Jin, Jiyan, Azadî: Ein Jahr nach der Jîna-Revolution

Seit Ausbruch der bisher bedeutendsten Proteste im Iran seit 1979 ist ein Jahr vergangen. Die unterschiedlichen Bezeichnungen der Ereignisse als “Revolution”, “Jin, Jiyan, Azadî Bewegung”, “Jîna Aufstand” oder “Nationale Revolution” deuten auf unterschiedliche Sichtweisen hin. Doch was hat sich im vergangenen Jahr im Iran ereignet? Welchen Nutzen und welche Belastungen hat die Revolution für die iranische Bevölkerung und die iranische Gesellschaft gebracht und welchen Schaden hat sie verursacht?

In der klassischen Definition steht die Revolution für eine grundlegende und in der Regel zeitlich begrenzte Phase der Umgestaltung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Diese Definition beschreibt eine Revolution als ein plötzliches und oft unvorhersehbares Ereignis. Dies ist jedoch nicht die einzige Definition, da viele Revolutionen, wie die Revolution von 1918/19 in Deutschland, sich über einen längeren Zeitraum entwickeln und nicht in einem einzigen Moment ablaufen. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet eine Revolution, Ängste zu vertreiben und Hoffnungen zu wecken. Genau das ist im Iran im letzten Jahr passiert, als eine 44 Jahre alte Angst über Nacht verschwand und die verloren geglaubte Hoffnung zu den Menschen zurückkehrte.

Die “Jin, Jiyan, Azadî”-Revolution ist eine jener Revolutionen, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen. Was im September 2022 geschah, kann in diesem oder im nächsten Jahr Früchte tragen. Nach der Revolution von 1979 hat es im Iran viele Protestbewegungen gegeben (1997, 1999, 2009, 2017, 2018), aber die im letzten Jahr war die längste Protestaktion dieser Art. Darüber hinaus ist diese Bewegung die einzige nicht-religiöse Bewegung in der modernen Geschichte des Iran. Frühere Bewegungen und Revolutionen im Iran hatten alle einen islamischen und insbesondere einen schiitischen Hintergrund. Der Grund dafür, dass die Jîna-Revolution nicht religiös vereinnahmt wurde, liegt im Ursprung und in der Geschichte des Slogans “Jin, Jiyan Azadî” und im durch und durch säkularen Charakter der politischen Bewegungen in Kurdistan. Die Proteste umfassten 31 Provinzen (selbst die Regierung sprach von 29 Provinzen, in denen es zu Erhebungen kam) und mehr als hundert Städte.

Die politische Bewegung im Iran begann im vergangenen Jahr zeitgleich mit der Beerdigung von Jîna Amînî auf dem Aichi-Friedhof in der kurdischen Stadt Saqqez und breitete sich schnell auf andere Regionen des Iran aus. In Kurdistan hielten die Proteste mindestens zwei Monate lang ununterbrochen an (zum Beispiel in Städten wie Sanandaj). In Belutschistan fanden die Proteste über fünf Monate lang jeden Freitag statt. Vor einigen Wochen sind die Proteste in Belutschistan wieder aufgeflammt. Zeitgleich mit den anhaltenden Protesten im Iran versammelten sich auch Iraner*innen in der Diaspora in beispielhafter Weise auf den Straßen ihrer Gastländer und forderten globale Solidarität ein.

In den ersten Monaten der Proteste töteten die staatlichen Repressionsorgane mehr als 500 Demonstrant:innen, darunter nach Angaben von Amnesty International 44 Kinder. Hunderte wurden schwer verletzt. Dutzende erlitten Augenverletzungen. Nach Angaben von Regierungsvertreter:innen wurden allein während der monatelangen Niederschlagung der Proteste 80.000 Menschen festgenommen, auch wenn einige von ihnen später nach einer Begnadigung durch das iranische Staatsoberhaupt Ali Khamenei unter Auflagen freigelassen wurden. Darüber hinaus hat die Regierung mindestens sieben Personen im Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet, sieben weiteren droht derzeit die Hinrichtung. Gegen Dutzende von Personen werden Anklagen erhoben, die mit der Todesstrafe geahndet werden können.

Die Iraner:innen im Ausland, die in Opposition zur iranischen Regierung stehen, sind stark zersplittert und nicht geeint. Die einzige nennenswerte Koalition, die sich gebildet hat, ist die “Georgetown-Koalition” in den USA. Sie bestand zunächst aus acht Mitgliedern, die überwiegend dem rechten Flügel der Opposition angehörten, darunter Reza Pahlavi, der Sohn des ehemaligen iranischen Diktators, Masih Alinejad, eine iranische Journalistin und Aktivistin, und Abdullah Mohtadi, eine politische Figur in Kurdistan, die früher linke Ansichten vertrat, sich heute aber als Sozialdemokrat bezeichnet. Einige Monate später, kurz vor ihrer Auflösung, veröffentlichte die Koalition ein Manifest, das sich hauptsächlich auf das Prinzip der “territorialen Integrität” konzentrierte und weniger auf andere, beispielsweise soziale Aspekte. Die Koalition löste sich schnell auf und hinterließ kaum Spuren ihrer Existenz.

Die iranischen Rechtsextremist*innen (die meisten von ihnen in der Diaspora), angeführt von Reza Pahlavi, versuchten von der ersten Woche der Proteste an, die queer-feministischen Aspekte der Revolution zu marginalisieren, indem sie den Slogan “Mann, Heimat, Entwicklung” als Gegensatz zu “Frau, Leben, Freiheit” einführten. Sie warben in der Bevölkerung für ein Konzept namens “iranische Nationalrevolution”. Sie entfernten den Namen Jîna Amini und benutzten nur noch ihren kolonialen Namen (Mahsa Amini) oder Namen wie “Mädchen des Iran”.

Die Situation im Iran war aber eine andere. Gewerkschaften, politische und zivile Organisationen veröffentlichten in mindestens zwei Fällen Manifeste, die wesentlich fortschrittlicher waren als die Georgetown-Version. Sie betonten die feministische Dimension der Jîna-Revolution und ökologische Werte. Dennoch blieben diese Koalitionen wirkungslos und konnten die Bevölkerung nicht auf breiter Basis überzeugen.

Das Scheitern der organisierten Opposition im In- und Ausland bedeutete jedoch nicht das Ende der Proteste. Im vergangenen Jahr versuchten Frauen im ganzen Iran, den Zwang zum Tragen des Hijab herauszufordern. Augenzeug:innen berichten, dass die Straßen des Iran, insbesondere in der Hauptstadt Teheran, in Bezug auf die Kleidung der Frauen anders aussahen als zuvor. In den letzten Monaten des vergangenen Jahres kam es im Iran auch zu umfangreichen Gewerkschaftsprotesten, an denen sich Lehrer:innen, Rentner:innen und Arbeiter:innen beteiligten. In Städten wie Mariwan und Paveh in Kurdistan haben Umweltschützer*innen (auf Kurdisch: jîngehêparêz*) durch die freiwillige Massenbeteiligung an der Bekämpfung der Waldbrände im Zagros-Gebirge den Umweltschutzbemühungen neuen Schwung verliehen.

Die zeitweilige Unterdrückung der Proteste durch die iranische Regierung und die Versuche, Zwietracht unter den oppositionellen Kräften zu säen, waren eine bittere, aber vorhersehbare Reaktion. Während die Proteste unterdrückt wurden und ihre öffentliche Sichtbarkeit abnahm, nahmen die westlichen Regierungen (sowohl die europäischen als auch die amerikanischen), die im vergangenen Oktober ihre Solidarität mit den Demonstrant:innen im Iran bekundet hatten, ihre Bemühungen um eine Wiederbelebung des JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action; Atomabkommen mit dem Iran) wieder auf. Gleichzeitig begannen sie mit der Organisation von Gefangenenaustauschen (z.B. zwischen Belgien und Iran) und verstrickten sich in ein diplomatisches Gezerre mit der iranischen Regierung.

Diese beiden Entwicklungen haben die Stimmung in der iranischen Bevölkerung beeinflusst, die mehrheitlich gegen ausländische Interventionen ist. Die Demonstrant:innen haben im vergangenen Jahr auf verschiedene Weise immer wieder betont, dass sie keine Unterstützung von westlichen Regierungen erwarten, sondern vielmehr ein Ende der Unterstützung für das iranische Regime – ein Ziel, das offenbar nicht erreicht werden konnte.

Es war schon immer ein schwieriges Unterfangen, die spezifische politische Situation im Iran vorherzusagen. Eine genaue Prognose für die kommenden Wochen, die mit dem Jahrestag der Ermordung von Jîna Amînî zusammenfallen, ist daher ebenfalls nicht einfach. Während die iranische Regierung im vergangenen Jahr unvorbereitet von den Protesten getroffen wurde, scheint sie in diesem Jahr besser auf die Niederschlagung möglicher Proteste vorbereitet zu sein. Angesichts der Verhaftungen von Aktivist:innen, insbesondere von Frauen, dem Einsatz von Überwachungskameras und dem Einsatz verschiedener digitaler Repressionsmethoden ist es unwahrscheinlich, dass wir groß angelegte Proteste wie im letzten Jahr erleben werden. Ausgehend von einer Analyse des historischen politischen Verhaltens der kurdischen Bewegung kann jedoch mit Zuversicht behauptet werden, dass die Menschen in Saqqez (Jînas Heimatstadt) wahrscheinlich zumindest einen eintägigen Protest organisieren werden. Die Kontinuität dieser Proteste wird von der Zusammenarbeit mit anderen Regionen in Kurdistan und im Iran abhängen.

Die Erfolge der aktuellen Bewegung sind schwer einzuschätzen. Generell lässt sich jedoch feststellen, dass die “Jin, Jiyan, Azadî”-Bewegung über ihre queerfeministischen Untertöne hinaus den politischen Werten innerhalb der iranischen Gesellschaft einen universellen Charakter verliehen hat. Zum ersten Mal in der Geschichte des Iran ist eine Bewegung entstanden, die die Grenzen von Religion und Ethnizität überschreitet. Diese Bewegung hat die Mehrheit der iranischen Gesellschaft dazu gebracht, sich von den Reforminitiativen der Regierung zu distanzieren und den Sturz der Regierung als einzig gangbaren Weg zu sehen. Die “Jin, Jiyan, Azadî”-Bewegung, die ihre Wurzeln in der kurdischen Befreiungsbewegung hat, hat fortschrittliche politische Bewegungen im gesamten Nahen Osten zusammengeführt. Es ist nicht unbegründet zu behaupten, dass der Erfolg oder Misserfolg dieser Bewegung im Iran als Barometer für den Erfolg oder Misserfolg fortschrittlicher politischer Bewegungen im gesamten Nahen Osten dienen wird.


*Das Wort jîngeh (Umwelt) hat in der kurdischen Sprache einen gemeinsame Wurzel mit Jîn (Frau) und Jîyan (Leben).