung« beinhalten. Es kann Situationen geben, in denen die Konfliktparteien, auch wenn sie das Problem nicht komplett lösen, die bewaffnete Auseinandersetzung ruhen lassen und es bevorzugen, den Kampf mit anderen Mitteln fortzusetzen. In solchen Situationen finden der Kampf und die Lösungssuche kein Ende; es ändern sich nur die Mittel und Wege.

Phasen des Kampfes, in denen keine »Lösung« enthalten ist, aber auch der Krieg nicht fortgesetzt werden kann, können wir als »negative« Friedensperioden bezeichnen. Frieden ist eine Atmosphäre, in der keine Gewalt existiert. Dies ist eine korrekte, jedoch vage Definition. Gewalt ist kein lediglich sicht- und fassbares Phänomen. Neben Formen von Gewalt wie Schlagen und Brechen gibt es auch unsichtbare und konstitutionelle Arten von Gewalt wie Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Auch jede Art von Praxis, die eine Ausschöpfung individuellen und gesellschaftlichen Potentials verhindert sowie individuelle und gesellschaftliche Rechte entreißt, liegt innerhalb der Definition von Gewalt. Folglich stellt eine Situation ohne physische Gewalt einen »unzureichenden« Frieden dar. Wahrer Frieden erfordert, dass jede Art von Gewalt, sowohl physische als auch unsichtbare Formen, ausgelöscht wird.

Es steht außer Frage, dass nicht von einem »positiven« Frieden und einer »Lösung« die Rede sein kann, solange die hegemoniale Mentalität, die die Kurden innerhalb des »Türkentums« verortet und infolgedessen zwangsläufig aufzulösen versucht, unverändert bleibt. Die »Lösung« der kurdischen Frage hängt in erster Linie mit der Mentalität zusammen, Krieg oder Frieden hingegen mit Macht und Machtbeziehungen. Solange sich die Mentalität der türkischen Seite nicht ändert und der Unvereinbarkeitskonflikt weiter besteht, wird keine »Lösung« erreicht.

Dagegen können das Machtverhältnis und die Kräftebalance die Konfliktparteien dazu drängen, den Krieg zu beenden. In diesem Sinne könnte ohne eine Lösung ein (»negativer«) Frieden realisiert werden. Diese Situation ließe sich auch als »kalter Frieden« bezeichnen. Und der »kalte Krieg«, also der unbewaffnete (totale) Kampf, wird mit diversen sozialen, politischen, ideologischen Methoden fortgesetzt … Selbstverständlich mit der Möglichkeit eines »heißen Krieges«.

In der gegenwärtigen Situation verfügen beide Seiten über Vor- und Nachteile.

Die Kurden stehen mit ihrer verbissenen Existenz aufrecht und besitzen eine hundertjährige Erfahrung. Der Aufschwung des Bewusstseins der Identität, das während des Krieges durch die realisierte Aufklärung mit großer Hingabe geschaffen wurde, hat sich in einen permanenten Gewinn verwandelt. Heute verfügt der kurdische Kampf vielleicht zum ersten Mal in seiner Geschichte über sein eigenes Hinterland. Die »kurdischen Gefüge« im Süden und Westen [die Autonome Region Kurdistan im Nordirak und die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Nordwestsyrien] schaffen neue strategische Möglichkeiten. Die Stützen eines auf der Basis der vorhandenen demokratischen Massenbewegung zu errichtenden Kampfes um Rechte und Freiheiten sind stabil. Ein Zusammenkommen der neuen demokratischen Legitimität und der Basis der historisch-moralischen Gerechtigkeit mit der politisch-strategischen Tiefe des bewaffneten Widerstandes wird die kollektive Welle weiter ansteigen lassen. Die unter großen Schwierigkeiten geschaffene organisatorisch-ideologische Infrastruktur bildet außerdem eine verstärkende Stütze.

Obwohl die gegnerische Seite in die Ecke getrieben ist, hat sie dennoch vor allem den Vorteil, über Mittel staatlicher Gewalt zu verfügen. Des Weiteren verfügt sie über Vorteile wie imperialistische Unterstützung, eine unter Kontrolle stehende Öffentlichkeit, ökonomische Ressourcen, weitreichende Propagandamittel, ideologische Manipulationswerkzeuge, historische Erfahrung und eine, wenn auch angeschlagene, ja teilweise sogar durchbrochene, soziokulturelle und politisch-strategische Dominanz.

Voraussichtlich wird sich die Republik Türkei widersetzen und eine auf Propaganda, Manipulation, partiellen Reformen und Mitteln der Gewalt basierende Methode des Kampfes entwickeln, während die Kurden, auf der großen kollektiv-demokratischen Welle reitend, einen Volkskampf fortsetzen. In der neuen Phase des Kampfes wird erneut nach der Antwort auf die Frage gesucht werden: »Sind Denker, Meinungsfreiheit und der Wille der Völker stärker oder Waffen, Tyrannen und Lügen, kurz gesagt Tyrannei und Gewalt?« So ist das Leben.

Was getan werden muss, das ist, entsprechend den neuen Gegebenheiten zu handeln.

Die Republik Türkei ist bereit, hegen Sie diesbezüglich keine Zweifel.

Auf die Kurden wartet viel Arbeit …

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