Genozid und Feminizid gegen Frauen in Kurdistan anhand historischer Beispiele

Beitrag von Meral Çiçek bei der Konferenz “Genozid und Femizid an Ezid*innen: Traumaverarbeitung braucht Anerkennung, Schutz, Selbstorganisierung und Gerechtigkeit”, 15.03.2017

Das 20. Jahrhundert in Kurdistan ist geprägt von genozidalen Angriffen, Assimilation und Widerstand für Selbstbestimmung. Nach dem ersten Weltkrieg und dem Zusammenfall des Osmanischen Reichs entstanden neue Staaten, deren unnatürlichen Grenzen durch Kurdistan verliefen und somit das Land der KurdInnen nunmehr in vier teilten. Versprechen bezüglich Autonomie wurden nicht eingehalten. Aufstände gegen imperialistische-kolonialistische Politiken wurden mit extremer Gewalt niedergeschlagen. Um sicherzustellen, dass sich die Kurden nicht erneut für Selbstbestimmung organisieren, wurde ein genozidaler Plan erstellt. Mit dem sogenannten „Reformplan für den Osten“ wurde das systematische Vorgehen gegen den kurdischen Widerstand programmiert. Dieser Plan sah Maßnahmen der Assimilation vor, zu denen Deportationen, Umsiedlungen und Massenmorde gehörten.

Die Politik des physischen und kulturellen Genozids in Kurdistan muss aus Frauenperspektive gesondert bewertet werden. Denn die vielen Beispiele, die sich uns allein in den letzten 100 Jahren bieten, zeigen, dass Genozid und Assimilation in Kurdistan vor allem über Feminizid umgesetzt worden sind und noch immer – wie im Beispiel von Shengal klar zu sehen ist – werden. Während Männer zum größten Teil Opfer physischer Massentötung wurden, sollten Entwurzelung, Assimilation, Zerstörung der gesellschaftlichen Strukturen und in diesem Zusammenhang kultureller und sozialer Genozid vor allem über Frauen umgesetzt werden. Obwohl es zu den einzelnen Genoziden und Massakern einige frauenspezifische Untersuchungen gibt, steht eine Gesamtbewertung der Genozide in Kurdistan aus Frauenperspektive noch aus.

Ich möchte nun anhand von zwei historischen Beispielen aus dem 20. Jahrhundert die Parallelität von Genozid und Feminizid in Kurdistan aufzeigen.

Beginnen möchte ich mit Dêrsim, einer kurdischen Stadt in Nordkurdistan, in der Kurden alevitischen Glaubens leben. Dêrsim stellt zugleich auch ein Zentrum des alevitischen Glaubens dar, das lange Zeit de-facto autonom war. Dies änderte sich in den 1930’er Jahren.  1934 war das sogenannte Besiedlungsgesetz (İskan Kanunu) in Kraft getreten. Dersim war das erste Gebiet, in dem das Gesetz zur Geltung kommen sollte. Die Region sollte entvölkert werden. Alle Institutionen der tribalen und religiösen Führung wurden abgeschafft und ihr Grundbesitz konfisziert. Anfang 1936 wurde Dêrsim in Tunceli umbenannt und unter Militärverwaltung gestellt. Beabsichtigt war eine politisch-administrative Reorganisation mit Hilfe militärischer Repression. Hierfür wurde der militärische Ausnahmezustand über Dêrsim verhängt.

1937 formierte sich ein Aufstand gegen die Assimilations- und Türkisierungspolitik des kemalistischen türkischen Staats. Dieser Aufstand wurde von Seyit Rıza angeführt. Den bewaffneten Widerstand wiederum führte das Paar Alişêr und Zarife an. Das heißt Frauen haben hier eine tragende Rolle im Widerstand gespielt.

Der Aufstand gegen die genozidalen Politiken des türkischen Staats wurde durch einen physischen und kulturellen Genozid niedergeschlagen. Im Verlauf des Völkermords 1937/38 sind Schätzungen zufolge fast 14.000 Menschen aus Dêrsim getötet worden. Das macht ein Fünftel der damaligen Bevölkerung aus.

Dêrsim stellt aus Sicht der Systematik von Genozid durch Feminizid ein besonders niederträchtiges Beispiel dar. Denn hier wurden Frauen nicht „nur“ ermordet, sondern durch sie sollte der physische Genozid durch den weißen Genozid vollendet werden. Dêrsim sollte vollständig zu Tunceli werden. Hierfür war eine Türkisierung und Sunnitisierung der Frauen und Mädchen notwendig. Denn kollektive Identität, Sprache, Kultur und Geist werden in ländlichen Gesellschaften überwiegend von Frauen transferiert. Die Mädchen und Frauen aus Dêrsim sollten nicht nur ihrer Familie, ihrer Häuser, ihrer Heimat beraubt werden, sondern von allem, was sie ausmacht: Ihrer kulturellen, sozialen, religiösen, ethnischen und sprachlichen Identität. Durch sie sollten die authentische Identität von Dêrsim ausgeschaltet und das Kollektivgedächtnis zerstört werden. Dies geschah zum größten Teil über Verschleppung der Mädchen und jungen Frauen.

Während dem Genozid haben sich Mädchen und Frauen reihenweise dem Tod in die Arme geworfen, indem sie sich in Abgründe stürzten oder sich erschossen, um dem türkischen Militär nicht in die Hände zu fallen. Nicht sofort exekutierte Frauen wurden vergewaltigt und anschließend erstochen. Schwangeren Frauen wurden Bajonetten in den Bauch gerammt. Die Mädchen, die das Massaker überlebten, wurden in die Konzentrationslager in Dêrsim und Elazığ gebracht.

Im vorhin erwähnten, von der damaligen türkischen Regierung unterschriebenen „Reformplan für den Osten“ steht geschrieben, dass für die Vorbeugung neuer kurdischer Aufstände vor allem für die Türkisierung der Mädchen und Frauen gesorgt werden muss. Konkret wird vorgeschlagen, kurdische Mädchen in türkischen Internaten unterzubringen und kurdische Frauen mit türkischen Männern zu verheiraten. Dies wurde zum ersten Mal während dem Genozid in Dêrsim angewandt. In den Konzentrationslagern werden gesunde und „hübsch“ aussehende Mädchen zwischen 5 und 10 selektiert und an die Offizieren, die am Völkermord teilgenommen haben, verteilt. Jeder Offizier sollte ein-zwei Mädchen mitnehmen. Hierbei hat es sich um obersten Befehl gehandelt, denn wir wissen, dass sich die Ehefrauen von manchen Offizieren dagegen gestellt haben und die Mädchen nicht aufnehmen wollten. Auch wenn es meist so dargestellt wird, als wenn es sich bei den Mädchen um Vollwaisen gehandelt hat, so zeigen Untersuchungen doch, dass nur ein kleiner Teil Waisen waren und die Eltern und Angehörigen der Mädchen jahrelang, wenn nicht gar jahrzehntelang nach ihren verschleppten Kindern gesucht haben.

Die kranken und nicht „hübsch“ aussehenden Mädchen werden in schwarze Waggons verfrachtet und an jeder Haltestelle an dort lebende Reiche oder Händler verteilt. In den neuen Familien sollten die Kinder türkisiert und sunnitisiert werden. Als erstes wurde ihnen der Kopf kahl rasiert und sie wurden gewaschen. Das wurde gemacht, um sie zu demütigen. Denn in der kurdischen Gesellschaft stellt das Haar etwas wertvolles, etwa Intimes dar, was von keinem Fremden angefasst werden darf. Das Abrasieren der Haare kann auch als Metapher gesehen werden: Ihnen wurden nicht nur die Zöpfe, sondern die Wurzeln, der Ursprung abgeschnitten. So sollten sie von ihrer gesamten Identität „bereinigt“ werden. Sie wurden nicht wie eigene Kinder aufgenommen und nicht als ebenbürtig angesehen. Die meisten wurden auch nicht in die Schule geschickt. Ihnen wurde zuhause die türkische Kultur gelehrt und beigebracht, schönes Türkisch zu sprechen. Ihre Kleidung wurde geändert. Als Zeichen der Zivilisation mussten sie kurze Röcke tragen. Ihnen wurde immer wieder eingetrichtert: Wenn wir nicht wären, wärt ihr schon längst tot oder auf der Straße. Sie sollen sich dankbar zeigen.

Jahrzehntelang haben diese Frauen geschwiegen. Manche haben ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Nur durch die Aufarbeitungsarbeit zum Genozid ist das Thema der verschollenen Mädchen aus Dêrsim auf unsere Tagesordnung und somit in unser Bewusstsein gekommen. Noch immer fällt es den Frauen schwer, über ihr Schicksal zu sprechen. Denn die Konfrontation mit der Vergangenheit ist extrem schmerzhaft. Jahrzehntelang haben die Frauen verschweigen und verstecken müssen, dass sie aus Dêrsim sind. Ansonsten hätte man sie nicht geheiratet. Denn sie wurden ja als „Dreckige Kizilbashs, also Aleviten“ gesehen. Sie waren die „Kinder der Räuber und Banditen“.

Auch wenn es einige individuelle Untersuchungen und Arbeiten zu diesem Thema gibt, steht eine Konfrontation mit dem türkischen Völkermord in Dêrsim und in diesem Zusammenhang Wahrheit und Gerechtigkeit für die verschollenen Mädchen noch aus. In diesem Sinne blutet die Wunde von Dêrsim seit ganzen 80 Jahren weiter.

Kommen wir nun zu Anfal und dem Genozid an den KurdInnen in Südkurdistan. Anfal ist die Bezeichnung der zwischen 1988 und 1989 durchgeführten genozidalen Maßnahmen des irakischen Baath-Regimes unter Saddam Hussein gegen die kurdische Bevölkerung und andere Minderheiten wie die Assyrer, Eziden und Chaldäer in Südkurdistan bzw. Nordirak.

Der Name Anfal gründet sich auf die Bezeichnung der achten Sure des Korans und bedeutet „Beute“. Die Wahl einer religiösen Bezeichnung sollte die Zustimmung religiöser Sunniten fördern. Der Name der Operation weist auf die Stigmatisierung der Betroffenen als Ungläubige hin.

Anfal bestand aus einer Serie von insgesamt 8 Militäroperationen zwischen Februar und September 1988. Jedoch hatten die genozidalen Angriffe des Baath-Regimes schon 1988 begonnen. Allein zwischen 1980 und 1988 sind 1650 kurdische Dörfer durch die irakische Regierung zerstört worden. 1988 kamen weitere 2600 Dörfer hinzu. Im Verlauf des Genozids sind schätzungsweise 100 Tausend Zivilisten getötet worden. Hinzu kommen als Akte des Genozids die vollständige Zerstörung des Lebensraums, Zwangsvertreibung und Umsiedlung. Folter, Verhaftungen und Massenexekutionen. Menschen wurden in Massen in Konzentrationslager verschleppt.

Der Anfal-Genozid durch das irakische Baath-Regime bedarf einer besonderen Beurteilung aus weiblicher Perspektive. Während dem Genozid wurden zum größten Teil Männer getötet. Aber die Wunden, die der Genozid in Körper und Seele der Frauen aufgerissen hat, warten noch immer darauf, geheilt zu werden. Denn die langfristigen Folgen des Genozids geschehen überwiegend über die weiblichen Opfer.

Ganz bewusst hatten die Völkermörder den Namen „Beute“ für ihren Genozid gewählt. Die „Hauptbeute“ stellten dabei Frauen und Mädchen dar. Untersuchungen zeigen, dass Tausende, wenn nicht gar Zehntausende Frauen in Konzentrationslagern, Gefängnissen, in ihren Dörfern und auf der Straße systematisch vergewaltigt worden sind. Unzählige Frauen und Mädchen sind wie Kriegsbeute verschleppt und wie Sklaven verkauft worden. Manche sind von Männern an Männer als Sexsklavinnen „verschenkt“ worden. Erst vor wenigen Jahren kam heraus, dass kurdische Frauen während Anfal gar in arabische Länder verschleppt und hier an Scheichs und Nachtklubbesitzer verkauft worden sind. Beispielsweise heißt es in einem 2006 aufgefundenen offiziellem Dokument mit Stempel der irakischen Regierung, dass im Dezember 1989 18 kurdische Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren nach Ägypten verkauft worden sind, um hier in Nachtklubs ausgebeutet zu werden.

Viele dieser Mädchen sind von Gefängnissen und Konzentrationslagern verschleppt worden. Hierzu heißt ein Augenzeugenbericht: „Die Soldaten haben alle jungen und hübschen Mädchen im Lager mitgenommen und nicht wiedergebracht. Sie sind nicht mehr zurückgekehrt. Wahrscheinlich haben sie sie getötet, nachdem sie sie vergewaltigt haben. Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist.“

Zum Zeitpunkt des Genozids lebte der Großteil der südkurdischen Gesellschaft in Dörfern in Bergregionen. Sie unterhielten ihr Leben über Viehzucht und Landwirtschaft. Auch wenn die Gesellschaft als feudalistisch zu bezeichnen ist, trugen die Frauen der Meisterung des alltäglichen Lebens in hohem Maße bei. Zusammen mit dem Genozid wurden sie jedoch gezwungen, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen, und in ihnen völlig fremde Städte vertrieben. Frauen, deren Väter, Brüder, Ehemänner und Söhne getötet worden waren, waren völlig schutzlos mit großen Schwierigkeiten und Gefahren konfrontiert. Auch hier waren sie physischer, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt.

Der Anfal-Genozid ist erst 30 Jahre her. Obwohl 2005 nach den Wahlen in Südkurdistan das Ministerium für Anfal-Angelegenheiten errichtet worden ist, wird das Schicksal der weiblichen Opfer des Genozids nur zu oft verschwiegen. Die Auffassung, dass das Sprechen über die Verbrechen, die Frauen angetan worden sind, nicht zum Nutzen der Frauen sei, überwiegt leider. Aufgrund des herrschenden Verständnisses von Ehre findet keine umfangreiche Konfrontation und Aufarbeitung statt. Zwar gibt es einige Untersuchungen zu den Folgen von Anfal für Frauen, jedoch führt das allgemeine Schweigen dazu, dass die Wunden der weiblichen Opfer nicht geheilt werden können. Die schwarzen Umhänge, die viele Frauen in Südkurdistan seit dem Genozid tragen, zeugen von Schmerz und Trauer. Dieser wird vielleicht niemals enden. Jedoch ist eine umfassende Aufarbeitung dringend notwendig. Nicht zu vergessen, dass noch immer eine nicht festgelegte Zahl südkurdischer Frauen, die damals in arabische Länder verschleppt worden sind, verschollen ist.

Zum Schluss möchte ich noch einmal zum Thema dieses Beitrags zurück. Anhand dieser zwei Beispiele wird deutlich, dass eine starke ideologische Verknüpfung Genozid und Vergewaltigung besteht. Es ist nicht von Zufall, dass bei Genoziden und Massaker Frauen gezielt und systematisch zu Opfern von Vergewaltigung werden. Dem liegt eine Mentalität, eine Ideologie zugrunde, die wir als kurdische Frauenbewegung „Vergewaltigungskultur“ nennen, Kultur mit negativem Vorzeichen. Besatzung, Plünderung, Zerstörung gehören zu den Ausdrücken dieser Mentalität. Hinzu kommt das Verständnis von „Beute“. Land und Frauen werden als Beute gesehen. Der Körper der Frau wird zu einer Besatzungszone. In diesem Zusammenhang besteht nicht nur die Notwendigkeit, den Feminizid innerhalb der Genozide in Kurdistan gesondert zu betrachten und zu untersuchen, sondern die Völkermorde an den Kurden aus Frauenperspektive zu analysieren.


Die Abschlusserklärung der Internationalen Êzidischen Frauenkonferenz vom 15.03.2017

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