„Die PKK ist viel mehr, sie ist überall“

Ein Gespräch mit zwei Aktivisten aus Gever (Yüksekova), Newroz-Delegation 2017, 23.04.2017

Eine Newroz-Delegation von Civaka Azad hat am 22.März 2017 zwei Aktivisten in der kurdischen Stadt Gever (türkisch Yüksekova) getroffen. Wir sprachen mit ihnen über die Auswirkungen der letztjährigen Ausgangssperren, über die anhaltende Repression des türkischen Staates und über die Rolle der PKK in den kurdischen Regionen.

Delegation: Hallo Ali*, hallo Güven*. Wir sind froh, euch hier in Gever zu treffen. Im letzten Jahr war die Stadt über zwei Monate hinweg massivster militärischer Angriffe ausgesetzt, die Menschen konnten ihre Häuser nicht verlassen. Wir wissen, dass hier aktuell immer noch nächtliche Ausgangssperren gelten. Auch gestern, an Newroz, gab es Schwierigkeiten. Könnt ihr uns erzählen, wie der Tag gestern verlief?

Ali: Wir haben uns an dem Platz versammelt, an dem Newroz gefeiert werden sollte. Vielleicht muss man etwas vorab wissen: Hier in Gever, in der Region, haben fast 99% der Menschen Sympathien für Öcalan, für die PKK. Daher begannen kurz nach Beginn des Festes einige Leute Slogans zu singen und zu rufen, zum Beispiel “Biji Serok Apo”. Die Polizei wollte diese Leute festnehmen, aber die anderen Menschen haben das verhindert. Dann kam die Polizei mit Pfefferballs und Tränengas. Sie haben Personen angegriffen und auch ungefähr zehn Leute verhaftet. Einer davon kommt aus meinem Dorf. Er ist jetzt in Haft.

Normalerweise feiern wir Newroz mitten in der Stadt, im Zentrum. Aber dieses Mal gaben sie uns nur die Erlaubnis, Newroz an einem abgelegenen Platz weit außerhalb zu feiern. Darum waren nicht so viele Menschen da, viele konnten gar nicht zu diesem Platz gelangen. Und zudem haben die Leute nach den Ausgangssperren auch Angst, verhaftet zu werden.

Delegation: Und wie ist die Situation mit der Zwangsverwaltung?

Ali: Vor der Zwangsverwaltung hat man die Polizei kaum gesehen; aber nun sind sie auf jeder Straße, an jeder Ecke stehen sie. Der aktuelle Zwangsverwalter ist auch der Gouverneur der Region. Die Leute wenden sich nicht an ihn, aber sie haben die Probleme auch nicht mit ihm, als Person. Die Leute hier, in Kurdistan, haben Probleme mit der Regierung, mit dem System.

Güven: Es ist nur eine Person. Es könnte auch jemand anderes sein, aber das System wäre dasselbe. Es ist eine Art Strategie, hat System: Sie nutzen jede Form der Machtausübung für sich. Wir müssen dieses System zerstören.

Delegation: Könnt ihr uns nochmal ein bisschen davon erzählen, wie die Situation kurz vor und während der Ausgangssperren war?

Ali: Vor den Ausgangssperren gab es eine ganze Zeit lang Ruhe. Es war, als warteten sie systematisch auf etwas. Sie haben Vorbereitungen dafür getroffen, die ganze Stadt zu zerstören. Mein Haus ist beispielsweise in der Nähe des Stadtzentrums. es gab hier keine PKK-Kämpfer, aber dennoch wurde auch mein Haus zerstört. Mit großem Hass und enormer Zerstörungswut. Sie fragen nur: Bist du kurdisch – und reich? Dann zerstören wir dein Haus gleich mit. Es wurden so viele Häuser in unterschiedlichen Plätzen zerstört. Insgesamt fast 16000 im Gebiet von Gever (Anm. lässt sich leider nicht richtig verifizieren, die offiziellen Zahlen liegen darunter). Viele viele Menschen haben die Stadt verlassen. Sie sind nicht hier geblieben.

Güven: Weil sie auch nicht mehr bleiben konnten!

Ali: Ja, sie konnten hier nicht mehr bleiben, auch deshalb, weil ihre Kinder weggingen. Die Leute sahen im Fernsehen und in den Medien, was in Çizre, in Suruç oder Nusaybin passierte. Sie bekamen große Angst.

Güven: Es ist auch verständlich, dass man dann die Stadt verlässt, wenn man Angst hat. Das ist menschlich. Sie bleiben nicht, auch wenn sie politisch denken, es sei richtig, weil sie um das Leben ihrer Kinder besorgt sind. Niemand möchte, dass seine_ihre Kinder von der Polizei oder dem türkischen Militär inhaftiert oder getötet werden.

Delegation: Haben denn alle Menschen, deren Häuser zerstört wurden, die Stadt verlassen? Ich habe gehört, dass es Zelte gab für diejenigen, die bleiben wollten.

Ali: Ich gehe davon aus, dass die Hälfte der Leute hier blieben. Die andere Hälfte ist in andere Städte gezogen. Während der Ausgangssperren wurden auch viele Menschen getötet. Die genaue Anzahl der Menschen, die inhaftiert oder getötet wurden, ist aber nicht bekannt.

Delegation: In welchem Zeitraum wurden die Ausgangssperren genau ausgerufen?

Ali: Sie waren zwischen dem 13. März und dem 31. Mai 2016.

Delegation: Im Sommer 2015 rief die kurdische Bevölkerung ja ihre politische Selbstverwaltung aus. War das auch in Gever der Fall?

Ali: Ja, natürlich auch hier. Die Menschen hier wollten nicht mehr durch den türkischen Staat regiert werden, darum setzen sie die Selbstverwaltung um.

Delegation: Kannst du uns erklären, wie genau das von statten ging?

Ali: Die HDP-Verwaltung bedeutet für die Leute hier vor allem den Rückbezug auf die eigene Tradition. Zum Beispiel wissen die Leute hier genau, wie sie in kleinen Gruppen miteinander leben können, wie sie sich selbst verwalten und gegenseitig unterstützen können. Das ist das soziale Leben der Kurdinnen und Kurden.

Delegation: Zuvor gab es ja auch schon einen BDP-Bürgermeister. Aber nun erhielt die Verwaltung Geld von der Regierung für die Verwaltung des Bezirks, richtig? Wie läuft das dann konkret ab?

Ali: Ja, der Staat hörte nicht auf, Geld zu schicken. Denn wenn sie aufgehört hätten, wäre das ein Eingeständnis: Okay, ihr seid ein anderes Land.

Delegation: Vor und während der Selbstverwaltung gab es ja viele Projekte die angegangen wurden, wie z.B. die Frauenzentren von KJA (Anm. Kongress der Freien Frauen), Kurdische Schulen, Kulturelle Angebote etc.

Güven: Ja klar, wir hatten einige, auch bereits davor. Aber jetzt gibt es nichts mehr, alles wurde geschlossen. Wir hatten kurdische Vertretungen für fast alle Angelegenheiten. Aber sie haben alles geschlossen.

Delegation: Und wie ist es konkret abgelaufen? Wie reagierte der Staat, die Polizei und das Militär auf die Selbstverwaltung? Am Ende gab es die Ausgangssperre und die Repression, aber wie hat sich die Situation zugespitzt?

Güven: Okay, wir hatten das Budget und die Stadtverwaltung. Die Regeln waren so wie wir sie wollten: Das Gericht ist kurdisch, die Wirtschaft ist kurdisch – wie das kommunale (gemeinschaftliche) System in den Dörfern. Wir hatten das System eigentlich bereits so, aber dann kam der Staat und zerstörte alles.

Ali: Wir sind ein Volk eine kurdisches Volk. Man macht etwas, aber man fühlt sich nicht wirklich wohl unter der Regierung und mit der Situation. Zum Beispiel ist eine kurdische Schule nicht genug für ein Volk. Das Kurdische ist ja nichts Neues, es handelt sich um ein uraltes Volk. Natürlich war das nicht genug! Wir brauchten die Selbstverwaltung und die öffentliche Erklärung derselben – aber keiner, nicht einmal die PKK, erwartete, dass die Regierung und das Militär so viele Städte zerstören würden. Sie haben natürlich eine Reaktion erwartet, aber nicht in diesem Ausmaß, mit tausenden Soldaten und einer solchen Zerstörung.

Delegation: Fällt mit der Erklärung der Selbstverwaltung auch der Beginn des Aufbaus von Selbstverteidigungsstrukturen zusammen?

Güven: Nein, das fand schon davor statt. Die YPS (Anm. YPS ist die zivile Selbstverteidigungseinheit der Jugend in den Städten) zum Beispiel wurden als Selbstverteidigungskräfte ausgebildet.

Ali: Wisst ihr, was die Polizei gemacht hat? Sie warteten sechs, sieben Monate, bis die YPS wirklich Strukturen aufgebaut hatte. Sie haben die Schützengräben und die Tunnel ausgehoben und vieles mehr. Die Menschen in Gever haben der YPS natürlich dabei geholfen.

Delegation: Waren die YPS von der PKK organisiert?

Güven: Nein, von den Menschen hier.

Ali: Wisst ihr von der Bedeutung der PKK hier? Wir wissen, dass sie in den europäischen Ländern als terroristische Organisation gilt. Aber für die Kurdinnen und Kurden hier, in Kurdistan haben wir ein Ausdruck: die Menschen sind PKK und die PKK ist hier, in den Städten. die PKK ist viel mehr, sie ist überall. Wir machen keinen Unterschied, keiner macht das hier. Als Beispiel: Ich habe nicht die Macht, eine Waffe zu tragen, vielleicht ist es auch nicht meine Aufgabe, aber ich würde sie tragen, wenn ich müsste. ich stehe der PKK nahe. Ich habe Sympathien für sie, wie alle Leute hier. Wenn dir hier jemand erzählt, dass er oder sie der PKK nicht nahe steht, dann hat diese Person meistens Angst. Die kurdischen Menschen wollen nicht unter der türkischen Regierung regiert werden.

Delegation: In der Zeit, als die YPS sich für die Selbstverteidigung gerüstet hat, was passierte da mit der Polizei und dem Militär? Blieben diese in der Stadt oder haben sie sich zurückgezogen?

Ali: Die Polizei blieb während dieser Zeit nur in einem Areal, in ihrem Militär-Campus. Sie sind nirgends sonst hingekommen. Sie taten zu dieser Zeit nichts. Als die Ausgangssperren begannen – ihr wisst auch, was da zeitgleich in Çizre, in Nusaybin und Sur geschah – haben sie begonnen, die Stadt zu zerstören. Und wenn man sich außerhalb der Stadt, in der Umgebung umsieht, da gibt es ebenfalls viele Orte, wo keine Häuser mehr stehen. Sie haben auch dort alles zerstört. In der Türkei sagen die Politiker oft, wir seien alle Brüder im Land. Ja, wir verstehen das so: Wir sind alle Brüder. Aber wie ist das möglich, dass mein Bruder zu meinem Haus kommt und dieses zerstört?

Güven: Weil es unser “Großer Bruder” (Big Brother) ist, der das so entschieden hat.

Ali: Man kann ja sogar vielleicht noch nachvollziehen, weshalb die Regierung die Orte angegriffen hat, an denen Barrikaden standen. Aber es ist nicht zu verstehen, warum sie all die anderen Orte angegriffen und zerstört haben, an denen sich die YPS überhaupt nicht befand und es auch sonst keine Probleme gab. Davon gibt es sehr viele hier in Gever. Sie sind zum Beispiel gezielt in die Häuser gegangen, sie haben in den Fernseher geschossen, sie haben Bilder aus den Rahmen geschnitten, sie haben viele schlimme Dinge dort gemacht.

Delegation: Meinst du damit, dass sie auch faschistische Parolen an die Wände geschmiert haben?

Ali: Das ist eine ziemlich normale Sache. Wenn man es mit den anderen Dingen vergleicht, ist es nichts.

Delegation: Wie haben sie es geschafft, die Häuser zu zerstören?

Güven: Sie haben damit angefangen und 15 Tage lang nicht aufgehört. Sie haben einfach bombardiert. Die Polizisten und Soldaten sind zu dem Zeitpunkt nicht in die Stadt gekommen. Sie haben einfach nur darauf geschossen, es war egal, ob jemand zu Hause war. Sie haben sich vielleicht zwei Kilometer entfernt aufgestellt und die Stadt mit schwerer Artillerie beschossen. 15 Tage lang. Sie sind nicht in die Stadt selbst gekommen. Sie haben auch einige chemische Bomben genutzt, aber darüber weiß man nichts Genaueres: Die Häuser sind nämlich mit einer speziellen Technik in Brand gesetzt worden. Das waren keine normalen Brände.

Delegation: Meinst du Phosphor?

Güven: Ja, etwas wie Phosphor, aber weniger hart. Sodass Leute nicht sehen, dass es mit Chemikalien gemacht wurde, das könnte sonst Probleme geben. So haben sie alles gesäubert.

Delegation: Gibt es hier auch etwas wie Özel-tim (Spezialeinheiten) und Scharfschützen?

Güven: Wir haben hier alle möglichen Arten von Militär. Auch so etwas wie SWAT mit jeder Menge Waffen und Spezialtechnik.

Außerhalb der Stadt ist eine große Militärbasis. Dort sind momentan rund 80.000 Soldaten stationiert. Das sind so viele wie die Bevölkerung hier

Güven: Natürlich gibt es auch Scharfschützen! Sie haben uns von den Dächern oder von hinter den Panzern aus attackiert.

Ali: Sie haben ein spezielles Computersystem in ihren Panzern. Aus hunderten Metern Entfernung zielen sie auf dich und treffen. Hätten die Kurdinnen und Kurden eine solche Technologie wie die Armee, dann würde das türkische Militär niemals die kurdische Bevölkerung besiegen. Niemals! Es ist auch ihrer Tradition, zu foltern. Ihr werdet keine kurdischen Menschen, etwa von YPG, sehen, die Folter anwenden. Selbst bei Kämpfern des Daesh nicht. Sie begegnen ihnen Angesicht zu Angesicht, die Gegner werden vielleicht in den Auseinandersetzungen getötet. Aber wenn sie Daesh-Kämpfer oder andere Soldaten gefangen nehmen, foltern sie nie. Das ist ein Grund, weshalb die Menschen sehr tiefe Sympathie für die YPG haben. Sogar Menschen aus anderen Ländern kommen nach Rojava und kämpfen für die YPG. Frauen und Männer zusammen. Im Übrigen ist das auch ein anderes Problem, mit dem wir jetzt hier konfrontiert sind: Wie ihr wisst, ist die Rolle der Frauen in der Gesellschaft in der kurdischen Kultur und Geschichte sehr wichtig. Wir respektieren einander, wir sind dasselbe. Nach der Islamisierung hatte sich das geändert, aber heutzutage sind wir mit den Lehren von Abdullah Öcalan dabei, zu unseren Wurzeln zurück zu kehren: Das Frauen denselben Wert haben wie wir Männer. Wir respektieren sie, sie sind gleichgestellt in der Gesellschaft und haben dieselben Rechte wie die Männer. Wir sind zusammen, gleichauf.

Delegation: Ihr habt über die Zerstörung in den Städten gesprochen. Ist das über die gesamte Stadt verteilt oder gibt es besonders zerstörte Bereiche?

Güven: Es gibt auch Konzentrationen, vor allem in drei großen Stadtteilen. In diesen haben sie alles zerstört. Aber in vielen anderen haben sie auch Zerstörung angerichtet, obwohl es dort keine YPS gab. Sie haben trotzdem die Häuser bombardiert.

Delegation: Wie heißen die Stadtteile, in denen die Zerstörung sehr groß ist?

Güven: Das sind Cumhuriyet, Güngür und Orman. Sie liegen direkt nebeneinander.

Delegation: Können wir sie uns später anschauen?

Güven: Ja, natürlich. Vielleicht alle außer Orman, dort liegt eine große Polizeistation.

Delegation: Wir haben uns in Wan mit dem IHD (Menschenrechtsverein) Wan getroffen. Sie haben uns erzählt, das sich in der letzten Zeit etwas geändert hat: Die türkische Armee nimmt zwischenzeitlich keine Menschen mehr gefangen. Sie tötet sie einfach nur. Ihr habt erzählt, dass sie aber auch Leute festnehmen und foltern. Was hattet ihr für einen Eindruck in diesen Tagen? Kam das Militär in die Stadt und hat Leute verhaftet, bei denen sie eine Mitgliedschaft bei der YPS vermuteten, oder haben sie jeden, den sie sahen, einfach getötet?

Ali: Während der Zeit des Ausnahmezustands haben sie einfach Leute getötet. Sie haben niemanden verhaftet. Es wurden auch so viele Zivilisten in dieser Zeit ermordet.

Güven: Oder man musste wirklich nackt sein, um zu beweisen, dass man nicht gefährlich ist. Dann wurde man von der Polizei verhaftet. Wenn einer deiner Verwandten in einer PKK-Gruppe ist, gehst du ins Gefängnis. das war wirklich grauenhaft, wir mussten wirklich alle Kleidung ausziehen. Wie in Çizre, auf den Videos, sie zeigen, wie faschistisch das wirklich alles war ((Hier ein Video aus Cizre, das zeigt, wie sich selbst Kinder vor den Militärkameras entkleiden müssen: https://www.youtube.com/watch?v=19m-oEB_09U)).

Ali: In der Zeit der Ausgangssperren haben sie aber gleich geschossen. Sie wollten kein Risiko eingehen. Die Verhaftungen folgten dann nach den Ausgangssperren.

Delegation: Machte nun der OHAL, nach dem missglückten Putschversuch, einen Unterschied für die Situation in der Stadt? Hat sich nochmals etwas geändert?

Ali: Ja, natürlich. Vor dem Ausnahmezustand konnte die Polizei dich ja nicht länger als 24 Stunden in Arrest nehmen, beziehungsweise konnten sie eine Person auch nicht ohne Grund festnehmen. Nach dem Putsch und unter OHAL können sie dich nun ohne Zeitlimit inhaftieren. An den Checkpoints führt das zu vielen Problemen. Hunderte von Autos warten dort zeitweise.

Delegation: Ist es möglich für die Familien, wieder an die zerstörten Orte zurück zu kehren? Können sie dort neue Häuser aufbauen?

Güven: Nein, es ist verboten, dort wieder neue Häuser aufzubauen. Sie können zudem auch nicht in die alten Häuser zurückkehren, wegen dem Eisen und den anderen Dingen. Es ist ebenfalls verboten. Sie haben anstatt dessen begonnen, TOKI Gebäude (Anm. TOKI ist die türkische Städtebaugesellschaft, neue Wohnkomplexe werden danach benannt) in der Umgebung zu bauen – weit weg.

Ali: Es ist nicht so weit weg. Zwei oder drei Kilometer, man kommt daran vorbei, wenn man in Richtung Gever fährt. Sie werden auf den Hügeln gebaut, nicht in der Ebene.

Delegation: Diese neuen TOKI Häuser… Sind sie mit einem speziellen Sicherheitskonzept gebaut, damit die Armee dort besser einmarschieren kann?

Güven: Ja, es ist zudem nahe des Armee-Areals, auch die Polizei ist nicht weit entfernt.

Delegation: Akzeptieren die Menschen diese neuen Wohnungen und ziehen dort ein?

Ali: Der Bau der TOKIs hat erst angefangen. Einige Menschen werden sicherlich dorthin gehen, weil sie keinen anderen Ort zum Leben haben. Menschen mit Geld sehen zu, dass sie eigene Häuser mit ihrem eigenen Geld bauen.

Delegation: Können sie diese auf demselben Grund aufbauen, wo sie vormals gewohnt haben?

Ali: In manchen Stadtteilen ist das nicht möglich, in anderen wiederum geht es.

Delegation: Und was wird mit Güngör, Cumhuriyet und Orman geschehen?

Güven: Sie sagen, man kann dort nicht mehr bauen, weil es Erdbeben gibt. Welche Art von Erdbeben? Das Erdbeben hier wird aus der Luft kommen.

Delegation: Die Stadtteile bleiben also unbebaut?

Güven: Nein, sie wollen dort eine Polizeistation errichten, um die Stadt besser zu kontrollieren und abzuschotten. Die Stadtteile liegen nämlich auf dem Weg der PKK, um in die Stadt zu kommen. Sie wollen diesen Weg blockieren.

Ali: Sie haben so viele Zivilisten ermordet, so viele Kinder. So wurde zum Beispiel während den Ausgangssperren eine Frau auf der Straße getötet. Sie lag dort, zehn Meter entfernt von ihrem Haus und ihre Verwandten konnten ihren Körper nicht erreichen. Solche Ereignisse sind eine große Tragödie für die türkische Bevölkerung. wie gesagt, sie haben hier eine sehr große Sympathie für die PKK. Die Menschen hier wollen Frieden zwischen den Kurden und den Türken, aber sie wollen das nicht. So sehen wir das. Somit gibt es eine große Hoffnung auf Rache aufgrund der ermordeten Zivilisten. Die türkische Armee besteht aus Söldnern. Somit haben sie eine Wahl, unter diesem System zu arbeiten – und auch eine Wahl, dabei das Leben zu verlieren. Sie haben sich entschieden, für Geld Zivilisten zu töten und auch alles andere zu tun, was die Regierung von ihnen verlangt. Sie haben es damit vielleicht auch verdient zu sterben.

Delegation: Glaubt ihr, dass die Situation nach dem Referendum noch schlimmer wird?

Ali: Das macht keinen Unterschied für die kurdischen Menschen. Die Regierung ist die Regierung, aber natürlich wollen wir Erdoğan nicht. Er ist wie Hitler. Manchmal, wenn ich Videos von Hitler sehe, dann sehe ich wirklich Erdoğan. Ich schwöre, es ist dasselbe. Er ist ein richtiger Diktator. Aber, auch wenn es für die Kurdinnen und Kurden keinen Unterschied macht: Ich habe Sorge um die türkischen Menschen. Wir sind Freunde, manchmal sind wir Nachbarn. Ich mache mir wirklich Sorgen um die Bevölkerung, um die Nation. Sie sehen nicht, was nach einigen Jahren kommen wird. Das ist das große Problem in der Türkei: Die Menschen, die Erdoğan wählen, sind ungebildet. Sie wissen nicht, warum sie für ein „Ja“ beim Referendum stimmen. Sie wissen nur, was Erdoğan ihnen sagt: „Ja“. Dann wählen sie „Ja“. Ich habe ungebildete Menschen gesagt, aber ich meine damit nicht, dass sie keine Bildung in ihrem Leben hatten. Sie hatten Bildung, aber sie haben davon wenig mitgenommen, sie informieren sich nicht. Sie wissen nicht, warum sie “Ja” wählen. Im Gegensatz dazu wissen 99% der Menschen, die mit “Nein” stimmen, ganz genau warum sie das tun.

Delegation:  Was ist die Vision, bzw. der Plan der HDP? und was ist eure Hoffnung? Was würdet ihr gerne erreichen?

Ali: Obwohl es die Verhaftungen der ganzen Politikerinnen und Politiker gab, möchte die HDP weiter Frieden mit der Regierung. Sie wollen vor allem anderen Frieden. Auch die kurdischen Menschen wollen den Frieden. Wenn die Regierung einen erneuten Friedensprozess zwischen Kurden und der Regierung angehen würde, wäre die Bevölkerung hier sehr glücklich. Aber wir sehen: Sie ermorden, sie inhaftieren, sie nehmen uns fest, sie zerstören unsere Städte. Wir sehen, dass sie all dies tun! Natürlich wollen die Leute deshalb, dass die PKK Vergeltung dafür übt.

Güven: Wir wollen den Frieden, aber die AKP-Regierung muss diesen auch wollen, sonst kann das nicht funktionieren.

Delegation: Was ist der Plan, wenn sie weiter keinen Frieden wollen?

Güven: Der Krieg wird weitergehen. Er läuft bereits seit 40 Jahren, und seitdem gibt es auch die PKK. Die Regierung hat in diesem Winter gesagt: “Bis zum Frühling werden wir die PKK vernichten”. Aber es ist unmöglich, die PKK zu vernichten!

Ali: Als der Friedensprozess in der Türkei begann, wollte die ganze Bevölkerung hier, dass die PKK den Krieg nicht weiterführt, auch die PKK selbst. Sie haben sich zurückgezogen, sind in andere Gebiete gegangen. Aber wir verstehen seither eines: Wäre die PKK nicht seit 40 Jahren hier, könnte niemals ein Volk, das sich kurdisch nennt, entstehen.

Delegation: Die Regierung kann also die PKK nicht zerstören, aber gleichzeitig kann die PKK auch nicht den Krieg gewinnen…

Güven: Ja, das weiß jeder hier. Deshalb hat die PKK angeboten, ein Friedensabkommen zu machen. Aber wenn keiner das akzeptiert, was kann man dann machen? Es ist wirklich komplex und mir fällt es etwas schwer, das auf einer anderen Sprache zu sagen, aber: Der Kampf der PKK ist ein Kampf für Demokratie in der Türkei. Alles sollte Schritt für Schritt gehen. Wenn es Demokratie gibt, dann ist der nächste Schritt, eine Selbstadministration für den kurdischen Teil anzustreben. Aber im Krieg funktioniert das nicht mehr. Und der Krieg hält immer noch an und wird immer schlimmer. Wir werden sehen, in ein oder zwei Monaten wird es wieder Ausgangssperren geben, vielleicht wieder über den ganzen Tag – keiner kann es absehen. Was ist der nächste Schritt der Regierung? Sie haben vor so vielen Dingen Angst.

Ali: Die PKK kämpft nicht nur für die kurdischen Menschen. Auch sind Kurdinnen und Kurden nicht nur muslimisch, es gibt christliche und auch jüdische Kurd_innen. Viele arabische Menschen wohnen hier in den Gebieten. Die PKK kämpft für den mittleren Osten. Sie möchte eine Region, in der es keine Staatsgrenzen gibt und die Menschen in Frieden zusammenleben. Das ist der Plan von Abdullah Öcalan, wisst ihr? Und wir glauben, dass es geschehen wird, auch wenn es vielleicht noch hundert Jahre dauert. Die Menschen hier kämpfen dafür, Schritt für Schritt.

Delegation: Und wie ist die Situation für die HDP hier gerade? Ist es möglich, als Partei zu arbeiten, etwa die Hayır-Kampagne zu machen?

Ali: Nein, in Gever sind alle Politiker_innen der HDP inhaftiert. Es ist sehr schwierig im Moment. Wir müssen abwarten, bis die Situation sich ein wenig normalisiert. Wir warten zum Beispiel darauf, das Selahattin Demirtaş wieder frei kommt.

Delegation: Das kann in 82 Jahren sein!

Ali: Wir glauben, dass er in einem Jahr freikommen wird, alle Parteimitglieder, alle kurdischen Gefangenen. Öcalan hat einen wirklich guten Plan für den Mittleren Osten und wir glauben daran, dass er umgesetzt wird. Insbesondere, seit es die Kämpfe der YPG in Rojava gibt.

Delegation: Das ist eine große Hoffnung!

Ali: Es ist gut, diese Hoffnung zu haben, an etwas zu denken

Güven: Daran, dass wir auch hier etwas ändern können, natürlich.

Delegation: Zeigt das Beispiel Rojava, dass etwas Ähnliches auch in Bakur, in Nordkurdistan, möglich ist?

Ali: Ja, natürlich, daran glauben wir. Aber wir brauchen viel mehr Zeit dafür, hier in der Türkei. Und wir können uns dessen nicht sicher sein. Wenn man zum Beispiel Syrien anschaut, hätte keiner damit rechnen können, dass es dort zu diesen Entwicklungen kommt. Nun ist dort alles geteilt, so durcheinander. So viele Menschen wurden getötet. Kinder, Frauen, Ältere Menschen, alle werden dort noch immer getötet. In Rojava hat die YPG erst begonnen, die Zivilbevölkerung zu schützen. Und alle möglichen Länder – in Europa, die USA und Russland, all diese Länder helfen der YPG, weil sie wissen, dass ihre Politik sehr wichtig ist. Sie ist nicht im Namen von Religion oder Nationen. Sie ist für alle Menschen im Mittleren Osten. Die Länder wissen, dass die YPG die Region stabilisieren wird. Das macht den Unterschied.

Güven: Ja, aber Bakur ist gleichzeitig auch der größte Teil Kurdistans und ist auch mächtiger als die anderen Teile – warum also können wir ihn nicht zu unserem eigenen Land machen? Das ist meine Frage. Wir waren wirklich nahe dran, es hätte vielleicht noch fünf Jahre gedauert, aber die Politiker haben alles zerstört. Und damit auch eine mögliche türkische Demokratie. Ich brauche das nicht, weil nun der Krieg weitergeht. 2013 hat der Friedensprozess angefangen, aber nach drei Jahren haben sie all die kurdischen Städte zerstört, was eine politische Entscheidung war. Und nun? Wo ist der Frieden?

Delegation: Vielen Dank für eure offenen Antworten und Analysen, wir wünschen euch natürlich weiterhin viel Erfolg und Widerstandsgeist.

* Die Namen der Interviewpartner wurden anonymisiert.