Eigentlich war das Wahlergebnis eindeutig: Mehmet Sıddık Akış, Kandidat der DEM-Partei, wurde bei den Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März 2024 mit 48,92 Prozent zum Co-Bürgermeister von Colemêrg (tr. Hakkari) gewählt. Obwohl die AKP-Regierung noch kurz vor den Kommunalwahlen zahlreiche Polizisten und Soldaten in die Stadt verlegt und als Wähler registriert hatte, konnte sich, Akış durchsetzen. Sein rechtmäßiges Amt konnte er jedoch nur knapp zwei Monate ausüben. Denn am 3. Juni wurde er von der türkischen Regierung abgesetzt und durch einen Zwangsverwalter ersetzt.
Der Vorwurf gegen den gewählten Bürgermeister ist ein altbekannter, wenn es um kurdische Amtsträger*innen geht: Mitgliedschaft ine iner „Terrororganisation“ sowie „Terrorpropaganda“. Gegen Akış ist, wie gegen viele andere kurdische Politiker*innen, tatsächlich ein Verfahren aus dem Jahr 2014 anhängig. Doch dieses Verfahren war für die türkische Wahlbehörde YSK bei der Kandidatenaufstellung vor den Kommunalwahlen noch kein Grund, seine Kandidatur zu annullieren. Nach seiner Wahl beschleunigte die Justiz plötzlich das Verfahren gegen den neu gewählten Bürgermeister. Es sollte auf Geheiß Ankaras im Eiltempo abgeschlossen werden, schließlich ging es darum, eine Zwangsverwaltung zu installieren und diese auf eine „rechtliche Grundlage“ zu stellen. Das Verfahren, in dem Akış vermutlich freigesprochen worden wäre, wenn er nicht zuvor zum Co-Bürgermeister gewählt worden wäre, endete mit einer Verurteilung zu 19,5 Jahren Haft. Dieses Urteil diente später als Rechtfertigung für die Ernennung des Zwangsverwalters.
Einen ähnlichen Versuch unternahm die AKP unmittelbar nachden Wahlen in Wan (tr. Van). Die türkischen Behörden wollten dem DEM-Kandidaten Abdullah Zeydan (55,5 Prozent der Stimmen) die Bürgerrechte entziehen und sein Mandat dem AKP-Kandidaten (27 Prozent der Stimmen) übertragen. Dies scheiterte jedoch an einem massiven Aufstand der Bevölkerung, so dass die Wahlbehörde YSK auf Einspruch der DEM-Partei ihre Entscheidung revidieren musste und schließlich den Wählerwillen der Bevölkerung anerkannte. Im Fall von Mehmet Sıddık Akış scheint die türkische Regierung jedoch nicht gewillt, ihre Entscheidung zurückzuziehen.
Zwangsverwaltungen als Kampfmittel gegen lokaleSelbstverwaltung
Die Tatsache, dass in der Türkei Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden, wird von der türkischen Propaganda gerne als Beweis für die Demokratie im Land genommen. In den kurdischen Gebieten gilt dieser Beweis jedoch nicht. Denn bereits am Tag der letzten Kommunalwahlen, am 31. März 2024, machte die Partei DEM auf mehr als 47.000 „transportierte Wähler“ aus anderen Landesteilen aufmerksam. Diese Soldaten und Polizisten wurden kurzfristig zur Stimmabgabe in kurdische Städte und Gemeinden verlegt, um dort das Wahlverhältnis zugunsten der AKP-Kandidaten zu beeinflussen. In einigen Orten gelang dies auch.
In den Orten, in denen die AKP-Regierung trotz der Verschiebung der Wählerstimmen keinen Erfolg hatte, könnte sie nun, wie im Fall von Colemêrg, auf eine altbewährte Strategie zurückgreifen: Die Absetzung der Bürgermeister*innen und den Einsatz von Zwangsverwaltern, die durch die Regierung ernannt werden.
Das Gesetz zur Einsetzung von Zwangsverwaltern beruht auf einem Dekret des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan persönlich. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 hatte sich der türkische Präsident auf Grundlage des Ausnahmezustands das Recht herausgenommen, per Dekret – also ohne Zustimmung des Parlaments – Gesetzesänderungen vorzunehmen. Zwei Monate später ordnete er eine Änderung des Kommunalverwaltungsgesetzes an: Bürgermeister*innen, die sich der „Unterstützung des Terrorismus“ schuldig machen, können demnach auf Anordnung des Innenministeriums abgesetzt werden.
Da der Terrorismusvorwurf ohnehin seit Jahren gängige Praxis der Regierung in Ankara gegenüber kurdischen und prokurdischen Politiker*innen ist, war sofort klar, gegen wen sich diese Gesetzesänderung in erster Linie richtet. Und so kam es dann auch: In den Jahren 2016 und 2017 wurden 95 gewählte Bürgermeister*innen in kurdischen Gemeinden abgesetzt und 93 von ihnen inhaftiert. Nach den Kommunalwahlen 2019 wurden wiederum 48 gewählte Bürgermeister*innen abgesetzt und 39 von ihnen inhaftiert. Und nach den jüngsten Kommunalwahlen vom 31. März 2024 hat es nun Mehmet Sıddık Akış getroffen. Es ist nicht auszuschließen, dass weitere Bürgermeister*innen der DEM-Partei aufder Liste der AKP stehen werden.
In Nordkurdistan gilt ein anderes Gesetz
Der Terrorismusvorwurf gehört zu den wichtigsten Mitteln der türkischen Regierung gegen die politische Bewegung der Kurd*innen im Südosten des Landes: Das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP), die kürzlich verkündeten Urteile im Kobanê-Prozess sowie tausende inhaftierte Mitglieder der HDP und der DEM-Partei belegen dies. Am Beispiel der Absetzung von rechtmäßig gewählten Bürgermeister*innen in den kurdischen Provinzen wird deutlich, wie wenig das Regime in Ankara vom Wähler*innenwillen der kurdischen Bevölkerung hält. Dass es dabei auch seine eigenen Gesetze regelmäßig mit Füßen tritt, ist nicht verwunderlich. Denn in Nordkurdistan scheinen andere Gesetze zu gelten.
Im Fall von Mehmet Sıddık Akış wird zunächst deutlich, wie sehr die Justiz in der Türkei den Vorgaben der Regierung untergeordnet ist. Die Regierung in Ankara fordert nach den Kommunalwahlen die Beschleunigung einesVerfahrens aus dem Jahr 2014 und die Justiz gehorcht und fällt innerhalb kürzester Zeit ein Urteil. Doch trotz fehlender Gewaltenteilung und der verhängten Haftstrafe hätte Akış nicht abgesetzt werden dürfen, denn das Urteil ist nur erstinstanzlich. Tatsächlich konnte bislang gegen keinen der abgesetzten kurdischen Bürgermeister*innen der Terrorvorwurf von einem Berufungsgericht bestätigt werden. Auch wenn die türkische Regierung sie vor jedem Gerichtsurteil zu „Terroristen“ oder „Terrorunterstützern“ erklärte, sind die Betroffenen selbst nach türkischem Recht unschuldig. Dennoch wurden bis dato dutzende Bürgermeister*innen abgesetzt, von denen sich viele seit Jahren in Haft befinden.
Und selbst die Einsetzung der Zwangsverwalter in Nordkurdistan verstößt gegen geltendes türkisches Recht: Denn das oben genannte Gesetz über die Kommunalverwaltung sieht bei der Absetzung von Bürgermeister*innen eigentlich vor, dass der betroffene Gemeinderat innerhalb von zehn Tagen zusammentritt, um eine*n Nachfolger*in für das Amt zu wählen. Während diese Vorgabe in den wenigen Fällen, in denen Bürgermeister*innen außerhalb Nordkurdistans abgesetzt worden sind, durchweg eingehalten wird, kommt das Gesetz in Nordkurdistan nicht zur Anwendung. Hier werden die „neuen Bürgermeister“ einfach von Ankara aus bestimmt.
Die Praxis der Zwangsverwaltungen macht deutlich, dass der türkische Staat in Nordkurdistan nicht nur seine eigene Gesetzgebung missachtet, sondern demokratische Standards längst abgeschafft hat. Hier zeigt sich das autoritäre Regime Erdogans offen und unverblümt. Das Beispiel Wan zeigt aber auch, wie die Antwort darauf aussehen muss. Gesellschaftlicher Widerstand und internationale Proteste haben die Regierung in Ankara zum Einlenken gezwungen. Bei der Absetzung von Mehmet Sıddık Akış in Colemêrg hat der gesellschaftliche Protest bisher nicht ausgereicht, um die Entscheidung der AKP-Regierung rückgängig zu machen. Das könnte die Machthaber im Staat ermutigen, gegen weitere kurdische Bürgermeister*innen vorzugehen. Die Situation in der Region muss daher genau beobachtet werden.
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