Für Erdogan geht es um Sein oder Nichtsein

Vor dem Hintergrund der Wahlen in der Türkei haben wir mit Roni Serdem gesprochen, dem Sprecher des Komitees für Auswärtige Beziehungen der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans). Das Interview wurde am 8. Mai auf Kurdisch geführt und im Anschluss ins Deutsche übersetzt.

Es sind nur noch wenige Tage bis zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei. Viele sprechen bereits von Schicksalswahlen. Ihre Bewegung hat kurz nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet Anfang Februar zu einer Waffenruhe aufgerufen, der die Guerilla gefolgt ist. Die Waffenruhe wurde später bis zu den Wahlen verlängert. Wie bewerten Sie die Reaktionen auf Ihre Entscheidung? Wie haben die Regierung und die Opposition in der Türkei darauf reagiert? Gab es auch Reaktionen von Seiten internationaler Akteure? Und wie waren die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen?

Der Beschluss unserer Bewegung beinhaltet keinen Waffenstillstand, sondern die Einstellung aller militärischen Angriffe. Am 6. Februar dieses Jahres ereignete sich in den Regionen Maraş-Pazarcık und Elbistan ein sehr schweres Erdbeben. Bis zu elf Provinzen waren direkt betroffen und die Lage war äußerst kritisch. Das Erdbeben traf auch den Westen Syriens. In dieser Region, in der hauptsächlich Kurd:innen, Araber:innen und Türk:innen leben, waren ca. 20 Millionen Menschen direkt von dem Erdbeben betroffen. Entgegen den offiziellen Angaben wird von mehr als hunderttausend Toten gesprochen. Weitere Hunderttausende wurden zum Teil schwer verletzt. Das Leben von Millionen Menschen war und ist von diesem Erdbeben beeinflusst. Unsere Bewegung war sich des Ernstes der Lage bewusst. Um es unserem Volk und unserer Gesellschaft zu erleichtern, Hilfe zu erhalten und ihre eigenen Wunden zu heilen, d.h. um die zivile Hilfe und die demokratische Politik zu unterstützen, hat unsere Bewegung folgende Entscheidung getroffen: Solange wir nicht angegriffen werden, werden wir keine eigenen Angriffe durchführen.

Die Menschen in der Türkei wollen endlich Veränderung

Außerdem standen die Wahlen vor der Tür. Im Rahmen des Wahlkampfes wurde deutlich, dass alle Völker der Türkei eine enorme Wut gegen die AKP/MHP-Regierung entwickelt haben. Sie wollen, dass diese Regierung endlich abtritt. Die Menschen in der Türkei wollen endlich Veränderung. Aber die AKP/MHP-Regierung hat diesen Wunsch nach Veränderung einfach ignoriert und sich taub gestellt. Sie hat sogar versucht, durch Provokationen solche Veränderungen zu verhindern, um ihre eigene Macht zu sichern. Um diesen dringend notwendigen Wandel zu ermöglichen und keine Voraussetzungen für etwaige Provokationen zu schaffen, hat unsere Bewegung kurz darauf ihren Beschluss zur Einstellung aller Angriffe bis zu den Wahlen verlängert.

Wie Sie selbst gesehen haben, hat unsere Entscheidung, alle Angriffe einzustellen, nicht zu einer gegenseitigen Einstellung der Feindseligkeiten geführt. Der AKP/MHP-Faschismus hat vielmehr versucht, aus den Folgen des Erdbebens wirtschaftlichen und politischen Profit zu schlagen und die Hilfe für die betroffene Bevölkerung zu behindern. Im Erdbebengebiet wurde der Ausnahmezustand ausgerufen und die AKP/MHP versuchte, alles unter ihre Kontrolle zu bringen. Durch die Unterbindung aller Aktivitäten, die der AKP und der MHP nicht dienlich waren, wurde praktisch eine „No-Go-Area” geschaffen. Dies führte letztlich dazu, dass sich die Folgen des Erdbebens deutlich verschlimmerten. Noch während zehntausende Menschen unter den Trümmern lagen, setzte der kolonialistische türkische Besatzerstaat seine Militäroperationen fort und leitete sogar neue ein.

Schon bald wurde heftige Kritik daran laut, dass die faschistische türkische Armee mit ihren Hunderttausenden Soldaten unmittelbar nach dem Erdbeben keinerlei Hilfe in die betroffenen Gebiete schickte. Verteidigungsminister Hulusi Akar, ein regelrechter Feind der Kurd:innen, antwortete auf diese Kritik mit folgenden Worten: „Wir hätten die Armee schlichtweg nicht in die Erdbebengebiete schicken können. Denn entlang unserer Grenzen und auch außerhalb unserer Grenzen gehen unsere Operationen weiter. Wir können diese Operationen nicht stoppen.“ Während also die Menschen im Erdbebengebiet immer noch keine Zelte, Wasser etc. erhalten hatten, tauchten die für sie gesammelten Hilfslieferungen in den [südkurdischen/nordirakischen] Operationsgebieten Zap, Avaşîn und Metîna auf. Unsere Guerillaeinheiten haben Videos veröffentlicht, die dies beweisen.

Keine Reaktion der internationalen Mächte

Zweifellos hat unsere Entscheidung, alle Angriffe einzustellen, die Hilfe für die Erdbebenopfer erleichtert. Entsprechend positiv wurde der Beschluss in der Öffentlichkeit aufgenommen. Auch in den internationalen Medien fand die Entscheidung ein gewisses Echo und wurde wohlwollend aufgenommen. Die internationalen politischen Mächte zeigten jedoch kein vergleichbares Interesse. Selbst diejenigen, die unsere Bewegung in der Vergangenheit immer wieder zu einem Waffenstillstand aufgefordert hatten, zeigten keinerlei Unterstützung für unsere Entscheidung. Von ihnen gab es weder positive noch negative Reaktionen oder Erklärungen. Der Druck des AKP/MHP-Faschismus war so groß, dass die Opposition und andere Kräfte Angst hatten, zu unserer Entscheidung Stellung zu nehmen oder sie auch nur zu erwähnen. Ein gewisser Teil der Opposition bzw. dieser Kräfte denkt in Bezug auf die Kurd:innen ohnehin nicht sehr anders als die aktuelle Regierung. Anstatt wohlwollend zu reagieren, betrachtet die faschistische AKP/MHP-Regierung unsere Entscheidung als Ausdruck von Schwäche und setzt deshalb ihre Angriffe unvermindert fort. Aus den täglichen Berichten der HPG geht hervor, dass die faschistische AKP/MHP-Regierung ihre Angriffe nicht für einen Moment gestoppt hat. Die Kämpfe gehen also weiter. Die jüngsten Angriffe auf Şengal und Rojava zeigen, dass die Aggressivität sogar zugenommen hat. Obwohl Vertreter:innen unserer Bewegung die entsprechenden Kreise gewarnt und zu einer verantwortungsvolleren Haltung aufgerufen hat, sind die Angriffe der faschistischen AKP/MHP-Regierung auf militärischem, politischem und gesellschaftlichem Gebiet nicht zurückgegangen. Im Gegenteil, die Angriffe sind heute stärker als vor unserer Entscheidung. Jeden Tag gibt es Angriffe und Kämpfe. Während des Wahlkampfes haben zahlreiche Festnahmen von Journalist:innen, Jurist:innen, Politiker:innen und Künstler:innen und Angriffe auf Parlamentskandidat:innen stattgefunden. All dies deutet darauf hin, dass die faschistische AKP/MHP-Regierung diese Konflikte weiter verschärfen wird, unabhängig davon, ob sie die Wahlen gewinnt oder verliert.

Die PKK tritt für eine Lösung ein

AKP und MHP setzen darauf, die Folgen des Erdbebens für ihren Machterhalt zu nutzen. Die jüngsten Entwicklungen haben jedoch dazu geführt, dass die Kritik am AKP/MHP-Faschismus im In- und Ausland noch lauter geworden ist. Dadurch ist die AKP/MHP politisch nicht stärker, sondern deutlich schwächer geworden. Die Gesellschaft hinterfragt heute die Rolle und Aufgaben aller staatlichen Institutionen, insbesondere der Armee. Die Präsenz der türkischen Armee, die eigentlich dem Volk dienen sollte, in Syrien und im Irak wird heute offen diskutiert. Vielen Menschen ist klar geworden, wie überlebenswichtig die dezentrale, lokale Selbstorganisation der Gesellschaft ist. Die Menschen haben verstanden, dass nicht die PKK ein Hindernis für Demokratie, Gerechtigkeit, Recht und Völkerfreundschaft ist, sondern die antidemokratischen und antisozialen Staatsstrukturen, allen voran der AKP/MHP-Faschismus. Die Völker der Türkei verstehen nun besser, wer für Frieden und die Lösung der bestehenden Probleme eintritt und wer für Krieg, Unterdrückung und Terror steht. Deshalb versucht der AKP/MHP-Faschismus seit geraumer Zeit, Chaos zu stiften und damit den Weg für Unterdrückung und Wahlbetrug zu ebnen. Eine Wahlniederlage Erdogans würde nicht nur zu einer juristischen Verurteilung führen. Für Erdogan geht es bei diesen Wahlen um Sein oder Nichtsein.

Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als wolle Erdogan unbedingt noch vor den Wahlen einen Krieg gegen Rojava beginnen. Das scheint momentan vom Tisch zu sein. Warum hat Erdogan diesen Plan zurückgestellt? Hat sich der Krieg in Kurdistan nach Ihrer Entscheidung zur Einstellung der militanten Aktionen verändert?

Die AKP/MHP-Koalition wurde ins Leben gerufen und mit den Regierungsgeschäften betraut, um den Völkermord an den Kurd:innen zum Abschluss zu bringen. Um vor den Wahlen den Nationalismus zu schüren und so die Unterstützung der Gesellschaft zu gewinnen, wollten AKP und MHP ursprünglich neue Besatzungsangriffe starten. Es ist bekannt, dass die Regierung dies für absolut notwendig hielt. Ziel war es, sowohl die Revolution in Rojava zu zerschlagen als auch die türkische Innenpolitik zu kanalisieren. Es ging nicht nur um die Besetzung Rojavas, sondern um die Zerschlagung der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens und die vollständige Vertreibung der Kurd:innen aus ihrer dortigen Heimat.

Die NATO und Russland sollten Unterstützung leisten

Der AKP/MHP-Faschismus begann am 14. April 2022 mit einem massiven Angriff auf unsere Kräfte in den Medya-Verteidigungsgebieten [Südkurdistan/Nordirak], d.h. in den Regionen Zap, Avaşîn und Metîna. Durch die Besetzung dieser Gebiete sollte die Guerilla zerschlagen werden. Das Ziel war also die Vernichtung unserer Freiheitsbewegung. Nach einem schnellen Erfolg in diesen Gebieten sollten dann sofort Angriffe auf Rojava erfolgen. Damit wollte sich die AKP/MHP-Koalition als Triumphator darstellen und so ihre Macht sichern. Der Plan der AKP/MHP war folgender: Die NATO und Russland sollten Unterstützung leisten und die PDK [Demokratische Partei Kurdistans] so weit wie möglich für die eigenen Ziele instrumentalisiert werden. Auf dieser Grundlage sollten schwere Angriffe im In- und Ausland durchgeführt werden, die die PKK zerschlagen oder zumindest stark schwächen sollten. Die PKK wäre dann keine Alternative mehr. Auf dieser Grundlage würde die AKP/MHP gegen den „Sechsertisch” der Opposition siegen und sich an der Macht halten können. Lange Zeit verfolgte die AKP/MHP-Koalition tatsächlich diesen Plan, sie führte schwere Angriffe durch und hoffte auf Erfolg. Doch heute wissen wir alle, dass dieser Plan in der Zap-Region gescheitert ist.

Zum anderen wollte die AKP/MHP-Regierung auch die aktuelle politische Konjunktur nutzen. Insbesondere die im Zuge des Ukraine-Krieges verstärkten Beziehungen zu Russland sollten dem Völkermord an den Kurd:innen dienen. Das gilt bis heute. Doch weil der kolonialistische türkische Staat mit seiner Bereitschaft zum Völkermord keine politische Unterstützung fand, wurden die Pläne für Rojava vorerst zurückgestellt. Hätten sie die notwendige Unterstützung für ihre Absichten erhalten, wäre es dort sicherlich zu massiven Angriffen mit dem Ziel der Vertreibung, Zerstörung und schließlich Besetzung gekommen.

Beziehungen zwischen Russland, Türkei, Iran und Syrien

Die Türkei hat in Syrien interveniert, um das Assad-Regime zu stürzen und zugleich zu verhindern, dass die Kurd:innen dort an Einfluss gewinnen. Dafür hat sie islamistische Stellvertreterkräfte aufgebaut. Doch nun hat die Türkei erkannt, dass sie keine ihr nahestehende Regierung anstelle des Assad-Regimes installieren kann. Gleichzeitig lehnt Syrien eine Einigung mit der Türkei ab, solange diese ihre Besetzung nicht beendet. Dabei nutzt das Assad-Regime die Existenz der Autonomen Verwaltung in Nord- und Ostsyrien als Trumpf in den Verhandlungen mit der Türkei. Die Botschaft Syriens an die Türkei lautet derzeit: „Beende deine Okkupation. Dann können wir das Thema gemeinsam angehen.“ Doch so schnell will der türkische Staat seine Beziehungen zu den islamistischen Stellvertreterkräften nicht aufgeben.

Ein weiterer Aspekt, der in der Region sehr aufmerksam verfolgt wird, sind die Beziehungen zwischen Russland, der Türkei, dem Iran und Syrien. Es ist offensichtlich, dass diese Beziehungen einen direkten Einfluss auf unseren Freiheitskampf und Rojava haben. Sowohl Russland als auch der Iran und Syrien wollen ein Ende der türkischen Besatzung in Teilen Syriens. Rojava zum Verhandlungsgegenstand und Druckmittel zu machen, sehen sie als wirksamstes Mittel gegen die Türkei. Die Türkei ihrerseits macht die Zerschlagung der Revolution in Rojava zur Bedingung für ihren Rückzug aus Syrien.

Die USA und die NATO

Weil die USA und die internationale Koalition Syrien als Druckmittel gegen die Türkei einsetzen wollen, lehnen sie ein Übereinkommen zwischen den beiden Ländern ab. Die Zustimmung der USA zur türkischen Besatzung in Syrien ist das Ergebnis genau dieser politischen Haltung. Auch die NATO-Mitgliedschaft der Türkei beeinflusst diese Beziehungen und Politik. All diese Faktoren erschweren eine Einigung der unterschiedlichen Kräfte auf eine gemeinsame Syrienpolitik.

Die Wahrscheinlichkeit neuer Angriffe auf Rojava, die Guerilla und andere Gebiete war hoch. Doch trotz aller Bemühungen ist es der AKP/MHP nicht gelungen, die politischen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Sie wissen, dass sie in den Gebieten der Guerilla keine Ergebnisse erzielen können, die sich für politische Propaganda verwerten lassen. So bleibt ihnen nur der Angriff auf die Kreise, die sich in der Türkei auf das bestehende Recht stützen und nicht über die notwendigen Waffen verfügen, um sich zu verteidigen. Wäre der türkische Staat stark genug, hätte es sicherlich Angriffe auf Rojava und die gesamten Medya-Verteidigungsgebiete gegeben. Die Vorbereitungen dazu waren bereits im Gange. Aber jetzt zeigt sich, dass sie dazu nicht in der Lage waren und deshalb ihre Angriffe auf die zivilen Kreise, die legale Politik betreiben und das kurdische Volk auf verschiedenen Ebenen vertreten, verstärkt haben.

Sowohl die internationalen Mächte als auch die Hegemonialmächte im Nahen Osten sind aus Eigeninteresse bereit, Unterdrückung und Völkermord hinzunehmen. Der genozidale Charakter des türkischen Staates begünstigt jede Form reaktionärer Politik. Und die oben genannten Mächte sind bereit, die Augen davor zu verschließen. Ausgehend von der obigen Analyse können wir sagen, dass die Gefahr von Angriffen auf Rojava und andere Gebiete nicht vollständig gebannt ist.

Erdogan braucht künstliche Erfolge

In der Vergangenheit hat Erdogan Wahlen immer mit dem Versprechen gewonnen, die PKK zu vernichten. Das ist ihm bis heute nicht gelungen. Deshalb braucht Erdogan jetzt künstliche „Erfolge” gegen die PKK. Mit solchen künstlichen Erfolgen will er den Nationalismus in der Türkei stärken und mit dieser Stimmung die Wahlen gewinnen. Aus diesem Grund hat er die Operationen und Angriffe keinen Moment unterbrochen. Unsere Guerilla hält trotz der andauernden Angriffe an der Aussetzung aller offensiven Aktionen fest und antwortet, wenn nötig, auf der Grundlage der legitimen Selbstverteidigung. Da Erdogan nicht in der Lage war, die von ihm gewünschten Ergebnisse und künstlichen Erfolge zu erzielen, entschied er sich für solche hinterhältigen Angriffe wie den jüngsten auf den internationalen Flughafen von Silêmanî [Sulaymaniyah]. Wäre dieser Angriff auf den QSD-Kommandeur Mazlum Kobanê, einen engen Verbündeten der internationalen Koalition im Kampf gegen den IS, erfolgreich gewesen, hätte Erdogan die Stimmen der nationalistischen Kreise erhöhen und damit die Wahlen gewinnen können. Das zeigt uns, dass solche Angriffe bis zu den Wahlen weitergehen werden. In diesem Zusammenhang wird es auch zu weiteren verrückten Aktionen und Provokationen kommen.

Die faschistische AKP/MHP-Regierung verfolgt mit dieser Stimmungsmache gleich mehrere Ziele. Einerseits fürchtet sie sich vor den Wahlergebnissen, andererseits versucht sie eine Atmosphäre der Angst zu schaffen, um den Wahlkampf des Bündnisses für Arbeit und Freiheit und der Grünen Linkspartei zu schwächen. Durch die Schwächung des Bündnisses für Arbeit und Freiheit sowie des kurdischen Bündnisses für Freiheit und Demokratie will die Regierung letztlich alle oppositionellen Kräfte in der Türkei zurückdrängen und sich so den Wahlsieg sichern. Die Festnahme von legal arbeitenden Journalist:innen, Anwält:innen, Politiker:innen, zivilgesellschaftlichen Aktivist:innen, Theaterschauspieler:innen und Künstler:innen so kurz vor den Wahlen ist das Ergebnis der Angst von AKP und MHP.

Aber alle wissen, dass auch Gewalt nicht mehr zu den von der AKP/MHP gewünschten Ergebnissen führen wird. Die grundlegenden Dynamiken des Kampfes für Freiheit und Demokratie sind nach wie vor ungebrochen. Auf der Grundlage dieser Dynamik haben unser Volk und die demokratischen Kräfte in der Türkei heute ihren eigenen Willen. Es ist sehr, sehr schwer, sie zu Zugeständnissen in dieser Hinsicht zu bewegen. Unser Volk und die anderen Kräfte für Freiheit und Demokratie verfügen heute über einen großen Erfahrungsschatz. Die unterschiedlichsten Kreise in der Türkei haben die Realität der AKP/MHP kennengelernt und entsprechende Erfahrungen gemacht.

In Bezug auf Syrien können wir abschließend Folgendes feststellen: Es ist unmöglich, ein neues Syrien zu erschaffen, ohne die Existenz, den politischen Willen, die Selbstverwaltung und die demokratische Autonomieverwaltung der Kurd:innen zu akzeptieren. Ohne eine solche politische Einigung wird es für Syrien sehr schwierig sein, die bestehenden Probleme zu lösen und Stabilität und Stärke zu erlangen.

In den letzten Wochen tauchten immer wieder Meldungen in den Medien auf, dass Vertreter:innen des türkischen Staates Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali besucht hätten. Dabei soll es auch um die Wahlen gegangen sein. An die Öffentlichkeit gelangten aber nur sehr wenige Informationen. Können Sie uns dazu etwas sagen?

Wir müssen ehrlich sagen, dass uns dazu keine näheren Informationen vorliegen. Auch wir haben die jüngsten Medienberichte über den Besuch einer Delegation des türkischen Staates auf Imrali verfolgt. Die Politik der totalen Isolation auf Imrali geht weiter, deshalb gibt es seit 26 Monaten keine konkreten Informationen über den Zustand von Rêber Apo [Abdullah Öcalan]. Seine Anwält:innen und Angehörigen haben dutzende Male Besuchsanträge gestellt, doch unter den einfachsten Vorwänden werden jegliche Treffen mit ihm unterbunden. Öffentlich bekannt wurde lediglich, dass der Bericht über den letzten Besuch des CPT [Antifolterkomitee des Europarats]auf Imrali im September 2022 an die Türkei übergeben wurde. Was genau in diesem Bericht steht, hat das CPT jedoch nicht veröffentlicht. Dabei sagen viele verschiedene Kreise, dass das CPT eigentlich gar keine so schwache Institution ist. Nur in Bezug auf die Isolation und Folter auf Imrali, also in Bezug auf Rêber Apo, verhält sich das CPT so. Das wiederum zeigt deutlich, dass die aktuelle Politik der totalen Isolation auf Imrali von der NATO bestimmt wird.

Darüber hinaus wurde in den letzten Tagen in den Medien berichtet, dass eine AKP-Delegation auf Imrali Rêber Apo getroffen, aber nicht die erhoffte Unterstützung von ihm erhalten habe. Ähnliche Meldungen gab es in der Vergangenheit immer wieder. Diese Berichte sind jedoch praktisch inhaltslos. Sie werden im Rahmen des laufenden Spezialkrieges verbreitet und benutzt. Insbesondere die jüngsten Äußerungen gegen Rêber Apo von angeblich oppositionellen Kreisen haben deren wahres Gesicht enthüllt.

Öcalan kann nicht instrumentalisiert werden

Weder die gegenwärtige Regierung noch die Opposition sind in der Lage, wirkliche Lösungen in der türkischen Politik herbeizuführen. Beide Seiten überziehen sich gegenseitig mit billigen Vorwürfen im Kontext des „Kampfes gegen den Terrorismus”. In diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund des Wahlkampfes wird die Situation von Rêber Apo durch das System des Spezialkrieges negativ auf die politische Agenda gesetzt, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken. Alle reden über Rêber Apo. Aber niemand spricht über wichtige Themen wie die totale Isolation gegen ihn oder das Verbot von Familien- und Anwaltsbesuchen. Die Anwält:innen von Rêber Apo haben als Reaktion darauf zu Recht erklärt, dass Rêber Apo unter keinen Umständen instrumentalisiert werden kann. Aber das Regime des Genozids und die Systemopposition nutzen dieses Thema so gut sie können. Sie nutzen es für ihre eigene Politik. Über das Thema Rêber Apo, PKK und Kurd:innen greifen sie sich gegenseitig an. Damit betreiben sie eine wirklich sehr schmutzige, niederträchtige und unmoralische Propaganda.

Die kurdische Frage und die Situation von Rêber Apo sind die wichtigsten Probleme der Türkei. Es handelt sich also nicht um Themen, die im Rahmen wahlkampftaktischer Überlegungen aufgegriffen und gelöst werden können. Nicht nur die derzeitige Regierung, sondern auch die Opposition, insbesondere bestimmte Kreise innerhalb der CHP, führen immer wieder Diskussionen über diese Themen in einer Sprache, die von wenig Respekt zeugt. Dies ist eine Haltung, die die notwendige Ernsthaftigkeit vermissen lässt und diese Themen banalisiert. Unser Volk und die breite Öffentlichkeit schenken solchen Haltungen keinen Glauben.

Wie bewerten Sie den Wahlkampf und die aktuelle Stimmung in Nordkurdistan? Auch die Grüne Linkspartei, die anstelle der von einem Verbot bedrohten HDP bei den Parlamentswahlen antritt, ist Repressionen ausgesetzt. Kann es der Grünen Linkspartei trotz dieser Angriffe gelingen, ihre Stimmen und Mandate in Nordkurdistan und der Türkei zu vermehren?

Das faschistische AKP/MHP-Regime hat den Völkern Kurdistans und der Türkei, den Frauen, der Jugend, den Arbeiterinnen und Arbeitern und der Natur enormen Schaden und Schmerz zugefügt. Deshalb werden die Wahlen am 14. Mai eine Gelegenheit sein, das Regime dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Noch wichtiger ist, dass mit dem Sturz dieser rassistischen und faschistischen Regierung auch die Völkermordpolitik im Allgemeinen deutliche Risse bekommen wird. Das wird die Basis für den demokratischen Kampf stärken.

Die kurdische Freiheitsbewegung und ihre Guerilla, aber auch unser Volk und die Frauen haben gemeinsam einen intensiven Kampf gegen den AKP/MHP-Faschismus geführt. Damit haben sie ein starkes Hindernis für die Institutionalisierung des Faschismus geschaffen. Dieser Widerstand hat Einfluss auf die Gesellschaft der Türkei. Er spielt eine wichtige Rolle sowohl im Kampf der demokratischen Kräfte der Türkei, der Arbeiter:innen und Umweltaktivist:innen, als auch bei der Beendigung des Faschismus.

Ein Novum in der politischen Geschichte der Türkei

Es ist das erste Mal in der politischen Geschichte der Türkei, dass die revolutionären demokratischen Kräfte unter der Führung der Partei der Grünen Linken als Bündnis für Arbeit und Freiheit an Wahlen teilnehmen. Diese Allianz und Partei stellen die vereinte Front aller demokratischen Kräfte dar, mit der die Sehnsucht der Völker, Frauen, Jugendlichen, Arbeiter:innen, Umweltaktivist:innen und unterdrückten Identitäten nach Freiheit und Demokratie zu einer gemeinsamen demokratisch-politischen Kraft vereint werden. Das Bündnis für Arbeit und Freiheit stellt die breiteste und radikalste antifaschistische Front dar. Die heutige Gesellschaft in der Türkei sehnt sich nach Veränderung, Demokratie und Freiheit. Deshalb ist es sehr wichtig und bedeutsam, dass sich in so kurzer Zeit Frauen, Jugendliche, Alte und Junge, alle unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen und die verschiedenen Religionsgemeinschaften in der Partei der Grünen Linken zusammengefunden haben. In Kurdistan und der Türkei haben sehr aussagekräftige Wahlkampfveranstaltungen stattgefunden. Unter der Führung der Frauen und der Jugend hat sich in der gesamten Gesellschaft eine große Entschlossenheit und Zuversicht entwickelt. Überall treffen die Kandidat:innen der Grünen Linkspartei auf eine Atmosphäre, als wäre der Wahlerfolg bereits erzielt. Und tatsächlich: Die rassistische, nationalistische, religiös-sektiererische und sexistische Staatsmentalität und Politik haben gegen den Freiheitskampf bereits verloren. Noch nie in der Geschichte der Türkei hat es einen so intensiven Kampf zwischen der Mentalität der Verleugnung und Vernichtung und der revolutionär-demokratischen Mentalität gegeben wie heute. Das Ergebnis dieses Kampfes ist, dass das streng zentralistische, faschistische Nationalstaatssystem kurz vor dem Zusammenbruch steht, während die demokratisch-freiheitliche Strömung derzeit einen enormen Aufschwung erfährt. Wir können also definitiv sagen, dass sich die Türkei heute bereits in einer Phase des radikalen Wandels befindet. Wenn es dem Bündnis für Arbeit und Freiheit gelingt, konsequent zu bleiben und einen noch effektiveren Kampf zu führen, wird es einen enormen Beitrag zum Kampf für Demokratie in der Türkei leisten. Die politische Linie des Dritten Weges wird es dann schaffen, zum Motor des Wandels zu werden. Wenn es dem Bündnis für Arbeit und Freiheit gelingt, alle Teile der türkischen Gesellschaft zu erreichen und sich einer Sprache zu bedienen, die die Gesellschaft des Landes wirklich bewegt, ist ihm ein großer Erfolg sicher.

Die neue Regierung wird von der Grünen Linkspartei abhängen

Wer besser arbeitet und kämpft, wird gewinnen. Wir befinden uns in einer solchen Phase. Ein Erfolg der Grünen Linken bei den Parlamentswahlen wird zum Sturz des Faschismus führen, die demokratische Politik stärken und damit Raum für Demokratie und eine demokratische Lösung schaffen. Aus Sicht der Kurd:innen und der demokratischen Kräfte sind die Parlamentswahlen wichtiger als die Präsidentschaftswahlen. Nach den letzten Umfragen werden weder die Nationale Allianz noch die Volksallianz mit einer parlamentarischen Mehrheit aus den Wahlen hervorgehen. Die neue Regierung wird vom Verhalten der Grünen Linkspartei abhängen. Daher wird es von großer Bedeutung sein, wie viele Sitze die Grüne Linkspartei im Parlament gewinnt. Diese Partei besteht nicht nur aus Kurd:innen. Diese stellen zwar den größten Kreis der Unterstützer:innen dar, doch zugleich umfasst sie Kreise aus allen unterdrückten Klassen, Völkern, Glaubensgemeinschaften und Kulturen der Türkei. Auch linke, sozialistische und demokratische Parteien und Einzelpersonen sind Teil der Grünen Linkspartei. Sie könnte 100 oder mehr Sitze im Parlament erringen, wenn es nicht zu einem massiven Wahlbetrug kommt.

Die Grüne Linkspartei unterstützt den Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu (CHP). Das hat sie offiziell verkündet. Gleichzeitig ist mit der IYI-Partei eine rechts-nationalistische Partei ein wichtiger Akteur in dem bestehenden Oppositionsbündnis. Wie kann das aus kurdischer Sicht gut gehen? Sehen Sie im Fall eines Wahlsieges von Kılıçdaroğlu die Chance auf Friedensverhandlungen mit der kurdischen Freiheitsbewegung?

Wir alle wissen, dass die Wahlen am 14. Mai nicht nur die Politik der nächsten Jahre bestimmen werden. Wenn das Wahlergebnis zu einer Entwicklung in Richtung der Freiheit des kurdischen Volkes und der Demokratisierung der Türkei führt, wird dies auch Einfluss auf den gesamten Nahen Osten und den Westen haben. Das heißt, sowohl ein negativer als auch ein positiver Wahlausgang wird die nächsten 100 Jahre der globalen kapitalistischen Moderne beeinflussen. Deshalb sind die bevorstehenden Wahlen von historischer Bedeutung.

Der Türkei eine Chance zum Atmen geben

Erdoğan ist mit dem Versprechen an die Macht gekommen, die kurdische Frage zu lösen. Heute, nach 21 Jahren, ist klar, dass er stattdessen die Genozidpolitik auf die Spitze getrieben hat, wie nie zuvor in der Geschichte der Türkei. Auch alle Vorgängerregierungen waren kurdenfeindlich. Es gibt also nicht wenige in der Geschichte, die ihre Unterschrift unter Massaker an den Kurd:innen gesetzt haben. Aber keiner von ihnen hat diese Kurdenfeindlichkeit so intensiv und umfassend betrieben wie Erdoğan. Deshalb halten wir die Niederlage des Erdoğan-Faschismus für sehr wichtig. Die Völker der Türkei, also die gesamte Gesellschaft des Landes, wünschen sich sehr, dass die faschistische AKP/MHP-Regierung abgelöst wird. Wenn es zu fairen Wahlen kommt, wird genau das mit Sicherheit das Ergebnis sein. Wenn Kılıçdaroğlu die Präsidentschaftswahlen gewinnt und im Parlament die Nationale Allianz und das Bündnis für Arbeit und Freiheit – angeführt von der Grünen Linkspartei – die Mehrheit der Sitze erringen, wird der AKP/MHP-Faschismus ein Ende haben. Wenn also faire Wahlen stattfinden und Tayyip Erdoğan tatsächlich aus der Regierung ausscheidet, wird Kemal Kılıçdaroğlu seine eigene Regierung bilden können. Der Sturz des AKP/MHP-Faschismus und die Regierungsübernahme durch die Opposition wird der Türkei zumindest eine Chance zum Atmen geben. Wir sind davon überzeugt, dass damit auch den Weg für eine Demokratisierung der Türkei und eine demokratische Lösung der bestehenden Probleme geebnet werden kann. Insbesondere werden demokratische Schritte zur Lösung der kurdischen Frage ermöglicht.

Die kurdische Frage ist der Hauptgrund dafür, dass sich die Türkei seit 100 Jahren nicht demokratisieren kann und heute mit schweren sozialen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Problemen konfrontiert ist. Wenn das Bündnis für Arbeit und Freiheit in der Türkei an Einfluss gewinnt, wird es möglich sein, die Restaurationspolitik der Nationalen Allianz zu überwinden. Auf dieser Grundlage wird es auch möglich sein, die Lösung der kurdischen Frage in Angriff zu nehmen und die Türkei zu einer Musterdemokratie im Nahen Osten und in der Welt zu machen. Deshalb hält unsere Bewegung diese Wahlen für sehr wichtig und unterstützt das Bündnis für Arbeit und Freiheit, einschließlich der Grünen Linkspartei.

Der Faschismus endet nicht mit Erdoğan

Gleichzeitig möchten wir mit Nachdruck auf Folgendes hinweisen: Die Zerschlagung des Faschismus in der Türkei wird nicht mit dem Sturz von Tayyip Erdoğan beendet sein. Vielmehr müssen alle Bereiche von faschistischen Elementen und Banden befreit werden. Nur so ist eine wirkliche Befreiung vom Faschismus möglich. Niemand darf daher dem Irrglauben verfallen, dass mit der Regierungsübernahme durch Kemal Kılıçdaroğlu sofort alle Probleme gelöst sind. Ganz im Gegenteil, nach den Wahlen muss der antifaschistische, demokratische Kampf zur Lösung der bestehenden Probleme auf verschiedenen Wegen noch effektiver, organisierter und umfassender weitergeführt werden.

In der EU scheint es, dass sich viele Regierungen einerseits einen Machtwechsel wünschen, weil sie mit Erdoğans Politik in Bezug auf den Ukraine-Krieg und die NATO-Erweiterung nicht einverstanden sind. Andererseits haben sie sich in gewisser Weise an das Ein-Mann-Regime gewöhnt und befürchten, dass die neue Regierung instabiler agieren und damit kein verlässlicher Partner für die westliche Interessenpolitik im Nahen Osten sein könnte. Wie beurteilen Sie die Haltung der europäischen Staaten, insbesondere Deutschlands, im Hinblick auf die Wahlen und die Zeit danach in der Türkei?

Wie ich bereits erwähnt habe, sind die Wahlen am 14. Mai keine gewöhnlichen Wahlen. Das Wahlergebnis wird die nächsten 100 Jahre prägen. Praktisch alle sind sich dieser enormen Bedeutung bewusst und verhalten sich dementsprechend.

Die Türkei hat sich insbesondere in der kurdischen Frage als unfähig erwiesen, eine demokratische Lösung zu finden. Das Land hat extreme Probleme mit seiner eigenen Demokratisierung. Gleichzeitig hat der Faschismus in der Türkei mit der AKP/MHP-Koalition einen Höhepunkt erreicht. Für diese Entwicklung tragen die Länder Europas, insbesondere Deutschland, und die USA eine deutliche Mitverantwortung. Deutschland hat aufgrund seiner historischen Beziehungen zum türkischen Staat und seiner eigenen sicherheitspolitischen Ausrichtung den Druck auf das kurdische Volk nie verringert. Es ist allseits bekannt, dass der türkische Staat die Kurd:innen mit Panzern und anderen Waffen aus Deutschland ermordet. Auch heute noch setzt Deutschland seine Kriminalisierungspolitik gegen kurdische Politiker:innen fort. Selbst im Vorfeld der Wahlen wurde der Druck auf die Kurd:innen in Deutschland noch einmal verstärkt.

Die „westlichen Werte“ und die kurdische Frage

Wir wissen, dass die EU und die europäischen Länder großen Wert auf Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichheit, Recht und Menschenrechte legen. Doch wenn es um die Kurd:innen geht, werden all diese Werte plötzlich nicht mehr erwähnt. Denn hier geht es diesen Ländern nur um ihre eigenen staatlichen Interessen. Solange ihre Beziehungen und Bündnisse den eigenen Staatsinteressen nicht schaden, nehmen diese Länder gewissenlos in Kauf, dass die Kurd:innen und andere unterdrückte Völker ihrer Menschenrechte und Freiheit beraubt, ermordet und unterdrückt werden. Dies untergräbt jedoch die Bedeutung aller oben genannten Werte und Überzeugungen dieser Länder. Selbst wenn die EU-Länder oder die Länder Europas Stellung beziehen, tun sie es nur sehr zögerlich und ängstlich. Kurz gesagt: Recht und Freiheit haben für diese Staaten nur dann eine Bedeutung, wenn sie den eigenen staatlichen Interessen dienen. Sie reden von Recht und Gesetz, aber wenn die elementarsten Menschenrechte und Freiheiten mit Füßen getreten werden, stellen sie sich taub und stumm. Deshalb sagen wir als Bewegung, dass die EU und die westlichen Länder eine entscheidende Rolle dabei spielen, dass die Türkei heute antidemokratischer, faschistischer und unterdrückerischer ist als je zuvor. Der türkische Staat hat viele Abkommen mit Europa unterzeichnet. Er ist aber seiner daraus resultierenden Verantwortung nicht nachgekommen und hat sich sogar aus einigen dieser Abkommen zurückgezogen. Dazu gehört zum Beispiel die Istanbul-Konvention. Als Reaktion auf die Drohungen des faschistischen Erdoğan-Regimes hat sich Europa leider immer wieder hinter angeblichen sicherheitspolitischen Erfordernissen versteckt und Zugeständnisse gemacht. Die Bundesregierung hat sich sogar nie gescheut, sich immer dann als Retterin der autoritären und repressiven Regierung der Türkei aufzuspielen, wenn sich dort ein Machtwechsel abzeichnete. Jetzt aber scheint es, als wollten alle Erdoğans Ende. Denn alle betrachten die Politik Erdoğans in irgendeiner Weise als schädlich für ihre eigenen Interessen. Die zunehmende Distanz zwischen der Türkei unter Erdoğan und dem Westen und die damit einhergehenden Verschiebung in Richtung Russland, Eurasien und dem Fernen Osten stellen heute eine Gefahr für die Interessen der westlichen Mächte dar.

Veränderte Sichtweise auf die Kurd:innen

Hinzu kommt die würdevolle Haltung, die die kurdischen Kräfte in Rojava im Kampf gegen den IS gezeigt haben und die schließlich mit Hilfe der internationalen Koalition zum Sieg über die Islamisten geführt hat. Damit hat sich die Sichtweise auf die Kurd:innen verändert. Darüber hinaus hat der 50-jährige Freiheitskampf unserer Bewegung eine freie kurdische Identität geschaffen. Unsere Bewegung hat sowohl im Nahen Osten als auch international einen großen Einfluss. Das von Rêber Apo entwickelte Paradigma zur Lösung aller bestehenden Probleme mit seinen drei Säulen Demokratie, Ökologie und Freiheit der Frau hat heute internationale Dimensionen erreicht. Alle Formen der Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegen das kurdische Volk sind am Widerstand unserer Bewegung, unserer Guerilla und unseres Volkes gescheitert. Unsere Bewegung und die freie kurdische Identität haben sowohl in der Region als auch weltweit einen hohen Grad an Legitimität erreicht. Dementsprechend ist unsere Bewegung heute entscheidend für die politischen Entwicklungen. Der ideologische und politische Einfluss unserer Bewegung sowie der Freiheitskampf des kurdischen Volkes sind heute von so großer historischer Bedeutung, dass sie von niemandem mehr ignoriert werden können.

Wenn Erdoğan an der Macht bleibt

Es ist nicht schwer, die zahlreichen Katastrophen vorauszusehen, die eine weitere Legislaturperiode Tayyip Erdoğans und des AKP/MHP-Faschismus mit sich bringen würde. Allein der Gedanke daran ist, ehrlich gesagt, beängstigend. Sollte es wirklich dazu kommen, wird dies nicht nur für die Kurd:innen und die anderen Völker in der Türkei zu großen Katastrophen führen. Auch für den gesamten Nahen Osten und die Welt würde die Türkei dann zu einer ernstzunehmenden Quelle des Bösen werden. Denn die Fortsetzung des Völkermordes an den Kurd:innen und der Besatzung Kurdistans würde eine Verschärfung der faschistisch-nationalistischen Angriffslust bedeuten. Dies könnte auch zu neuen osmanischen Träumen und zur Besetzung einiger arabischer Gebiete führen. Der Nahe Osten würde dann vollends zu einer Quelle von Krieg, Konflikten und Instabilität. Die AKP/MHP-Regierung würde dann nicht nur Europa weiterhin mit dem IS und al-Qaida bedrohen, sondern auch Rache für die Niederlage des IS nehmen. Auch die Sicherheitspolitik der betroffenen Länder könnte dies in diesem Fall nicht verhindern. Darüber hinaus ist es offensichtlich, dass faschistische, nationalistische und rassistische Elemente im Nahen Osten weiter Fuß fassen, autoritäre und reaktionäre Strömungen in allen Gesellschaften wieder aufleben lassen und die unterschiedlichsten Völker und Staatsführungen bedrohen würden. Der Faschismus von Tayyip Erdoğan und Devlet Bahçeli, der sich auf Nationalismus, Turanismus und Ergenekon stützt, würde wie ein Albtraum über Europa und Asien hereinbrechen. Die Folge wäre ein türkisch-kurdischer Krieg, was wiederum Länder wie Deutschland und andere EU-Staaten, in denen eine große Anzahl von Türk:innen und Kurd:innen leben, mit in den Konflikt hineinziehen würde. Dass es bisher nicht zu einer solchen Entwicklung gekommen ist, hängt sicherlich eng mit der besonnenen und verantwortungsbewussten Haltung und Politik unserer Bewegung zusammen. Auch wenn ein interner Krieg um die Macht in der Türkei für bestimmte Kreise gewinnbringend wäre, so wäre die große Zerstörung und Instabilität für den Nahen Osten und die Welt von großem Nachteil.

Die EU und die westlichen Länder können diese Tatsachen nicht ignorieren. Wir wünschen uns, dass diese Länder eine Politik entwickeln, die nicht zur Verschärfung von Kriegen, Konflikten und Problemen beiträgt. Damit wäre niemandem gedient. Vielmehr hoffen wir, dass sie mit ihrer Politik Partei ergreifen für eine freiheitliche, demokratische und gerechte Lösung im Interesse aller. In diesem Zusammenhang können insbesondere die deutsche Regierung und die Grünen, aber auch die Linkspartei und andere Kräfte des Landes eine historische Verantwortung übernehmen und eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung der Türkei und der Lösung der kurdischen Frage mit friedlichen und demokratischen Mitteln spielen. Sie können auch Wahlbeobachterdelegationen in die Türkei entsenden, die Entwicklungen genau verfolgen und viele andere wirksame Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die bevorstehenden Wahlen demokratisch, fair und sicher verlaufen. Europa hat seit geraumer Zeit weder eine positive noch eine negative Haltung zu den Wahlen am 14. Mai eingenommen. Europa hat es vorgezogen, sich neutral zu verhalten und die Entwicklungen und die Atmosphäre während des Wahlkampfes zu beobachten. In den letzten Tagen hat sich die kritische Berichterstattung über Erdoğan in den europäischen Medien verstärkt. Auch die jüngste Äußerung Kılıçdaroğlus, man werde sich nicht Russland, sondern dem Westen zuwenden, war eine klare Botschaft an die westlichen Mächte. Der Westen wird die Situation vor und nach den Wahlen genau analysieren und seine Politik nach den möglichen Entwicklungen ausrichten. Wenn die Entscheidung zugunsten von Demokratie, Frieden, Völkerfreundschaft, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit ausfällt, werden alle davon profitieren.

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