Kurdische Frauenbewegung in Zeiten der Zwangsverwaltung

Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Deutschland beim Newrozfest in Wan, 18.03.2017

Wir treffen uns mit vier Frauenaktivistinnen aus Wan, später kommt noch eine Friedensmutter hinzu. Nach dem Verbot der KJA (Kurdistan Jinên Azad)  wurde die TJA (Tevgera Jinên Azad) gegründet, eigene Räumlichkeiten hat die Gruppe in Wan nicht mehr.

Zur allgemeinen Situation aufgrund des OHAL (Ausnahmezustand):

Die Situation, wie sie sich jetzt darstellt, hat schon nach den Wahlen im Juni 2015 in den kurdischen Gebieten begonnen. Frauen und Kinder waren im 40-jährigen Kampf der Kurdinnen und Kurden schon immer die vulnerabelste Gruppe. Seit dem OHAL ist es schwieriger geworden, den Kontakt zur Bevölkerung aufrechtzuerhalten.

Die Situation aufgrund der Notstandsgesetze beeinflusst das soziale Leben stark. Viele Aktivist_innen und Mitglieder wurden festgenommen, die Öffentlichkeits-/Agitationsarbeit ist praktisch zum Erliegen gekommen.

Zahlreiche Vereine wurden verboten. Als Folge der Zwangsverwaltung der Stadtverwaltung wurden Frauenzentren und Frauenhäuser geschlossen und sämtliche Frauenprojekte beendet. Den dort Beschäftigten wurde gekündigt. Der Frauennotruf wurde geschlossen, der Anschluss wurde gekappt. Es gibt keine Räumlichkeiten mehr. Es gibt nur noch einen Ort zum Treffen. Die Situation von Frauen ist kein Thema mehr bei der Stadtverwaltung.

Offensichtlich sieht der Staat die Frauenbewegung als Gefahr für den Staat an. Aber die Frauen lassen sich nicht entmutigen und kämpfen weiter. Festgenommene Frauen sind physischer Gewalt im Polizeigewahrsam/in der Haft ausgesetzt. Aktuell haben sich ca. 100 Gefangene vor einem Monat einem Hungerstreik und Todesfasten in den Gefängnissen angeschlossen, im Sakran-Gefängnis bei Izmir haben sich 20 weiblichen Gefangene dem Streik angeschlossen.

Es existieren als Organisationen nur noch die HDP (Demokratische Partei der Völker) und DBP Demokratische Partei der Regionen). Unklar ist, warum gerade diese beiden Parteien nicht verboten wurden. Die Regierung befürchtet eventuell negative Reaktionen aus dem Ausland auf eine solche Schließung.

Die Atmosphäre hat sich für Frauen gravierender geändert als für Männer, Frauen sind von den Veränderungen stärker betroffen als Männer. Ihr Wille soll gebrochen werden. Mit Einführung der Zwangsverwaltung in den Kommunen wurde die Doppelspitze und paritätische Beteiligung von Frauen in der Kommunalverwaltung abgeschafft. Gleichzeitig hat mit dem Ausnahmezustand ein regelrechtes Mobbing gegen Frauen begonnen, Frauen sind physischer und psychischer Gewalt wieder vermehrt ausgesetzt. Gewalt gegen Frauen auf der Straße und durch Sicherheitskräfte hat zugenommen. Erst vor kurzen erhielten die Frauen die Nachricht, dass eine Aktivistin in Urfa von der Polizei festgenommen und vergewaltigt wurde. Nicht nur der psychische, auch der physische Druck auf Frauen hat zugenommen.

Durch die Schließung von Kindergärten und Frauenzentren, die zuvor von der Kommune bereitgestellt worden waren, wurden vielen von Frauen erkämpfte Freiräume wieder genommen und sie auf ihre alte Rolle zurückverwiesen.

In Wan wurden vor allem Frauenzentren geschlossen, die zur DBP gehörten. In den früher von den Frauen genutzten Räumlichkeiten sind jetzt von der Zwangsverwaltung der Stadt Koranschulen eingerichtet worden.

Wie der Staat Frauen physisch und psychisch bekämpft, zeigt sich deutlich an der Ermordung der Guerillakämpferin Ekin Van (im August 2015 in Varto). Der Leichnam von Ekin Van wurde nackt und gezeichnet von Folter auf die Straßen der Stadt geworfen. Hiervon wurden Fotos von den Soldaten gemacht und in die Netzwerke gestellt. Der Slogan der Frauen in der Nein-Kampagne zum Referendum „Frauen sagen NEIN“  bezieht sich daher nicht nur auf das Referendum, sondern auch auf die von Staat ausgeübte Gewalt gegen Frauen. Das hat auch der Staat so verstanden – gegen die Kampagne „Frauen sagen NEIN“ wurde von der Staatsanwaltschaft umgehend ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Unsere Gesprächspartnerinnen sind der Ansicht, dass Frauen in den 90er Jahren zwar auch staatlicher Gewalt ausgesetzt waren, sich jetzt unter der Zwangsverwaltung im Ausnahmezustand (OHAL) die Atmosphäre aber dahingehend geändert hat, dass nicht mehr nur Aktivistinnen betroffen sind, sondern jede Frau betroffen sein kann.

Eigentlich habe jeder Krieg Regeln bzw. sollte nach Regeln verlaufen – anders sei dies aber im Krieg der Türkei gegen Kurdinnen und Kurden. Dieser sei von einer Grausamkeit und Brutalität gezeichnet, dass aufgrund der Art und Weise des Vorgehens und der Angriffe auf die kurdischen Strukturen von einer „IS-Mentalität“ gesprochen werden kann.

Unsere Gesprächspartnerinnen glauben nicht, dass all dieses Vorgehen nur von Erdogan initiiert ist, sondern sie gehen vielmehr von einer Unterstützung durch andere Kräfte von außen aus. Der Staat greift alle an, die sich auf die Seite der Kurd_innen stellen oder andere Minderheiten unterstützen, Frauenrechte oder zivile Rechte/Menschenrechte einfordern.

In den 90er Jahren herrschte in der Türkei eine kemalistische Ideologie, der Staat herrschte durch Unterdrückung. Dieser Staat hat sich seitdem verändert, hin zu einem religiös-konservativen Staat mit einer faschistischen Ideologie. Die AKP weiß, wie sensibel Menschen in der Türkei, darunter auch viele Kurd_innen, in Bezug auf  Religion sind. Seitens der AKP werden religiöse Argumente genutzt und über eine konservative/faschistische Ideologie wird versucht, eine Diktatur einzurichten. Bei den  Friedensgesprächen 2013 mit Abdullah Öcalan wurden Lösungen für alle Minderheiten und Gruppierungen in der Türkei gesucht, in der Dolmabahce-Erklärung wurde genau dies aufgenommen. Nachdem die Friedensgespräche dann von der türkischen Seite abgebrochen wurden, änderte sich alles.

Eine unserer Gesprächspartnerinnen meint: „Früher hatten wir es mit einer kemalistischen Elite zu tun. Was wir jetzt haben, ist eine Diktatur, in der Erdogan versucht, seine Familie zu installieren und zu schützen. Die kurdische Seite hat schon immer vor den Gülenisten gewarnt und wird jetzt selbst unter diesem Deckmantel verfolgt.“

Auf die Frage, welche Frauenprojekte konkret in Wan geschlossen wurden: In allen größeren kurdischen Städten, so auch in Wan, gab es Schutzhäuser für Frauen, einen Frauen-Notruf, ein Frauen-Zentrum mit Workshops, Sportangebote, Kindergärten, PC-Kurse, Handarbeitsklassen und Teppichwebkurse.

Ferner gab es einen Frauen-Markt, auf dem von Frauen produzierte Produkte (Käse, Honig, Obst und Gemüse etc.) verkauft wurden. Mit diesen Selbstvermarktungsprojekten hatten Frauen die Möglichkeit, mit selbstverdientem Geld zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Frauen erzielten damit nicht nur Einkommen, sondern ihnen standen auch Freiräume zur Verfügung, in denen sie sich weiter entwickeln und solidarisieren konnten. Mit dem Wegbruch dieser Strukturen durch die Zwangsverwaltung findet ein “rollback” statt.

Bei all diesen Projekten handelte es sich um kommunale Angebote der DBP- Stadtverwaltung. Geplant waren weitere Projekte wie Wohnräume für Studentinnen. Diese Projekte waren bereits ausgearbeitet und die Gelder beantragt.

Aus Wan sind insgesamt 10 Bürgermeisterinnen und Bezirksbürgermeisterinnen der DBP in Haft und ca. 100 Aktivistinnen bzw. Mitarbeiterinnen festgenommen worden, von denen 50 im laufenden Ermittlungsverfahren unter strengen Bewährungsauflagen (Meldepflicht bei Polizeistationen etc.) entlassen wurden. Da es immer wieder zu Gewahrsamnahmen kommt, ist es die genaue Anzahl schwer festzustellen.

Eine weitere Veränderung zu früher ist die Misshandlung und Schändung von Leichnamen und gezielte psychische Verletzung der Angehörigen. In einem Krankenhaus in Wan liegen Leichname von 6 getöteten Guerillakämpfer_innen, die den Familien nicht ausgehändigt werden. DNA-Tests zur Identifizierung der Leichen werden den Familienangehörigen verweigert, die Leichen verwesen langsam.

Die Gewalt der Armee gegen Kurd_innen ist von extremer Brutalität gekennzeichnet, zahlreiche Leichname von Kämpfer_innen werden von Soldaten geschändet, Familien können ihre Kinder nicht identifizieren. Familien werden hierdurch traumatisiert. Das Ausmaß der Grausamkeit hat ebenso zugenommen wie das Schweigen der nationalen und internationalen Öffentlichkeit darüber. Es gibt keine Ethik mehr im Kampf gegen Kurd_innen.

Eine Friedensmutter berichtet: Drei ihrer Kinder wurden im Krieg getötet. Sie hielten den Druck des Staates nicht mehr aus und gingen zur Guerilla. Seit 15 Jahren ist sie als Friedensmutter aktiv. Nach der Beerdigung ihres Sohnes  wurden 10 Personen festgenommen, darunter auch ihr Ehemann, der für zwei Jahre inhaftiert wurde, nur wegen der Teilnahme an der Beerdigung.

In jeder Familie in den kurdischen Gebieten gibt es ein oder zwei Mitglieder, die sich der PKK angeschlossen haben. „Wir nennen uns Friedensmütter, weil wir die Gewissheit haben, dass dieser Krieg sonst nie enden wird. Wir haben unsere Identität durch die Bewegung erhalten.

Ich  weiß, wie es ist, ein Kind zu verlieren, deshalb muss dieser Krieg gestoppt werden. Egal, ob kurdische oder türkische Mütter, wir alle wollen nicht, dass unsere Kinder sterben. Kein Kind soll in einem Krieg getötet werden, keiner soll in diesem schmutzigen Krieg sterben.

Wir sind nach Ankara gegangen und wollten mit der AKP sprechen, aber niemand wollte mit uns reden. Wir sind in die Berge gegangen und haben uns vor die Panzer gestellt, um die Kämpfe zu verhindern. Ich hätte dort sterben können, aber davor  habe ich keine Angst.“

Sie erzählt weiter: „Polizeistationen werden auf Friedhöfen gebaut, unsere traditionellen Beerdigungszeremonien und das Totengedenken werden behindert, bei den Beerdigungsfeiern dürfen Bilder unserer getöteten Kinder nicht aufgestellt werden. Leichname der Kämpfer und Kämpferinnen werden brutal geschändet und vom Militär zur Schau gestellt. Die Leiche von einem Kämpfer wurde an ein Militärfahrzeug gebunden und mitgeschleift.

Aus Angst verstecke ich zuhause sogar die Bilder meiner eigenen Kinder für den Fall, dass eine Durchsuchung stattfindet. Denn dann könnte ich festgenommen werden. Obwohl es normal ist, Fotos von den eigenen Kindern zu besitzen, wird uns vorgeworfen, wir würden Fotos von Terroristen aufhängen.

Bei der Beerdigung einer kürzlich verstorbenen Friedensmutter erschien die Polizei und versetzte uns in Angst und Schrecken, indem sie eine Gasgranate warfen.

Gegen alle Friedensmütter laufen Strafverfahren. Ich selbst habe ein 5-jähriges Betätigungsverbot erhalten, andere Friedensmütter sind in Haft, so z.B. in Amed.  Wir Friedensmütter greifen den Staat nicht an, was man uns jedoch vorwirft.“