Seyit Evran, Firatnews, 20.03.2017
Auch in der dritten Woche nach den Angriffen auf Shengal durch die bewaffneten Kräfte der KDP und AKP vom 3. und 14. März ist die Gefahr weiterer Auseinandersetzungen nicht gebannt. Die Situation ist weiter angespannt, das Potenzial für weitere bewaffnete Kämpfe ist groß.
Wem gelten die Angriffe und warum kommt es dazu?
Es wurde viel über den Rückzug der KDP-Peshmerga und dem damit einhergehenden Genozid an der êzîdischen Bevölkerung Shengals geschrieben. Viele Augenzeugen haben teilweise sehr detailliert darüber berichtet. Der IS nahm am 3. August 2014 das Zentrum vom Shengal ein. Tausende von Menschen flohen auf die Shengal-Berge und von dort nach Rojava.
Zu jener Zeit berichteten auch viele KDP-nahe Medien live darüber, wie eine Gruppe Guerilla sich auf den Weg nach Shengal machte, um die Menschen vor dem IS zu retten. Hierzu zählt insbesondere Rûdaw TV. Der über Monate dauernde Kampf rettete vielen tausend Êzîden das Leben und zahlreiche HPG-Guerilla und YPG-Kämpfer ließen hierfür ihr Leben. Êzîdische Jugendliche nahmen anfangs an der Seite der HPG am Kampf gegen den IS Teil, gründeten nach einer Zeit dann aber die Yekînêyen Berxwedana Shengal (YBŞ) und organisierten sich unter diesem Namen. Diese Organisation wurde auch seitens der irakischen Zentralregierung anerkannt und durch diese finanziell unterstützt.
Die HPG und YBŞ starteten dann eine Offensive, um Shengal von dem IS zu befreien. Nach und nach wurden u.a. die Dörfer Sinuni, Xanasor, Digura und Dahola befreit. Somit war ein breites Gebiet bis nach Bare frei von dem IS. Im Anschluss wurde das Zentrum von Shengal befreit. Dies dauerte ca. 11 Monate und das Stadtzentrum von Shengal war am 13. November 2015 komplett frei vom IS.
Allerdings befinden sich noch immer dutzende Dörfer wie Tel Keseb, Tel Benat, Tel Özer, Siba Shah Xidir, Koco, Rambusiye, Sekeniye, Hayale und Tevra unter IS-Besatzung. Bis nach Tel Benat bildeten KDP-Peshmerga eine Front und nahmen dort ihre Stellungen ein. Auf der anderen Seite der Front befindet sich der IS und wurde seither nicht von dort vertrieben. Kein einziger Schritt wurde bis heute gemacht, um diese Gebiete zu befreien. Man kann fast schon behaupten dass die KDP und der IS friedlich koexistieren…
Warum YBŞ wenn der IS noch da ist?
Wie bereits erwähnt sind noch viele Dörfer unter IS-Besatzung. Während der für die Êzîden heilige Boden von Shengal in Teilen noch unter IS-Besatzung stehen, startet die KDP eine Offensive auf die Gebiete von Shengal, die von der HPG und YBŞ verteidigt werden. Dies wirft natürlich Fragen auf. Ist der IS Freund, die YBŞ Feind? Gibt es eine Abmachung zwischen beiden Kräften?
Die YBŞ besteht aus den Menschen aus Shengal, die ihre Heimat mit allem, was sie fanden, gegen den IS verteidigten, als die KDP samt den eingesammelten Waffen aus Shengal floh. Ungefähr 60% der YBŞ-Mitglieder stammen aus den o.g. Dörfern, die unter IS-Besatzung stehen. Wenn die KDP also an der „Befreiung Shengals“ interessiert wäre, würde sie sich zunächst um diese Dörfer kümmern und nicht im Pakt mit der türkischen AKP die Stellungen der YBŞ angreifen. Aber es passierte genau das Gegenteil: Zum Jahrestag der Befreiung des Zentrums von Shengal startete sie eine Offensive gegen die YBŞ.
Zusammenarbeit mit der AKP
Die KDP hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, mit der YBŞ zur Befreiung von umliegenden Dörfern zu koorperieren. Stattdessen hat sie zusammen mit der AKP Druck auf die irakische Zentralregierung aufgebaut, um ihre Unterstützung für die YBŞ zu beenden. Die Drohung lautete, dass die Türkei in Shengal intervenieren werde, wenn die irakische Regierung nicht einlenke. Ferner übten die KDP und AKP Druck aus und verlangten den sofortigen Stopp der finanziellen Unterstützung für die YBŞ seitens der Regierung. Der Zentralregierung blieb nichts anderes übrig, als die YBŞ zur Beendigung ihrer Offensive gegen den IS zu bitten. Auch die finanzielle Unterstützung musste beendet werden. Dies führte dazu, dass die Offensive „nur“ bis nach Sekeniye und Hayale reichte.
Die Tatsache, dass die Peshmerga im August 2014 aus Shengal kampflos flüchtete und so dem IS freie Hand beim Genozid gegen die Bevölkerung ließ, ist eigentlich aussagekräftig genug. Doch trotz aller Differenzen ist der IS derzeit noch die größte Gefahr für Shengal und in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Warum will die KDP den Abzug der YBŞ, wenn der IS noch in Sichtweite ist? Hierzu muss die KDP eine Antwort liefern.