Forderung an Bundeskanzlerin Merkel vor ihrem bevorstehenden Türkei-Besuch

hdpOffener Brief von Mahir Tokatli und Rosa Burc (beide PolitikwissenschaftlerInnen an der Universität Bonn) gegen den Erdoğan-Besuch von Bundeskanzlerin Merkel, 14.Oktober 2015

 

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,

wir als deutsche Akademikerinnen und Akademiker mit und ohne Migrationshintergrund, jedoch mit einem besonderen Interesse an einer fortschrittlichen, friedvollen und demokratischen Türkei sind angesichts Ihres bevorstehenden Türkei-Besuchs am kommenden Sonntag besorgt. Es ist uns ein Anliegen Ihnen unsere Sorgen in einem offenen Brief mitzuteilen.

Die Anschläge auf der Friedenskundgebung in Ankara haben nicht nur die Türkei, sondern die gesamte internationale Staatengemeinschaft erschüttert. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir Ihre Entscheidung eines zeitnahen Kondolenzbesuchs in Ankara. In Anbetracht der innenpolitischen Situation in der Türkei empfinden wir jedoch die Wahl der Gesprächspartner als unglücklich und sorgen uns um die potentiellen Inhalte der Gespräche.

Zunächst möchten wir Sie höflichst darauf aufmerksam machen, dass ihr Ansprechpartner für politische Angelegenheiten nicht der auf repräsentative Aufgaben beschränkte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sein kann, sondern ihr türkischer Pendant, nämlich der Regierungschef Ahmet Davutoğlu. Der Staatspräsident ist qua Verfassung zu einer politischen Neutralität verpflichtet – auch Erdoğan. Seit seiner Wahl erlebt die Türkei jedoch einen parteiischen Präsidenten, der sich willkürlich über Verfassungsbestimmungen hinwegsetzt. Es wäre sehr bedauernswert, wenn Sie als deutsche Bundeskanzlerin diese höchstumstrittene Erdoğan‘sche Lesart der türkischen Verfassung legitimierten. Zudem können wir nur hoffen, dass Sie sich nicht dazu hinreißen lassen, dem Staatspräsidenten einen Besuch in seinem Palast abzustatten, dessen illegaler Bau höchstrichterlich bestätigt wurde.

Die Türkische Republik besteht nicht nur aus Regierungsverantwortlichen, sondern auch aus einer bunten und lebendigen Opposition. Ebenjene Opposition war Ziel des verheerenden Anschlags in Ankara. Zu der Friedenskundgebung hatten die Gewerkschaften und Berufsverbände aufgerufen. Dem Aufruf waren neben der HDP und CHP auch zahlreiche demokratische Parteien und Organisationen aus der Türkei gefolgt. Zum jetzigen Zeitpunkt kann niemand die Verantwortlichen benennen, es ist jedoch klar, dass (1) die „Demonstration für Demokratie und Frieden“ gegen die Politik der AKP-Regierung gerichtet war und, dass (2) die türkische Regierung versagt hat, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, was angesichts der sonstigen massiven Sicherheitsvorkehrungen bei AKP-Veranstaltungen Fragen aufwirft. Dementsprechend müssten die Adressaten Ihres Kondolenzbesuchs an erster Stelle die Opfer des Anschlags sein und nicht diejenigen, die es nicht zu verhindern wussten.

Des Weiteren fürchten wir, dass der Besuch die türkische Regierung dazu verleiten könnte, die die EU beschäftigende Flüchtlingsdebatte für ihre eigenen innenpolitischen Zwecke zu instrumentalisieren. Die türkische Regierung wird sich ihrer strategischen Lage bewusst sein, weswegen wir Sie ausdrücklich dazu auffordern, auf die sich verschlechternde Situation der Menschenrechte und die friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes in der Türkei hinzuweisen.

Eine nachhaltige Lösung der Flüchtlingsproblematik kann nur erfolgreich sein, wenn eine politische Lösung des innertürkischen Konflikts mit den Kurden gefunden wird. Vor dem Hintergrund der Aufkündigung des Friedensprozesses seitens der Regierung, wäre es falsch von der Türkei als ein „sicheres Herkunftsland” zu sprechen, insbesondere da in Städten mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, wie es die neuntägige Belagerung der Stadt Cizre auf erschütternde Weise darstellte. Eine politische Lösung der Kurdenfrage würde nicht nur einen erheblichen Demokratisierungseffekt auf die Türkei haben, sondern auch eine Stabilisierung der gesamten Region fördern.

Vor diesem Hintergrund wünschen wir uns eine Bundeskanzlerin, die sich mutig, vehement und kompromisslos in Gesprächen mit der Regierung und der Opposition für die Menschenrechte in der Türkei, für eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses und für die Aufklärung der Anschlagsserie ausspricht. Nachdrücklich appellieren wir diese Punkte nicht als Gegenstand einer wie auch immer gearteten Verhandlungsmasse im Gegenzug zu einer engeren Kooperation der Türkei in der Flüchtlingsfrage aufzugeben. Aufgrund der sich immer zuspitzenden Lage der Türkei, die sich in bürgerkriegsähnliche Zustände entwickeln könnte, erhoffen wir, dass Sie unseren Bedenken bezüglich der Signalwirkung ihres Türkeibesuchs Gehör schenken.