Ein Beitrag zur Geschichte der Menschlichkeit

Zur Rolle der PKK bei der Verteidigung Şengals, von Kanî Spî, 25.04.2017

In den frühen Morgenstunden des 3. August 2014 griff der Daesch (IS, Islamischer Staat) Şengal (Sindschar) an. Was folgte, war ein Völkermord an den Êzîden Şengals. Möglich wurde er, weil Tausende in Sinune, einer im Norden Şengals gelegenen Stadt, stationierte Peşmerge, die der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) nahestehen, ohne die geringste Gegenwehr Şengal fluchtartig verlassen hatten und die Bevölkerung somit schutzlos den Schergen Daeschs auslieferten. Auch die Asayîş (Sicherheitskräfte) des Regimes von Bagdad taten nichts, um die Êzîden zu schützen.

Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate im Zusammenhang mit Şengal machen es notwendig, die Tage des „73. Ferman“ [êzîdischer Begriff für Genozid, der 73. in ihrer Geschichte] von einer ganz anderen Seite zu beleuchten und darzustellen. Dazu gehört unter anderem auch, wie die PKK nach Şengal kam und was für eine Rolle sie dort spielte bzw. noch spielt. Wir lassen Zeitzeugen zu Wort kommen, die in verschiedenen Interviews dazu Stellung genommen haben und legen hier eine etwas gekürzte Übersetzung vor.

Murat Karayılan, Oberkommandierender der Volksverteidigungskräfte HPG, erklärte in einem Interview zur Rolle der PKK in Şengal: „Nachdem wir von Abdullah Öcalan gewarnt worden waren, haben wir uns sofort mit der PDK und der YNK (Patriotische Union Kurdistans) in Verbindung gesetzt. Wir unterbreiteten ihnen Vorschläge zum Schutz der Bevölkerung Şengals. Wir unterstrichen auch, dass wir bereit seien, Guerilla-Gruppen nach Maxmur, Kerkuk und Şengal zu verlegen. Die PDK erklärte, sie habe alles unter Kontrolle und eine ausreichende Anzahl Peşmerge sei vor Ort, deshalb bestünde kein Bedarf. Die Haltung der YNK war kaum anders, sie gab aber an, sie würde sich bei Bedarf melden. Natürlich ergreifen wir als PKK auch immer unsere eigenen Vorsichtsmaßnahmen (…) Wir bereiteten zwölf Freunde für Şengal vor (…) und gaben ihnen den Auftrag, Şengal zu schützen. Auf geheimen Wegen schickten wir sie nach Şengal.“

Serxwebûn ist einer dieser zwölf Kämpfer der HPG, die von Karayılan nach Şengal geschickt wurden. Er berichtet: „Am 24. Juli 2014 rief man uns zusammen. Über Metina kamen wir nach Gare. Dort fand eine Sitzung statt. Thema war die Möglichkeit bzw. Drohung eines Massakers an den Êzîden Şengals und wie dem zu begegnen sei. Die Sitzung dauerte vier Tage. Zum Abschluss wurden wir, zwölf Mitglieder der HPG, nach Şengal entsandt.“ Im Grenzgebiet zwischen Rojava und Irak vollzog die Gruppe, dem Bericht Serxwebûns zufolge, eine Arbeitsteilung. Sie strukturierte sich in vier Arbeitseinheiten von jeweils zwei bis drei Personen. Drei Arbeitseinheiten gingen nach Şengal, während eine in Cezaa (in Rojava nahe der Grenze zu Şengal) verblieb. Die Einheiten in Şengal sollten dort nach ihrer Ankunft Jugendliche organisieren und sie der in Cezaa verbliebenen Gruppe zur Ausbildung schicken. Es ging hauptsächlich darum, die Eigenverteidigung der Êzîden zu entwickeln. Allerdings erfuhr die PDK bereits frühzeitig von der Ankunft der ersten Gruppe in Şengal. Obwohl den Kämpfern dies durchaus bewusst gewesen sei und sie auch Vorkehrungen getroffen hätten, wie Serxwebûn versichert, wurde zwanzig Tage vor dem Ferman, dem Völkermord an den Êzîden, eine der Einheiten in Xanesor von der KDP verhaftet. „Der Gruppe gehörten der Genosse Xebat Derik, Harun Jirki und Zerdeşt von den Gemeinschaften der Jugendlichen (Komalen Ciwan) an. Bei ihnen war auch Bahriye Qaso, einer der Milizionäre aus Şengal.“ Doch noch vor der Verhaftung der Einheit hatten die beiden anderen Gruppen jeweils einige junge Êzîden zur Ausbildung nach Cezaa geschickt. Es muss sich um insgesamt wohl etwa dreißig Jugendliche gehandelt haben, die nach einer kurzen Ausbildung, dort mit allem Notwendigen ausgestattet, zurück nach Şengal geschickt wurden. Nach deren Ausbildung wechselte die Ausbildungseinheit ihren Standort. Denn sie stand mittlerweile immer wieder selbst unter Daesch-Beschuss. „Nachdem das Gefecht eine Nacht lang bis zum Morgen angedauert hatte, verlegten wir unseren Stützpunkt ohne irgendwelche Verluste nach Rabia (einer weiter nördlich gelegenen Stadt mit Grenzübergang Richtung Şengal) und setzten dort unsere Arbeit fort.“ Schon kurz darauf erreichte sie dort eine Gruppe von fast hundert Jugendlichen. Deren Ausbildung war noch nicht abgeschlossen, da begann der Daesch-Angriff auf Şengal.“

Hier unterbrechen wir den Bericht von Serxwebûn und lassen einen weiteren Zeitzeugen zu Wort kommen. Später werden wir erneut zu ihm zurückkehren. Doch hier erst einmal der Bericht von Zerdeşt Derweş von der PKK. Er war im Rahmen der Jugendarbeit der TEVDA, einer im Irak legalen Organisation, tätig. Die TEVDA war 2013 gegründet worden. Seitdem war Zerdeşt Derweş in Şengal. Zwanzig Tage vor dem Ferman wurde er von PDK-nahen Sicherheitskräften in Xanesor verhaftet.

Er berichtet: „Als Daesch in Mosul am 10. Juni 2014 einmarschierte, machten wir uns ans Werk. Wir waren zu sechst. Zwei Frauen für die Organisierung der Frauen, die anderen für das Generelle und ich für die Jugendorganisierung zuständig. Wir legten unsere Arbeit zusammen und vertieften uns in Fragen zur Verteidigung. Damit wandten wir uns auch an die Bevölkerung. Dann übernahm Daesch nach zwei- bis dreitägigem Gefecht Tel Afar, die Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts, etwa fünfzig Kilometer von der Stadt Şengal entfernt. Beide gehören zur Provinz Ninova. Ungefähr zwanzig-, dreißigtausend Menschen flüchteten von Tel Afar nach Şengal. (…) Sie blieben eine Woche lang. Selbst an Orte, wo wir waren, kamen sie. Eine Woche nach ihrer Ankunft unterbrach Daesch die Stromversorgung in Şengal. Es war mitten im Sommer. Das verursachte Probleme für die Menschen dort. Die Flüchtlinge aus Tel Afar sahen die Schwierigkeiten der Bevölkerung Şengals. Deshalb wollten sie weitergehen. Aber die Bevölkerung sagte ihnen: ‚Solange uns auch nur ein Krümel Brot bleibt, teilen wir ihn mit euch.‘ Aber die Menschen aus Tel Afar hatten ihren Entschluss gefasst. Innerhalb von drei Tagen verließen sie Şengal und gingen nach Kerbela. Sie sagten, die Alten, Kranken und Kinder sollten in Şengal bleiben, die Jungen jedoch sollten nach Tel Afar gehen und kämpfen. Einige taten das auch. Sie mussten bei den Gefechten hohe Verluste hinnehmen. Wer überlebte, kam zurück nach Şengal.“

Der Bericht von Zerdeşt Derweş macht deutlich, der Angriff auf Şengal war eines bestimmt nicht: Er kam nicht überraschend …

„Tel Afar war seit dem 16. Juni 2014 komplett von Daesch besetzt. Şengal war damit in großer Gefahr, es war umzingelt. Zwischen ihnen und uns lagen ganze zehn Minuten Distanz. So verging ein Monat (…) Im Juli führten wir unseren Jugendkongress durch. Es nahmen mehr Menschen daran teil, als wir erwartet hatten. Es gab eine Suche nach einem Ausweg. Daraufhin steigerten wir das Tempo unserer Vorbereitungen für eine Verteidigung. Als die Freunde uns sagten, ‚es eilt‘, haben wir die Jugendlichen nach Rojava, also nach Cezaa geschickt, um ihre militärische Ausbildung so früh wie möglich zu vollenden. So bildete sich langsam eine militärische Kraft. Informationen zufolge, die uns erreichten, hatte die PDK nicht die Absicht, Şengal zu schützen.

Als Mosul fiel, zogen sich die irakischen Soldaten nicht nur aus Mosul und Umgebung zurück, sie haben bis nach Ninova alle Punkte geräumt. Sie ließen ihre Waffen zurück und flüchteten. Einige unserer Jugendlichen gingen zur Grenze und holten sie sich. Zwei von ihnen wurden gar festgehalten, als sie dort hingingen, 38 Tage lang waren sie in den Händen von Daesch. Und auch als die Soldaten Bagdads an der Grenze zum Şengal begannen zu flüchteten, haben dort einige unserer êzîdischen Jugendlichen weiter gekämpft. So an die dreißig gerieten dabei in Daesch-Kriegsgefangenschaft. Der hat dabei eine andere Politik an den Tag gelegt und alle Jugendlichen freigelassen, zwei zum Beispiel gegen Bezahlung von 50.000 Dollar Lösegeld pro Kopf. Danach dachten die Êzîden: ‚Seht, sie wollen nur Geld. Sie tun uns nichts.‘ Kurze Zeit später sollten sie erkennen, dass dem nicht so war.

Wir gingen in die Dörfer Erdan, Xiranê und Gir Şebek, die die Grenze zum Daesch darstellten. Dort richteten wir in manchen Häusern einen Wachdienst ein und ordneten einiges. Daesch war keine fünf Minuten von uns entfernt. Wenn man auf den Hügeln vor dem Dorf Xiranê stand, konnte man alle seine Bewegungen erkennen. Sie waren in den Dörfern Cumo und Şiro, keine 500 Meter von uns entfernt. Das sind arabische Dörfer. Daesch gelangte von dort nach Mosul. Das wussten wir natürlich nicht. Als wir fragten, wo sie hingingen, sagte man uns ‚nach Mosul‘.

Daraufhin sagten wir, dass der Bereich zwischen den Dörfern Xiranê, Cumo und Şiro unter Kontrolle zu bringen sei. Wenn sie (gemeint ist Daesch) mit ihren Autos kämen, seien diese zu stoppen. Die Bevölkerung dort erklärte uns, das habe sie anfänglich getan. Aber die PDK sei daraufhin gekommen und habe sie unter Druck gesetzt. Sie mussten den Weg wieder freigeben. Wie bereits erwähnt, hatten êzîdische Jugendliche, als die irakischen Soldaten flohen, einige der zurückgelassenen Waffen an sich genommen. Die PDK kam und sammelte sie alle ein, darüber hinaus gingen sie von Haus zu Haus und konfiszierten auch jene Waffen, die den Êzîden gehörten.“

Aufgrund der Vorfälle sei ihnen klar gewesen, dass sie die Einzigen sein würden, die Şengal schützen würden, so Zerdeşt Derweş: „Auf Basis dieser Erkenntnis teilten wir zwischen uns die Aufgaben auf. Einen Monat lang gingen wir zu den genannten Dörfern, kamen zur Front. Wir unterteilten den Berg Şengal in zwei Bereiche, den nördlichen und den südlichen. Nachdem ich drei Gruppen ausgebildet hatte, stießen zwölf weitere Freunde, zu unserer Unterstützung, zu uns. Es handelte sich dabei um die Gruppe, der Serxwebûn angehörte. Es stellte sich als dringend notwendig heraus, einen sicheren Bereich für das êzîdische Volk zu schaffen. Zumindest musste eine Verteidigungslinie errichtet werden. Im Falle eines Angriffs wäre es notwendig, dass die Bevölkerung im sicheren Bereich Schutz findet und von dort aus Widerstand leistet. So wäre ein Massaker an allen zu verhindern.“

Mit der Gruppe, die zu ihrer Unterstützung zu ihnen gestoßen war, galt es, so Zerdeşt Derweş, „umherzustreifen und die Gegend zu erkunden, die Höhlen, Orte, an denen es Wasser gab, zu finden, das geeignetste Gebiet für eine Verteidigung auszumachen“.

Er selbst war „an der Front von Xanesor. Im Gebiet von Xanesor bis nach Bare, Şilo und Sinune waren wir zu dritt“, berichtet er. „Wir erkundeten die Gegend. Xanesor ist ein Ort von strategischer Bedeutung. Das Gebiet reicht bis nach Mediban, Hol und Til Hemis und ist eine für Angriffe offene Front. Wir hatten unsere Waffen an einem Ort versteckt, wo wir Kontakt zu einem Jugendlichen hatten. Bei dem im Haus waren unsere Waffen. Wir hatten uns ziemlich weit von dem Dorf entfernt, dort stand ein altes Haus, auch das hatten wir hinter uns gelassen. Wir hatten eine Stelle erreicht, die früher als Militärstützpunkt gedient hatte. Das war der beste Platz für eine Verteidigung. Von dort aus wäre einem Angriff über Xanesor oder über die nördliche Flanke des Berges zu begegnen. Nachdem wir den Punkt erkundet hatten, kehrten wir ins Dorf zurück, doch dort warteten bereits die Asayîş (d. h. die Sicherheitskräfte) der Peşmerge auf uns.“

Zerdeşt Derweş und seine Weggefährten wurden zwanzig Tage vor dem 73. Ferman verhaftet, ebenso einer der Milizionäre, der bei ihnen war. Sie blieben fast einen Monat in Haft. Zerdeşt Derweş wurde nach Şengal, später nach Duhok verlegt. In der Haft in Dohuk erfuhr er vom Angriff auf Şengal. Nachdem er ins Gefängnis Serge verlegt worden war, kam er innerhalb einer Woche frei. Zehn Tage nach seiner Freilassung kehrte er über den Korridor nach Şengal zurück und schloss sich dem Widerstand an. Über die Veränderungen seit seiner Verhaftung sagt er: „Überall sah ich die Zerstörung. Die Städte waren vernichtet, das Massaker geschehen. Daesch hat an jedem Ort, an dem sie vorbeizogen, Unbeschreibliches getan.“

Wir kehren an dieser Stelle wieder zum Bericht von Serxwebûn zurück. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Er berichtet vom Angriff Daeschs auf Şengal in den frühen Morgenstunden des 3. August 2014 und den Folgetagen. Der Angriff auf Şengal begann, die Jugendlichen, die zur Ausbildung an ihrer Seite waren, wurden daraufhin in vier Gruppen unterteilt, jeder der Ausbilder übernahm eine und machte sich in den Morgenstunden auf den Weg nach Şengal. „Als wir Sinune erreichten, griff Daesch an“, berichtet Serxwebûn. Sinune ist eine große Stadt im Norden Şengals. Nachdem es 2007 einen entsetzlichen Doppelanschlag von ISIS auf das Êzîdendorf Siba Şeyh Hidir im Süden Şengals gegeben hatte, bei dem 337 Êzîden ermordet und 1000 obdachlos wurden, waren damals mehrere Tausend Peşmerge nach Sinune verlegt worden. „Die Dörfer hinter Sinune, Herike und Bazuka befanden sich in der Hand unserer Kräfte“, berichtet Serxwebûn. „PDK, YNK und die irakische Armee selbst waren in Sinune. Wir allerdings bewegten uns eher auf den Wegen Richtung der Berge Şengals und dessen Dörfer voran. Zuvor hatten wir uns jedoch bei den Peşmerge und den Kräften der irakischen Armee versichert gehabt, dass sie ihre Position nicht räumen würden. Zu der Zeit erreichten aus Rojava kommende Gruppen von YPG (Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) Şengal. Doch als Daesch begann, auf Şengal zu schießen, verließen sowohl die irakische Armee als auch die PDK ihre Posten und zogen sich zurück. Dadurch fiel der Hochzeitssalon am Ausgang von Sinune in Daesch-Hand. Wir griffen ihn gemeinsam mit den Jugendlichen und den YPG- und YPJ-Kräften an und konnten ihn unter unsere Kontrolle bringen. Das Gefecht hatte einen halben Tag lang angehalten. Weil uns keine Munition geblieben war, mussten wir uns dann zurückziehen. In der Zwischenzeit hatten wir jedoch die Bevölkerung von Sinune in die Berge evakuiert. Und auch wir zogen uns dann dorthin zurück.

Einige unserer Gruppen waren in den Dörfern Solaxa, Çil Mera, Derase, Kızılkent und im Amud genannten Gebiet. Einige unserer Kräfte waren bis ins Umland der Täler von Bare und Şilo, ja bis nach Şeyh Mend vorgedrungen. Manche hatten es sogar bis Geliye Kerse, Hiriko und Şerfedin geschafft. Ohnehin war unsere Anzahl ja eher gering. An den von mir genannten Orten befanden sich also nie mehr als zwei, drei, vier Personen. Ihnen zur Seite standen Zivilisten aus der êzîdischen Bevölkerung. Als die Unsrigen ihnen den Weg wiesen und ihnen sagten, was zu tun sei, wählten viele von ihnen den Widerstand und blieben an unserer Seite.

Das Hauptziel unseres Widerstands war es zu verhindern, dass Daesch die Berge erreicht, wohin sich die Bevölkerung zum Schutz geflüchtet hatte. Sollte es Daesch gelingen, wäre die Folge ein Massaker unabsehbaren Ausmaßes geworden. Dabei waren die Berge von unschätzbarem Wert. Es gibt dort Stellen, da genügen zwei Personen und keiner käme an ihnen vorbei, egal wie schwer er bewaffnet wäre. Dementsprechend bezogen wir Position und brachten uns an den kritischen Plätzen in Stellung.“

Und manchmal spielte ihnen auch der Zufall in die Hände. Serxwebûn berichtet: „Wenn man von den Bergen nach Şengal hinuntergeht, kommt zuerst eine Kurve. Die folgende Geschichte spielte sich dort ab. Als sich die Peşmerge auf Befehl zurückzogen, ließen sie eine Doçka [schweres Maschinengewehr] zurück. Zwei Dorfbewohner fanden sie und brachten sie zu uns. Doch sie war defekt und funktionierte nicht. Drei unserer Freunde, die mit uns zusammen gekommen waren, reparierten sie. Dann stellten sie sie in der ersten Kurve auf, wo man von Çil Mera, dem mit 1464 Metern höchsten Punkt des Bergrückens, nach Şengal hinabsteigt. Sie stellten sich an die Spitze jener, die die aus Şengal Flüchtenden beschützen sollten. Während die Menschen den Weg in die Berge hinaufkamen, machte der IS sich daran, sie anzugreifen. Mit Hilfe der Doçka gelang es, ihn zurückzuschlagen und auf Abstand zu halten. So konnten wir die Menschen an ihnen vorbeibringen. Als die Peşmerge später zurück nach Şengal kamen, forderte einer von ihnen, Kasim Dirbo, die Doçka zurück (…) Sie war bis zum Tag der Befreiung des Stadtzentrums von Şengal in der Hand unserer Freunde. Erst als wir die Offensive zur Befreiung der Stadt begannen und dazu aufgrund unserer geringen Anzahl die Berghänge verlassen mussten, überließen wir sie ihnen wieder.“

„Wenn auch nur in geringem Ausmaß, so gab es doch Wasser in den Bergen. Es gab Obst. Es gab Tiere. Ansonsten nichts. Deshalb blieb bei Frauen, die ihre Säuglinge stillten, die Milch aus. Es gab Kinder, die an Milch- und Wassermangel starben, auch einige Ältere. Mit jedem vergangenen Tag starben einige Kinder und Alte. Es gab Verluste, die sehr schmerzlich waren, aber es war nicht zu ändern, denn wir waren umzingelt von Daesch. So galt es für uns zuallererst, die in die Berge geflüchteten Menschen zu retten. Daesch versuchte natürlich, in die Berge einzudringen, um dann ganz Şengal unter seine Kontrolle zu bringen. Wenn es ihm gelungen wäre, dann wären Hunderttausend von ihnen grausamst ermordet worden. So mussten wir uns also der Angriffe von Daesch erwehren, während wir gleichzeitig große Probleme wegen des Wasser- und Nahrungsmittelmangels hatten. Die Freunde der YPG und YPJ hatten von Beginn an einen Korridor nach Rojava gehalten. Durch den schleusten wir jede Nacht unzählige Menschen, während Daesch ihn ununterbrochen angriff. So riefen wir die HPG zu Hilfe. Diese haben dann in kürzester Zeit Hilfe geschickt.

Um die Hilfe der HPG und YPG hatte auch der Vorsitzende der TEVDA (Demokratische Êzîdische Bewegung), Seid Hesen Seid, gerufen. Er erklärte noch am 3. August 2014: „Tausende unserer Menschen sind schutzlos und von einem Massaker bedroht. Dutzende Dörfer mussten wir verlassen. Die Peşmerge der PDK haben, statt uns zu schützen, ihre Stellungen im Stich gelassen und Şengal verlassen. Damit haben sie ganz klar einem Massaker an den Êzîden Tür und Tor geöffnet. Wir haben zuvor schon eine Erklärung abgegeben und die HPG und YPG gebeten, nach Şengal zu kommen und unser Volk zu schützen. Nur, die PDK hatte das nicht zugelassen. Das sollte nicht mehr stillschweigend hingenommen werden. Wir erneuern somit unseren Aufruf. Unser Volk möchte, dass die HPG so schnell wie möglich mit der Verteidigung der Êzîden beginnen.“

Murat Karayılan berichtet: „Am 3. August 2014 um neun Uhr habe ich dann von der Katastrophe Meldung erhalten. Um elf Uhr schon wurde ein Bataillon in Richtung Şengal in Bewegung gesetzt.“

Serxwebûn: „Als die Freunde von den HPG uns erreichten, nahm unsere Zahl zu. Nach ihrer Ankunft sicherten Kräfte von YPG, YPJ sowie HPG und YJA-STAR den Korridor. Sie begannen mit der Verteidigung der Berge und brachten sich in Stellung, um den Korridor zu halten (…) Doch sehr sicher war er nicht. So verbesserten wir Schritt für Schritt seine Sicherheit. Wir errichteten alle fünfzig bis hundert Meter Stellungen aus Sandsäcken und brachten einen von uns darin in Stellung. Alle diese Stellungen wurden mit Spaten und Schaufel errichtet. Denn darüber hinaus fehlten uns die Mittel. Dabei war Daesch nie weit entfernt. Mal hundert, mal zweihundert oder dreihundert Meter. Die Distanz ging nie über fünfhundert Meter hinaus. Als wir so die Sicherheit des Korridors verbessert hatten, begannen wir am helllichten Tage, die Menschen gruppenweise aus Şengal zu schleusen. Am Tag schleusten wir sie hinaus, nachts hingegen griffen wir die Positionen von Daesch an, um unseren Bewegungsspielraum zu erweitern. Nachdem der Korridor errichtet war, galt es die Menschen in den Bergen von Şengal mit Nahrung zu versorgen. Der Kanton Cizîrê, einer der drei Kantone von Rojava, hat in dieser Hinsicht alles in seiner Macht Stehende getan. Sie schickten uns Mehl, das schafften wir in die Berge. Nach Tagen hatte die Bevölkerung zum ersten Mal wieder Brot zu essen.“

Der Korridor hat die Êzîden Şengals, die sich in die Berge hatten retten können, in Sicherheit gebracht. Er endete in Cezaa. Er begann in Diguri, führte über Şerfedin bis nach Geliye Kers.

„Der Korridor Richtung Cezaa wurde pausenlos von Daesch angegriffen“, berichtet Serxwebûn. „Allein dabei verloren 63 unserer Freunde ihr Leben. Trotzdem haben wir ihn geschützt und offengehalten. Denn es war ein Korridor der Menschlichkeit, wie er später von anderen genannt werden sollte. Es war ein Korridor, der das êzîdische Volk am Leben erhalten sollte. Ein Korridor, der sie vor der Vernichtung, vor dem Völkermord, dem Ferman retten sollte. Bis wir alle durchgeschleust hatten, sollten etwa 100 unserer Freunde ihr Leben verlieren. Beim Widerstand im Umkreis verloren noch einmal so viele ihr Leben. Insgesamt 250 bis 300 Freunde starben in diesen Tagen. Aber wir bewältigten etwas, was in die Geschichte der Menschlichkeit eingehen wird. Wir retteten die Êzîden vor dem Völkermord. Darauf sind wir stolz.“

Mit der Ankunft des nach Şengal entsandten Kampfbataillons der HPG wurde vom 8. bis zum 18. August die Bergung von 120.000 Menschen von den Hängen des Şengal-Gebirges nach Rojava gesichert.“

In einer Erklärung der HPG heißt es: HPG und YJA-STAR hatten in den Tagen des Völkermords an den Êzîden allein im Kampf um die Verteidigung Şengals und Südkurdistans etwa 230 Şehids (Märtyrer) zu beklagen. Darunter war auch Şoreş, der in Cezaa fiel. Şoreş war der zuständige Kommandant bei der Errichtung des Korridors und befehligte auch seine Aufrechterhaltung.