»Wir fordern keine Amnestie. Wir fordern die Anwendung des Gesetzes.«

kelebekFreilassung der kranken Gefangenen in der Türkei!
Bianca Winter, Kampagne Demokratie hinter Gittern

»Die Schmerzen, die Erinnerungen und die Wut des kurdischen Volkes sind noch frisch. Wenn es um die politischen Entwicklungen in unserem Land geht, sind die Gefängnisse deswegen genau die Orte, die wir besonders beobachten.«

Trotz des begonnenen Dialogs zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und türkischem Staat halten die Verhaftungen im Rahmen der sogenannten KCK-Verfahren (KCK = Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdi­stans) an. Wegen Terrorvorwürfen wurden seit 2009 über 9.000 meist kurdische JournalistInnen, RechtsanwältInnen, MenschenrechtsaktivistInnen, GewerkschafterInnen, Frauenaktivistinnen, BürgermeisterInnen oder Studierende hinter Gitter gebracht.

Die AKP-Regierung ist deswegen auch international stark unter Druck geraten, aber bislang nicht bereit, diese Gefangenen freizulassen. Die Entlassung einiger weniger, meist prominenter Gefangener reicht nicht aus, um die kurdische Bevölkerung von der Ernsthaftigkeit der Regierung zu überzeugen. Die Freilassung der schwerkranken Gefangenen sollte hierfür ein erster Schritt sein. 

411 kranke Gefangene in türkischen Gefängnissen, 122 an der Schwelle zum Tod

Nach einer Untersuchung des Menschenrechtsvereins der Türkei IHD in Amed (Diayarbakir) sind in türkischen Gefängnissen derzeit 411 kranke Gefangene inhaftiert, darunter 230 Schwerstkranke. 122 von ihnen befänden sich an der Schwelle zum Tod, 108 benötigten dringende medizinische Behandlung außerhalb des Gefängnisses, 115 werde die notwendige Behandlung verweigert. (Der IHD unterscheidet generell nicht zwischen sogenannten »sozialen« und politischen Gefangenen, die Rechtskommission der BDP gibt die Anzahl der kranken politischen Gefangenen mit 130 an. Aufgelistet wird jedoch nicht, welcher Organisation sie angehören.) Obwohl eine Haftentlassung dieser Gefangenen gesetzlich vorgeschrieben ist, werde sie von den Justizbehörden in den meisten Fällen verweigert.

In einem gemeinsam mit der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV), der AnwältInnenkammer und der ÄrztInnenkammer von Amed (Diyarbakir) recherchierten Bericht vom Januar 2013 werden neben Namen und Haftorten der Gefangenen auch die jeweiligen Krankheitsbilder detailliert aufgeführt.1 Sie reichen von chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Asthma, Gelenkerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen wie Epilepsie, Lähmungen, dem meist hungerstreikbedingten Wernicke-Korsakow-Syndrom, Demenz, Psychosen, Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, Infektionskrankheiten wie Hepatitis (die stets eine Isolierung der Gefangenen zur Folge haben) bis hin zu Krebserkrankungen und anderen Erkrankungen, die nicht heilbar sind (wie die schwere neurologische Erkrankung ALS) oder, wenn sie nicht adäquat behandelt werden, zum Tode führen. Vielfach wird den kranken Gefangenen seitens der Gefängnisleitungen eine Behandlung verweigert, indem die benötigten Medikamente wie Insulin nicht ausgehändigt oder notwendige Untersuchungen und Behandlungen in Krankenhäusern außerhalb der Gefängnisse nicht genehmigt werden. Vielen der betroffenen Gefangenen wurde mehrfach ärztlich bescheinigt, dass eine Haftentlassung aus medizinischer Sicht dringend notwendig sei, die Justizbehörden sind diesen Empfehlungen nicht gefolgt, obwohl dies das bisher geltende Recht vorschreibt.

Todesstrafe abgeschafft? Über 900 Gefangene starben in den letzten 10 Jahren

Infolge dessen sind in den letzten 10 Jahren über 900 Gefangene in der Haft oder kurz nach ihrer Haftentlassung gestorben. Oft werden sterbende Gefangene nur wenige Tage oder Stunden vor ihrem Tod entlassen, was den Verdacht nahelegt, dass es den Gefängnisbehörden lediglich darum geht, diese Sterbefälle nicht in ihrer Statistik aufführen zu müssen. Der IHD-Vorsitzende von Adana forderte im April 2012 die sofortige Freilassung der haftunfähigen Gefangenen und erklärte hierzu: »Wir fordern keine Amnestie. Wir fordern die Anwendung des Gesetzes. Lebensbedrohlich erkrankte Gefangene sollten ihre letzten Lebenstage mit ihren Familien verbringen können.«
Offiziell wurde 2002 die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft, 2004 die Folter unter Strafe gestellt. Bedenkt man aber allein die Zahl von 900 toten Gefangenen in den letzten 10 Jahren, kann man zu dem Schluss kommen, dass beide nach wie vor – auch mit Beteiligung von ÄrztInnen – systematisch praktiziert werden.

Wird sich die Situation mit dem neuen Strafvollzugsgesetz verbessern?

Vor kurzem legte der türkische Justizminister ein neues Strafvollzugsgesetz vor, in dem es heißt: »Wenn aufgrund einer schweren Behinderung oder Krankheit das Leben des Gefangenen durch die Inhaftierung bedroht ist, kann die Haftstrafe ausgesetzt werden, soweit festgestellt wird, dass der Gefangene keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.« Angesichts der Tatsache, dass in der Türkei selbst steinewerfende Kinder als TerroristInnen inhaftiert werden, könnten sich mit dem neuen Gesetz die Chancen schwerkranker politischer Gefangener auf Haftverschonung also sogar verschlechtern. Denn: Wer gefährdet die öffentliche Sicherheit, wenn nicht »TerroristInnen«? Neben einer Mentalitätsänderung bei den Verantwortlichen aus Politik und Justiz ist auch eine Änderung der türkischen Antiterrorgesetze nötig. Allen Hoffnungen zum Trotz leistet dies auch das 4. Justizreformpaket nicht. Justizminister Sadullah Ergin bekräftigte, dass die Reform keinerlei Auswirkungen auf die KCK-Verfahren haben werde, die KCK-Gefangenen also nicht von ihr profitieren werden.
Das neue Vollzugsgesetz schreibt auch vor, dass eine abschließende Beurteilung der Haftfähigkeit eines Gefangenen durch GerichtsärztInnen vorgenommen wird. Der IHD hält dies für fragwürdig und äußerte, dass die Gerichtsmedizin ihre Unabhängigkeit verloren habe. Die Gutachten der vom Justizministerium bestimmten Gesundheitsausschüsse müssten als Entscheidungsgrundlage genügen.

Zweifelhafte Rolle der GerichtsmedizinerInnen wird gestärkt

Nicht nur wegen der Beteiligung türkischer GefängnisärztInnen an der Folterung von Gefangenen (besonders in den 1980er- und 1990er Jahren) bestehen große Zweifel an deren Unparteilichkeit. Erkrankte Gefangene können in der Haft oft nicht adäquat behandelt werden. Trotzdem verweigern die Justizbehörden mit Rückendeckung von GerichtsmedizinerInnen eine notwendige Krankenhausbehandlung. GerichtsmedizinerInnen schicken Todkranke zurück ins Gefängnis und behaupten, dass Gefangene eine Behandlung verweigern würden. So auch im Falle des 75-jährigen Mahmut Karatas, der im April 2012 – bereits vollständig erblindet – im Gefängnis von Cewlig (Bingöl) in ein diabetisches Koma fiel und verstarb.

Politische Willkür auch in der Frage der Haftverschonung

Die türkische Justiz hält sich auch in der Frage der Haftverschonung kranker Gefangener nicht an bestehende Gesetze, sondern wendet sie willkürlich an. Weil es politisch opportun erschien, die durch die AKP-Politik vergrätzten Militärs wieder freundlich zu stimmen, verfügte ein Istanbuler Gericht im Februar die Haftverschonung des schwer herzkranken Ex-Generals Ergin Saygun, der letztes Jahr im sogenannten »Sledgehammer«-Verfahren wegen angeblicher Putschvorbereitung zu 18 Jahren Haft verurteilt worden war.

Am Beispiel der BDP-Politiker Sahabettin Yücel und Recep Karagül

Ganz anders behandelt die türkische Justiz Gefangene aus den Reihen der linken, kurdischen Opposition. Als Beispiele seien die BDP-Politiker Sahabettin Yücel und Recep Karagül genannt:
Der 59-jährige Sahabettin Yücel starb im Februar 2013 sieben Monate nach seiner Verhaftung wegen vermeintlicher KCK-Mitgliedschaft in der Haft an Lungenkrebs. Während der Behandlung war Sahabettin Yücel mit Handschellen gefesselt und die Verantwortlichen des Krankenhauses ließen von dieser unmenschlichen Praxis auch nach Intervention von Menschenrechtsorganisationen nicht ab. Trotz fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung wurde eine Haftentlassung von den Justizbehörden abgelehnt.
Recep Karagül, der im Oktober 2011 verhaftete BDP-Vorsitzende von Ümraniye, ist schwer herzkrank. Der 51-jährige Politiker wurde nach seiner Verhaftung vier Mal ins Krankenhaus eingeliefert und musste sich im April 2012 erneut einer Bypass-Operation unterziehen. Obwohl sich der Gesundheitszustand von Recep Karagül stetig verschlechtert, haben GerichtsmedizinerInnen ihn für haftfähig erklärt. Am 5. Februar 2013 erlitt Recep Karagül im Gefängnis einen schweren Herzinfarkt. Sein Zustand wird als äußerst kritisch bezeichnet. Alle Anträge auf Haftentlassung wurden von den türkischen Behörden mit Hinweis auf die »Schwere der Schuld« abgelehnt.

Freilassung kranker Gefangener muss ein erster Schritt des Staates sein

Mit dem Hinweis auf die Morde und Folterungen im berüchtigten Gefängnis von Amed (Diyarbakir) in den Jahren nach dem Militärputsch von 1980 und in den 90er Jahren erklärte die BDP-Politikerin Meral Danis Bestas für die Menschenrechtskommission ihrer Partei: »Die Schmerzen, die Erinnerungen und die Wut des kurdischen Volkes sind noch frisch. Wenn es um die politischen Entwicklungen in unserem Land geht, sind die Gefängnisse deswegen genau die Orte, die wir besonders beobachten.«
Der IHD-Vorsitzende Öztürk Türkdogan, Mitglied der Anfang April einberufenen »Kommission der Weisen«, fürchtet, dass die anhaltenden Festnahmen kurdischer AktivistInnen und die Angriffe des Militärs den Dialog-Prozess gefährden könnten. Wenn der Staat die kurdische Bevölkerung von seiner Ernsthaftigkeit überzeugen wolle, müsse er als Erstes die kranken Gefangenen freilassen.

1) http://demokratiehintergittern.blogsport.de/2013/04/15/122-gefangene-an-der-schwelle-zum-tod/#more-219

Kurdistan Report Nr. 167 Mai/Juni 2013

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