“Falls der Prozess einbricht, wird dies niemals von Herrn Öcalan ausgehen”

öcalan_demirtas_buldanInterview mit Pervin Buldan (HDP), 05.11.2014

Pervin Buldan ist stellvertretende Kovorsitzende der Fraktion der Partei der Demokratischen Völker HDP im türkischen Parlament. Sie ist Mitglied der HDP-Delegation, die seit Frühjahr 2013 den inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imraliim Rahmen des Lösungsprozesses zwischen der kurdischen Bewegung und dem türkischen Staat besucht. Die Gespräche befinden sich in einer Sackgasse, da die AKP-Regierung auf Zeit spielt und keine konkreten Schritten macht. Im Interview mit der kurdischen Nachrichtenagentur ANF, das Ruken Adali mit Pervin Buldan führte, erklärte sie den letzten Stand der Gespräche.

Hat ihre Delegation nach dem Besuch bei Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali mit der Regierung der Türkei ein Gespräch geführt?

Es hat weder mit einer staatlichen noch einer Regierungsstelle ein Gespräch stattgefunden. Ich kann sagen, dass nach unserem letzten Besuch bei Herrn Öcalan [Der letzte Besuch bei Herrn Öcalans hat am 21. Oktober 2014 stattgefunden] und den Vorfällen am 6. und 7. Oktober und den folgenden polemischen Debatten die Gespräche beendet wurden.

Sie beziehen die Imrali-Gespräche mit ein, ist das richtig?

Ja, das tue ich. Bevor wir auf die Insel fahren, sprechen wir normalerweise sowohl mit der Staats- als auch mit der Regierungsdelegation. Diese Gespräche haben nach unserem letzten Besuch bei Herrn Öcalan noch immer nicht stattgefunden; es wurde polemisiert. Wir müssen eigentlich immer vor dem Besuch auf Imrali mit einer der Delegationen sprechen. Aber dieses Mal hat bisher kein Gespräch stattgefunden.

Wir bewerten Sie es, dass diese Gespräche noch nicht stattgefunden haben? Uns erscheinen diese Entwicklungen als außergewöhnlich. Was passiert nun Ihrer Meinung nach?

Das ist richtig, dass wir eine außergewöhnliche Phase erleben. Die Erklärungen der Regierung zu ihrer Außenpolitik sowie ihre Haltung vor und nach den aktuellen Vorfällen am 6. und 7. Oktober wegen Kobanê und die dortige spätere Entwicklung hat die Regierung beunruhigt. Es hat sie beunruhigt, dass sich die Bevölkerung für Kobanê eingesetzt hat und die Stadt nicht eingenommen worden ist. Daraufhin hat sie die HDP zur Zielscheibe erklärt und Erklärungen abgegeben, die eine regelrechte Lynchkampagne eingeleitet hat. Wir können schon sagen, dass in der Haltung der Regierung ein wirklich erkennbarer Wechsel stattgefunden hat.

Was sehen Sie als Wechsel an?

Ich möchte es folgenderweise zusammenfassen: Die Forderungen waren, die Bedingungen für Herrn Öcalan auf Imrali so schnell wie möglich zu ändern und so bald als möglich in eine Verhandlungsphase zu treten. Bisher, seit nahezu eineinhalb Jahren, fand eine Phase des Dialogs statt, die mittlerweile beendet ist und folglich zu Verhandlungen übergegangen werden müsste. Es gab diese und einige andere Forderungen. Eine der Forderungen war die von Herrn Öcalan zur Schaffung eines Sekretariates. Wir haben die Forderung von Herrn Öcalan zur Schaffung eines Sekretariates der Öffentlichkeit mitgeteilt. Wir hatten auch Forderungen nach einer Kontrollkommission, einem dritten Beobachter oder einer Schiedsdelegation, die eingeschaltet werden soll, weitergegeben. Zugleich haben wir die Vergrößerung der Verhandlungskommission gefordert. Nachdem wir dieses mit Hilfe der Presse der Öffentlichkeit mitgeteilt haben, haben Regierungsvertreter mit ihren negativen Erklärungen hierzu signalisiert, dass der Prozess eigentlich aufgehoben sei. Folglich erkennen wir sowohl an den Erklärungen der Regierung, als auch durch die aktuelle Lage, dass die Regierung den Prozess aufgehoben hat und weiter polemisiert. Wir alle tragen die Folgen dessen gemeinsam. Der Angriff auf unser Fraktionsmitglied Ahmet Karatas ist eine Folge dessen. Die Sprache, die Art und die Methoden, die die Regierung nutzt, sind nicht richtig. Aus diesem Grund betrachte ich es als zweckmäßig, festzustellen, dass der Prozess derzeit aufgehoben worden ist. Wir wissen jedoch nicht, wann dieser wieder aufgenommen werden wird.

Von Seiten der Regierung wurde der Prozess aufgehoben. Ist Ihre Delegation dafür weiterzumachen?

Wir, die Verhandlungskommission der HDP, haben von Beginn an stets unterstrichen, dass der Prozess weitergeführt werden muss und Verhandlungen eingeleitet werden müssen. Dazu stehen wir auch heute, denn wir sehen, wie sehr dieses Land den gesellschaftlichen Frieden braucht.

Sie kommentieren, dass sich die Haltung der Regierung nach den Aktionen für Kobanê geändert hat. Sind diese wirklich der Auslöser dafür?

Es geht eigentlich nicht nur um Kobanê. Leider können wir nicht davon sprechen, dass die Regierung dem Friedensprojekt selbstredend beigetreten ist. Denn ich möchte betonen, dass von Anfang an in dieser Hinsicht keinerlei Entwicklungen stattgefunden haben und keinerlei konkrete, praktische Schritte getan worden sind. An sich waren seit Beginn dieses Prozesses Kräfte am Werk, die diesen Prozess sabotieren wollten. Auch heute sind sie am Werk. Wir haben von Beginn an gesagt, dass die Voraussetzungen für Herrn Öcalan auf Imrali geändert werden müssen, dass die Kommunikationswege für ihn offen sein müssen, dass nicht nur wir als politische Kommission, sondern zeitgleich auch andere, auf die Insel fahrenden Kommissionen, geschaffen werden müssen und dass dringend ein dritter Beobachter oder eine Beobachterkommission zusammengestellt werden muss. Wären von Anfang an diese Punkte umgesetzt worden, dann ständen wir heute an einem ganz anderen Punkt. Folglich hat die Regierung ständig auf Zeit gespielt und Zeit zu gewinnen versucht. Seitdem der Prozess eingeleitet worden ist, hat es zwei Wahlen gegeben und wir nähern uns der dritten. Daher denke ich nicht, dass die Regierung diese Wahlen ebenfalls so leicht schaffen wird.

Der Regierung bleibt nur noch ein Rettungshalm, und das ist der Lösungsprozess. Wenn sie in diesem Punkt eine eindeutige Haltung einnehmen würde und greifbare bzw. praktische Schritte täte, dann bin ich mir sicher, dass sich der Prozess sehr schnell in einen Friedensprozess wandelt. Alles was die Regierung in diesen eineinhalb Jahren geschafft hat, ist das Rahmengesetz, welches verabschiedet worden ist. Man kann sagen, dass wir nun an diesem Punkt angekommen sind, weil keine weiteren praktischen Schritte getan worden sind.

Ist die Forderung eines Sekretariats bei Gesprächen zwischen Öcalan und dem Staat bzw. zwischen Ihnen und Staat oder Regierung auf der Tagesordnung gewesen?

Bei unseren letzten Gesprächen mit einer staatlichen Delegation wurde der Punkt eines Sekretariats benannt. Von der staatlichen Delegation hatten wir in dieser Hinsicht positive Signale erhalten. Aber als dann andere Probleme in den Vordergrund rückten, wurde die zur Ausrede.

Sie führen mit der staatlichen Delegation Gespräche und sagen, dass Sie beispielsweise am Punkt Sekretariat „positive Signale“ erhalten haben. Was ist nun das Problem?

Wir wissen, dass es zwischen der staatlichen Delegation und Herrn Öcalan rege Gespräche gibt. Ich möchte betonen, dass es zwischen der Delegation und Herrn Öcalan keinerlei Missstimmung gibt. Aber die eigentliche politische Macht ist die Regierung. Daher nehme ich an, dass zwischen der Regierung und dem Staat Unstimmigkeiten vorhanden sind. Von einer Roadmap haben wir auch von der staatlichen Delegation erfahren. Bei Gesprächen mit Regierungsverantwortlichen haben wir keinerlei Informationen bekommen oder wurden keinerlei Dinge vorgelegt. Ich erkenne daraus, dass zwischen der staatlichen Delegation und der Regierung in einigen Punkten Uneinigkeit besteht. Zwischen unseren Gesprächen mit der Staatsdelegation und denen mit der Regierung liegt eine große Kluft. Infolgedessen meine ich, dass diese Kluft nicht durch uns oder Herrn Öcalan begründet wird, sondern eine Uneinigkeit zwischen Staat und Regierung ist.

Denken Sie, dass die Regierung in naher Zukunft im Punkt Sekretariat einen Schritt tun wird?

Mit den derzeitigen Erklärungen wird uns dies nicht signalisiert. Wir werden aber noch heute abwarten. Denn vorgestern gab es eine Kabinettssitzung. Falls wir keinerlei Signale erhalten, dann werden wir als Kommission oder als Partei dieses Thema erneut auf unserer Tagesordnung setzten. Eventuell wird daraufhin die Notwendigkeit einer Presseerklärung deutlich. An sich hätten wir schon lange erneut zur Insel fahren müssen. Bei unserer letzten Versammlung haben wir signalisiert bekommen, dass diese Phase in einer Woche beginnen wird. Seitdem sind 10 Tage vergangen. Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute die vergeht, arbeitet gegen uns. Die Angriffe verstärken sich. Darum denken wir, dass die Regierung dies alles bedenken muss. Wir fordern es eindringlich, doch von der Regierung gibt es kein einziges Zeichen, dass ein Sekretariat geschaffen wird. Wir unterstreichen, dass dies Voraussetzung für den Beginn der Verhandlungsgespräche ist.

Wie lange, nehmen Sie an, wird Abdullah Öcalan bei diesen Voraussetzungen am Prozess festhalten? Ist er auch schon an seiner Grenze? Was sind Ihre Beobachtungen in dieser Hinsicht?

Ich sage klipp und klar: Wir haben am Anfang des Prozesses die Tötung von Sakine erlebt. Als Bewegung sind wir damals sehr ins Wanken gekommen. Wir haben am Anfang des Prozesses drei Freundinnen verloren. Es war ein verachtenswertes Massaker. Trotz dessen ist der Prozess weitergeführt worden. Ich denke, dass Herr Öcalan sogar den kleinsten Lichtstrahl abschätzen kann. Ich weiß, dass er sehr entschieden ist, diesen Prozess weiterzuführen. Aber ich möchte noch einmal dringend unterstreichen, dass die Regierung auch eine dementsprechende Haltung einnehmen muss. Herr Öcalan ist sehr entschieden, sehr willensstark. Nicht nur die Türkei, sondern auch der Mittlere Osten werden neu geformt und es ist kein Weg oder keine Methode, die Kurden und Kurdinnen innerhalb dieser Gestaltung zu verleugnen. Herr Öcalan analysiert, indem er all dies mit Weitblick betrachtet. Ich hoffe, dass die Regierung in dieser Hinsicht Herrn Öcalan gut versteht und seine Aussagen gut interpretiert. Falls der Prozess einbricht, wird dies niemals von Herrn Öcalan ausgehen.

Es gibt u.a. auch Kommentare, dass die Regierung den Prozess beenden möchte, aber die Verantwortung dafür nicht übernehmen möchte. Daher versuche sie die HDP und die kurdische Bewegung zu provozieren, damit die kurdische Seite das „Ende“ erklärt. Stimmen Sie diesen Kommentaren zu?

So sehr die Regierung auch sagt: „Wir werden den Prozess fortführen“, zeigt sie dies in der Praxis nicht. Ich trage die Hoffnung in mir, dass dieser Prozess nicht endet. Ich weiß, dass Herr Öcalan nicht diese Absicht hat. Es hängt vom weiteren Weg der Regierung, ihren Methoden und praktischen Schritten ab. Wir brauchen ein paar Tage. Diese paar Tage sind aus unserer Sicht sehr wichtig. Wir verfolgen die Entwicklungen. Sobald wir Signale zum Gespräch, Signale zur Wiederaufnahme des Prozesses erhalten, werden wir die Gespräche mit der Regierung wieder aufnehmen und auch einen Besuch bei Herrn Öcalan beantragen.

Sie schlagen die Schaffung einer Beobachterkommission vor. Gibt es Schritte in diese Richtung?

Wir haben die Schaffung einer Beobachterkommission schon zu Beginn der Gespräche gefordert. Von dieser Forderung ausgehend ist später die ‚Gruppe der Weisen‘ zusammengestellt worden. Unserer Meinung nach muss es eine Beobachterkommission und nicht die ‚Gruppe der Weisen‘ sein. Denn die Kommission muss tiefer in der Bevölkerung vertreten sein, sie muss den Friedensprozess leiten können und von der Gesellschaft akzeptiert werden. Es müssen Menschen darin vertreten sein, die den Frieden verinnerlicht haben. Es müssen nicht sehr viele sein, eine gemischte Gruppe mit 15 oder 16 Personen. Wir sind uns sicher, dass eine Beobachterkommission mit Intellektuellen, SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, Menschen aus zivilen Organisationen die Vertretung der Bevölkerung sicherstellt und in diesem Prozess einen sehr großen Anteil beitragen kann. Daher haben wir von unserer Seite aus Vorbereitungen getroffen. Wir sind uns über Personen einig geworden. Die Namensliste haben wir sowohl Herrn Öcalan als auch Kandil vorgelegt. Auch der staatlichen Delegation haben wir ihre Namen mitgeteilt. Wir haben jedoch über die Entwicklung noch keinerlei Hinweise erhalten. Wir weisen die staatlichen Verantwortlichen und die Regierungsverantwortlichen darauf hin, dass so schnell wie möglich die von uns übergebene Namensliste zusammengesetzt werden und die Beobachterkommission so schnell wie möglich geschaffen werden muss. Es müssen Menschen sein, die den Frieden verinnerlicht haben. Es muss eine Delegation sein, die auch in chaotischen Situationen die Worte finden kann, die bei Bedarf sowohl an die Regierung als auch an die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK appellieren kann. Denn die folgende Phase ist weit offener für Provokation als bisher.

ANF, 05.11.2014, ISKU

 

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