Die Lösung der kurdischen Frage und neue politische Machtzentren

turkei lupe1Betrachtungen zur Entwicklung der parteipolitischen Landschaft in der Türkei
Baki Gül, Journalist

Die Republik Türkei wurde – nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Osmanischen Reiches – mit der Einberufung des Parlaments am 23. April 1920 gegründet. Auch wenn sie aus unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und Religionen zusammengesetzt ist, ist sie der Nationalstaat der Türken. Auch wenn sie zu Beginn Anatolien, Thrakien und das obere Mesopotamien einschloss, hat sie sich auf türkischer, sunnitisch-islamischer Basis etabliert. Auch wenn sich die Republik mit ihrer Regierungsform der westlichen Modernisierung zuwandte, wurde mit der von Mustafa Kemal und seinen Freunden gegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP) eine nationalstaatliche politische Struktur etabliert.

Diese hat in Anatolien, Thrakien und im oberen Mesopotamien, welche die Grenzen der Türkei zeichnen, verschiedene ethnische Gruppen wie die Armenier, Griechen, Kurden, Assyrer, Lasen, Tscherkessen sowie unterschiedliche Glaubensgemeinschaften wie Aleviten, Christen, Eziden mit militärischer Repression unterdrückt, verleugnet oder von ihrem Land vertrieben. Die von der Türkei ausgeübte zentrale Politik jedoch ist die der Verleugnung und Assimilation.

Türkei sollte auf uninationaler Struktur aufgebaut werden

Dieses totalitäre Paradigma wurde zum politischen Programm und so wurde die Türkei von der Gründung bis 1946 von einer einzigen Partei regiert. Diese Partei war die Republikanische Volkspartei Mustafa Kemals und seiner Freunde. Die CHP, die auf nationalistischen Werten gründet, beeinflusste auch das politische Leben. Sie leugnete die Kurden, stellte sich den Armeniern nicht und wollte die von ihr zu „Feinden“ erklärten Griechen aus Anatolien und Thrakien vertreiben. Im politischen Bereich hatte sie die Islamisten, Kommunisten und Kurden als „Feinde“ ausgemacht. 1946 kam das Mehrparteiensystem und die liberalkonservativen Islamisten schafften sich mit der Demokratischen Partei (DP) unter der Leitung von Adnan Menderes neuen politischen Raum. Die Kommunisten waren sowieso sowohl für die Kemalisten als auch die Liberalen eine Gefahr.

CHP: eine die Militärputsche verteidigende und auf Status quo beharrende Struktur

Die Struktur der kemalistischen CHP weist militärische, laizistische, modernistische, elitäre und jakobinische politische Besonderheiten auf. Sie war die natürliche Trägerin des Staates. Als die DP diese Vorherrschaft der CHP unter Einbeziehung des politischen Islam erschütterte, hob die CHP ihren militärischen und laizistischen Charakter hervor und schuf so die Voraussetzungen für einen Militärputsch am 27.05.1960. Adnan Menderes, Vorsitzender der liberalkonservativen Demokratischen Partei, Außenminister Fatin Rüstü Zorlu und Finanzminister Hasan Polatkan wurden im September 1961 auf der Gefängnisinsel Imrali hingerichtet. (Diese Situation stellte einen historischen Wendepunkt dar, der als Quelle der politischen Widersprüche zwischen CHP und heutiger Regierungs-Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP, gewertet werden kann.)

Später setzte sich die Vorherrschaft der CHP im Staat in abgeschwächter Form fort. In der Phase des Mehrparteiensystems wurden die Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Ergebnisse der 68er auch auf die Türkei projiziert. Revolutionäre Jugendbewegungen bedrängten die politische Struktur der Türkei. Links-zentral stand die CHP, rechts die Gerechtigkeitspartei (AP). Doch auch die sich an den türkischen Nationalismus anlehnende Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und die neue Bewegung, die sich unter der Leitung Erbakans nach dem Motto „nationale Perspektive“ als Vertreterin des politischen Islam zunehmend ausbreitete, fassten immer stärker Fuß. Trotzdem die CHP als zentrale Linke ihre nationalistischen Charakterzüge bewahrte, entwickelte sich ihr gegenüber ein liberal-nationalistisch-religiöser Block. Die politischen Spannungen präsentierten sich der Gesellschaft als Kampf. Diese revolutionäre Atmosphäre ließ Kurdistan nicht unbeeinflusst; die Kurden brachen nach schweren Massakern und Repressionen ihr Schweigen und brachten ihre Stimme in den radikalen revolutionären Organisationen und sozialistischen Bewegungen zum Ausdruck. Doch die Herrschenden im türkischen Staat wollten diesen gefährlichen Aufbruch erneut mit einem Militärputsch beenden. Er fand am 12. März 1971 statt. Er stand jedoch stärker unter dem Einfluss der kemalistischen Liberalen als der kemalistischen CHP. Im Zuge dieses Putsches wurden die drei Revolutionäre Deniz Gezmis, Hüseyin Inan und Yusuf Aslan am 6. Mai 1972 hingerichtet. Verhaftungen und Repression nahmen zu. Genau zu diesem Zeitpunkt begannen Abdullah Öcalan und weitere kurdische junge Leute aus ärmlichen Verhältnissen in Ankara mit der Gründung einer neuen Gruppe. Zunächst als „Apoisten“ bezeichnet, versuchten sie eine auf der türkisch-kurdischen politischen Einheit basierende revolutionäre Bewegung zu organisieren. Doch die Putschbedingungen und der nationalistische Charakter der Linken, die sich vom Kemalismus nicht lösen konnte, verhinderten dies. Der junge Öcalan und seine Freunde gingen nach Kurdistan, wo sie ihre Organisierungsarbeit fortsetzten. Die Kurden entwickelten zunehmend ein nationales und gesellschaftliches Bewusstsein und machten Fortschritte auf dem Weg zu einer radikalen Kampfdynamik. Die türkische Regierungsmacht beobachtete das und am 12. September 1980 kam es erneut zu einem Militärputsch, der zu starker Repression sowohl gegen die Linke als auch die Rechte führte. Dieser Putsch zielte zwar auf die Rettung des Staates ab, der die kemalistischen Werte verteidigte, doch saßen der Liberale Süleyman Demirel, der Islamist Necmettin Erbakan, der nationalistische Sozialdemokrat Bülent Ecevit und der Verteidiger des türkischen Faschismus Alparslan Türkes im Gefängnis. Die Revolutionäre der Türkei und die Kurden waren primäres Ziel des Putsches.

Kurden kämpften gegen unizentrierte kemalistische Republik

Den größten Bruch erlebte der klassische, nationalistische und unizentrierte Staat in diesen Jahren. Gegen die Vorgehensweise der Putschisten entstand unter Führung der PKK Widerstand. Am 15. August 1984 begann die kurdische Guerilla-Bewegung. Sie war radikal und bekam Unterstützung aus der Gesellschaft. Auch wenn die Militärregierung diese Bewegung zunächst bagatellisierte, musste sie später die Realität erkennen. Der Liberaldemokrat Turgut Özal erlangte nach dem Putsch mit seiner Mutterlandspartei (ANAP) die Mehrheit, wurde Regierungskraft und schließlich Staatspräsident. Er wollte der zivilen Politik über eine Liberalisierung Raum schaffen. Er ergriff die Initiative zu einem Frieden mit den Kurden, kam jedoch nach der Ausrufung eines Waffenstillstandes durch die PKK am 17.04.1993 unter fragwürdigen Umständen ums Leben. Sowohl in der Familie als auch in politischen Kreisen wird sein Tod überwiegend als Mordanschlag durch Vergiftung beurteilt.

Es ist interessant, dass dieser Tod als Haltung der Ergenekon-Strukturen innerhalb des türkischen Staates pro Krieg und Konfrontation gewertet wird. Auch die Kurden denken hier ähnlich. In der anschließenden von Süleyman Demirel geprägten Phase erreichte der Krieg zwischen PKK und Staat seine größten Dimensionen. In dieser von der Kooperation sowie den Auseinandersetzungen zwischen den liberalkonservativen Strukturen und den laizistisch-kemalistischen Sozialdemokraten geprägten Zeit konnten sich die politischen Islamisten unter Erbakan zunehmend eine breite Basis aufbauen. Schlussendlich bildete Erbakans Wohlfahrtspartei (RP) mit der Partei des Rechten Weges (DYP) die Regierungskoalition.

Als Ergebnis dieser Periode gestaltete sich die türkische politische Landschaft derart, dass die Kurden mit ihrem bewaffneten Kampf ihre Existenz gegen die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik der Republik Türkei behaupteten, liberale und religiöse Bewegungen auf nationalistischer Basis in der AKP zusammenkamen und radikale rassistische türkische Strukturen sich in der MHP und der CHP organisierten. Demgegenüber wahrten radikale sozialistische Bewegungen ihre Existenz als kleine Gruppen.

Auch wenn diese politische Konstellation die heutige Türkei charakterisiert, bildet sich unter Führung der PKK ein radikaldemokratischer Raum auch auf Seiten der Türkei. Während der Aufruf des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vom 21. März 2013 zum Beginn einer neuen politischen Phase die Notwendigkeit einer Neudefinition der politischen Strukturen bewirkte, schuf er auch neue Kräfteverhältnisse in der politischen Landschaft.

Die Lösung der kurdischen Frage und die politischen Parteien in der Türkei

Es macht Sinn, die Herangehensweise der politischen Machtzentren in der Türkei an die Lösungspolitik unter den o. g. Aspekten der politischen Vergangenheit zu bewerten. Seit der Staatsgründung hat die politische Struktur in der Türkei auf zwei zentralen Strömungen – kemalistisch-nationalistisch-liberal und nationalistisch-religiös – aufgebaut. Auch wenn Sozialisten und Revolutionäre phasenweise Volksmassen gewinnen konnten, waren sie in der politischen Arena eher schwach. Die Kurden begannen sich nach den 80ern in der politischen Arena zu bewegen, die Aleviten versuchten sich nach den 90ern außerhalb staatlicher Strukturen eigenständig politisch zu vertreten. Doch nun gibt es neben dem Block der liberal-konservativ-religiösen AKP, der kemalistischen CHP und der nationalistischen MHP politische Bewegungen revolutionärer Sozialisten und Aleviten, die unter kurdischem Dach erneut zusammenkommen.

AKP vertritt rechten, religiösen Konservativismus

Der liberale, konservative, religiöse AKP-Block hat keine homogene Struktur. Seine Regierungsmacht baut auf politischem und wirtschaftlichem Profit auf. Eine liberale islamische Gruppe um Ministerpräsident Erdogan überwiegt. Allerdings macht auch die Gülen-Bewegung einen großen Teil dieser Regierungsgruppe aus. Zudem beherbergt die AKP nationalistisch-liberale Kreise, auch Namen wie Ertugrul Günay von nationalistischen sozialdemokratischen Parteien tauchen auf. Obschon diese politische Struktur für eine Lösung der kurdischen Frage einen unizentrierten, türkischen Charakter aufweist, ist sie dafür, die Lösung im Rahmen der Individualrechte in Betracht zu ziehen. Doch hat sie sich aufgrund des bewaffneten Kampfes der Kurden auch gegenüber anderen Lösungswegen geöffnet. Die Gülen-Kreise in diesem Block sind jedoch gegen einen gleichberechtigten Status für die Kurden. Sie verteidigen die Fortsetzung von Assimilation und Verleugnung auf moderne Art. Doch zurzeit beherrscht die Linie Tayyip Erdogans die AKP.

Kemalistisch-nationalistische Politik von CHP und MHP in Auflösung

Die kemalistische CHP und die nationalistische Linke: Dieser politische Block sieht sich als eigentlicher Staatseigner. Sozialisten, Sozialdemokraten und Aleviten wollen aus Sorge vor dem Islam als laizistisch-kemalistischer Block Politik betreiben. Mit ihrer Putsch-affinen, jakobinischen, elitären modernen Struktur haben sie einen sich zunehmend in Richtung türkischer Nationalismus bewegenden Charakter. Während Sozialisten und Aleviten das realisieren und sich davon trennen, wollen sie ihre auf Ergenekon, Putsch und rassistische Politik ausgerichtete politische Existenz wahren. Sie sind der Demokratie gegenüber nicht offen, sondern verschlossen. Sie wollen den kemalistischen Staat im Status quo behalten. Sie sind kemalistisch im Hinblick auf eine Lösung der kurdischen Frage, lehnen eine gleichberechtigte Entwicklung mit der Türkei ab.

Die Partei der Nationalistischen Bewegung und ihr quasi-linker Partner Arbeiterpartei (IP) halten sich mit einer nationalfaschistischen Struktur. Für sie existiert naturgemäß keine politische Lösung der kurdischen Frage, sie verteidigen die Interessen des Staates mit Militär und Repressivpolitik.

PKK avancierte in der Türkei zur drittgrößten politischen Kraft

Demgegenüber haben die kurdischen politischen Bewegungen unter Führung der PKK mit dynamischen und radikaldemokratischen Forderungen ihren Platz in der politischen Arena gefunden. Aleviten, Sozialisten, Frauen, Jugend und Umweltschützer repräsentieren sich über eine Zusammenarbeit in dem von der kurdischen Bewegung geschaffenen Raum. Durch diese Kooperation ist eine wichtige Verbindung zwischen der Lösung der kurdischen Frage und der Demokratisierung der Türkei entstanden. Der Demokratische Kongress der Völker (HDK), das Organisierungsgremium hunderter Gruppen und politischer Akteure, ist auf dem Wege, ein neues politisches Zentrum zu werden. Er präsentiert sich im Zuge der dürftigen Demokratisierungsschritte in Kooperation mit der kurdischen Bewegung als dritte Alternative gegen den rechten liberal-nationalistisch-sunnitisch-islamischen Block der AKP und die kemalistische Linie von MHP und CHP. Er hat mit der Einberufung der vom PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vorgeschlagenen und von wichtigen Namen des gesellschaftspolitischen Lebens wie Murathan Mungan, Yasar Kemal, Prof. Gençay Gürsoy, Rakel Dink, Prof. Sebnem Korur Fincanci unterstützten Konferenz von Ankara am 25./26. Mai 2013 einen wichtigen Schritt getan.

Das sich aus dieser von 420 politischen Organisationen, Intellektuellen, Menschenrechtsaktivisten, Frauen- und Jugendbewegungen sowie Gewerkschaften unterstützten Konferenz ergebende Potential hat sich auch anlässlich des am 1. Juni 2013 begonnenen Widerstands im Zusammenhang mit dem Gezi-Park in Istanbul gezeigt. Auch wenn diese Massenbewegung der AKP als radikale Opposition erscheint, zeigt sie sich mit ihrem Profil als Alternative des Volkes. Durch die Kooperation mit der kurdischen Bewegung wird sie sich als dritte Alternative immer stärker etablieren.

Quelle: Kurdistan Report Nr. 168 Juli/August 2013

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